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Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-Industrie) 4.0

Passerelle zu neuen Qualifikationen

Angesichts des drohenden Fachkräftemangels und der Dequalifikation, die durch die Digitalisierung verursacht wird, haben die Sozialpartner der MEM-Industrie die «MEM- Passerelle 4.0 AG» gegründet. Das Angebot für eine neue berufliche Qualifikation richtet sich an berufstätige Erwachsene. Die öV-Branche wird sich bei der Diskussionsrunde mit den KTU mit dem Thema befassen.

Auf Einladung des SEV findet am 5. November eine Diskussionsrunde statt, an der ein breites Spektrum an KTU anwesend sein wird. Dabei werden Lösungen für einige bevorstehende Herausforderungen gesucht. Wie kann verhindert werden, dass eine Person, die aufgrund von Krankheit oder körperlichen Beschwerden nicht mehr fahren kann, entlassen wird, insbesondere wenn sie über 50 Jahre alt ist? Wie kann die Arbeitsmarktfähigkeit aufrechterhalten werden oder wie muss eine Umschulung gestaltet sein, um eine Antwort auf die Digitalisierung zu finden, die Berufe verändert oder gar verschwinden lässt? Lösungsansