Kongress 2022
2019 – 2022, die Bilanz
Der Kongress ist der Zeitpunkt für eine Bilanz der Jahre 2019 bis Mitte 2022. Auch wenn die Pandemie die Arbeiten behindert hat, konnte der SEV gemäss seinen Positionspapieren arbeiten.
2019 war das Jahr des 100-jährigen Bestehens des SEV, der aus den Folgen des Landesstreiks 1918 entstanden ist. Für SEV-Präsident Giorgio Tuti war das Jubiläum ein voller Erfolg.
Eine Lok und ein Bus für 100 Jahre SEV
«Unser erklärtes Ziel war, mit unsern Mitgliedern in Kontakt zu kommen. Mit unserem Ausstellungsbus sind wir durch die Schweiz gereist und haben gegen 60 Anlässe besucht. Wir haben uns damit gut präsentieren können. Die Sektionen und die Unterverbände haben mit Unterstützung des professionellen Apparats die Organisation dieser Anlässe in die Hand genommen. Eine SBB-Lok in den Farben des SEV war während über einem Jahr auf dem gesamten Streckennetz unterwegs und zeigte unsere Gewerkschaft den Passagieren und dem Personal. Natürlich werde ich auch den Eröffnungsanlass im Kursaal nicht vergessen, mit geladenen Gästen und einem bunten Programm, das Geschichte, Unterhaltung, Tanz und mehr beinhaltete. Dabei stand die Geselligkeit an erster Stelle. Das Abschlussfest war auf die Zukunft ausgerichtet und wurde deshalb logischerweise durch die Jugendkommission organisiert. Und dies perfekt. 2019 bleibt dennoch ein Jahr mit gemischten Gefühlen. Der Unfall eines Kollegen, der als Zugbegleiter am 4. August wegen einer defekten Tür tödlich verletzt wurde, ist eine Tragödie, die nie mehr geschehen darf.» Ein weiteres prägendes Element dieser Periode war der überraschende Tod von RPV-Zentralpräsident Hanspeter Eggenberger im Jahr 2021. Und Giorgio Tuti erreichte als oberster Bahngewerkschafter Europas die Vereinbarung Women in Rail (WiR), die die Gleichstellung von Frauen und Männern bei den europäischen Bahnen anstrebt und die Bahnberufe für Frauen attraktiver machen will. Die Vereinbarung wurde im Rahmen des von Giorgio Tuti geführten Sozialen Dialogs in Europa erzielt (siehe auch Seite 10).
Die Pandemie
Natürlich bleibt aus diesem Zeitraum insbesondere die Pandemie in Erinnerung, die die gewerkschaftliche Arbeit, wie sie vor März 2020 üblich war, verunmöglicht hat. «Wir mussten uns anpassen», betont Christian Fankhauser, der am Kongress 2019 als Nachfolger von Manuel Avallone zum Vizepräsidenten gewählt worden war. «Eine der grossen Stärken des SEV war immer die Arbeit vor Ort. Von einem Tag auf den andern war der Zugang zu den arbeitenden Kolleginnen und Kollegen eingeschränkt, teils gar unmöglich. Aber es ist uns dennoch gelungen, während der Pandemie ihre Interessen zu verteidigen. Wir haben die Gesundheit, die Sicherheit der Arbeitsplätze und die Löhne in den Vordergrund gestellt. Wir sind bei den Arbeitgebern vorstellig geworden, damit sie die nötigen Massnahmen zum Schutz der Gesundheit des Personals treffen. Wir haben alles unternommen, damit das Personal weiterhin 100 % Lohn erhält, auch bei Kurzarbeit. Das ist nicht überall gelungen, auch nicht für die ganze Zeit der Kurzarbeit. Wir haben uns politisch dafür eingesetzt, dass die gesamte Branche des öffentlichen Verkehrs (öV) finanziell unterstützt wird. Die öV-Unternehmen hatten grundsätzlich keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung. Sie haben das Angebot des öV sichergestellt und aufgrund der Einschränkungen grosse Verluste verbuchen müssen. Trotz der öffentlichen Unterstützungen, die sie bekommen haben, machen sie Druck auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Das ist allerdings ein Dauerthema.»
Mobilisierungen bei der SBB ...
Neben der Pandemie war die Berichtsperiode gekennzeichnet von Abschlüssen bei der Erneuerung von GAV. Ohne näher auf Details einzugehen lässt sich sagen, dass die Verlängerung der GAV SBB und SBB Cargo bis Ende April 2025 bzw. Ende 2023 Stabilität gebracht hat. Als Gegenleistung hat das Personal gewisse Zugeständnisse bei den Löhnen gemacht. Allerdings war die Periode 2019 – 2022 nicht von Ruhe geprägt.
Am 2. Dezember 2019 forderten über 100 SEV-Mitglieder von SBB und SBB Cargo in Bern-Wankdorf einen Stopp der ständigen Reorganisationen. Der Kampf gegen die Auslagerungen ging weiter, und der SEV bekämpfte das Projekt «Compass» bei Facility Management von SBB Immobilien, das die Auslagerung der Reinigung von gewissen Bahnhöfen vorsah. Der SEV machte auch öffentliche Aktionen gegen Werbung in den Bahnhöfen, die den Eindruck erweckte, das Verkaufspersonal sei nicht mehr nötig. Weiter ist das Engagement des SEV bei der Integration des Personals der ehemaligen Securitrans in die SBB zu erwähnen und der Einsatz bei den neuen Berufsbildern bei Cargo. «Dieses Jahr ist insgesamt sicher jenes, das uns die meiste Arbeit gebracht hat, dies mit dem Kampf gegen die untragbaren Sparmassnahmen, welche die SBB angekündigt hat», hält Valérie Solano fest, seit 1. Januar 2022 für die SBB zuständige Vizepräsidentin des SEV als Nachfolgerin von Barbara Spalinger. «Die Abschaffung der Berufsinvalidität, die Erhöhung der Risikoprämien der Pensionskasse und der höhere Beitrag des Personals an die Krankheitskosten sind Frontalangriffe, die wir nicht akzeptieren können. Das Personal der SBB verlangt den definitiven Rückzug der Massnahmen und die Beibehaltung der Berufsinvalidität».
... und in vielen andern Unternehmen
Die letzten drei Jahre waren durch Konflikte und aufwändige Aktionen in mehreren Unternehmen geprägt. Seit Ende letzten Jahres hat sich die Situation bei den Freiburgischen Verkehrsbetrieben zugespitzt. Der SEV hat die GAV-Verhandlungen abgebrochen, weil das Unternehmen nur Verschlechterungen einbringen wollte. Andere Beispiele zeigen den ungebrochenen Einsatz des SEV: «Bei STI in Thun wollte die Direktion gewisse Kategorien aus dem GAV ausschliessen und einem Personalreglement unterstellen, das sie einseitig abändern kann. Bei der Schifffahrt gilt es die Aktionen des BLS-Personals hervorzuheben, das einen GAV herausgeholt hat, der mit jenem des übrigen Personals im Unternehmen vergleichbar ist, während das Unternehmen für seine neue Tochtergesellschaft anfänglich ein Betriebsreglement aushandeln wollte», erläutert Christian Fankhauser. Weiter gilt es die Ablehnung des GAV SOB sowie die Erneuerungen der GAV bei Bus Ostschweiz, VMCV und SBB Cargo International zu erwähnen.
Die Teuerung, ein Streitpunkt
Die Steigerung der Lebenshaltungskosten und die allgemeinen Preisanstiege sind eines der aktuellsten Themen. Im ganzen Land, von SBB bis zu den andern Verkehrsunternehmen, fordert der SEV den Teuerungsausgleich. In einer Zeit steigender Preise und der zunehmenden Aufmerksamkeit für Nachhaltigkeit und Klima ist der öV ein Teil der Lösung. Das muss sich auf die Verbesserung der tiefsten Löhne auswirken und die Berufe attraktiver machen, um die Generation der Babyboomer ersetzen zu können.
Zu den übrigen wichtigen Dossiers gehört die Gesundheit der Busfahrer:innen, wozu der SEV erneut eine Umfrage gemacht hat, diesmal in Zusammenarbeit mit Syndicom, VPOD und Unisanté. Die Probleme sind vergleichbar mit jenen von 2018: Muskelschmerzen, Müdigkeit und Schlafstörungen. Die Unfallhäufigkeit ist am Steigen.
Bei der Verkehrspolitik führte die Ausschreibung im Kanton Jura zum Zuschlag an Postauto. Dieser Riese verzichtete darauf, Linien an Drittfirmen ohne GAV weiterzuvergeben. Christian Fankhauser stellt in der Bilanz fest, dass sich «als Antwort auf solche Ausschreibungen eine gründliche juristische Abklärung aufdrängt, um die besten Ansätze für juristische und politische Antworten zu finden. Weiter ist es wichtig, eine Auflistung der bestehenden Untervergaben zu haben. Es könnte sinnvoll sein, eine nationale Kampagne gegen Untervergaben zu führen, um die rechtliche Grundlage gesamtschweizerisch anzupassen und zu verhindern, dass ein Grosser wie Postauto mit Untervergaben Dumping betreibt. Oder könnte man anstelle einer nationalen Aktion in jedem Kanton aktiv werden, um die gesetzliche Grundlage anzupassen?
Antigewerkschaftliche Kündigung
Hinsichtlich der Sozialpartnerschaft blickt Christian Fankhauser mit Bedenken auf die jüngste Vergangenheit: «Wir haben eine deutliche Zunahme antigewerkschaftlicher Kündigungen festgestellt, wovon unsere Branche bisher eher verschont geblieben ist. Das ist umso schlimmer, als die Kündigungen unter Missachtung bestehender GAV-Bestimmungen erfolgt sind.»
Geliebter FVP
Das Bundesamt für Verkehr wollte den Aktiven lediglich noch 20 % Rabatt zugestehen und Angehörigen wie Pensionierten die FVP völlig streichen. Der Protest der SEV-Mitglieder hat Früchte getragen. «Mit den über 26 000 Unterschriften zu unserer Petition haben wir es geschafft, den Status quo für 2022 und 2023 zu bewahren. Das heisst, 50 % Rabatt für alle. Und für Angehörige der Angestellten sowie die Pensionierten, die am 31.12.2023 ein GA-FVP besitzen, bleibt der Rabatt bei 50 %, wenn sie es ohne Unterbruch verlängern. Für die andern gibt es eine Änderung: Ab dem 1. Januar 2024 beträgt der Rabatt auf den FVP-Angeboten nicht mehr 50, sondern 35 %. Das ist eine Verschlechterung, aber es gilt sie im Verhältnis zum ursprünglich geplanten Abbau zu betrachten. Das Glas ist eher halbvoll als halbleer», bilanziert Fankhauser.
Harter Kampf in der Sozialpolitik
«Wir haben alles unternommen, um die Altersvorsorge zu schützen», hält Giorgio Tuti fest. «Wir haben eine Initiative für eine 13. AHV-Rente mit 140 000 Unterschriften eingereicht, das Referendum gegen AHV 21 ergriffen (und die Abstimmung am 25. September nur knapp verloren), und wir sammeln Unterschriften für eine teilweise Nutzung der Nationalbankgewinne für die AHV. Bei der Zweiten Säule setzen wir uns mit dem SGB für einen Kompromiss ein, der es ermöglicht, das Sinken der Pensionskassenrenten zu bremsen, das durch die tiefen Zinsen und die steigende Lebenserwartung ausgelöst wurde. Bei Pensionskassen, bei denen wir im Stiftungsrat Vertretungen haben, achten wir darauf, die Renten auf ihrem jetzigen Niveau zu halten.»
Vivian Bologna / Übersetzung: Peter Moor / Video: Michael Spahr/Yves Sancey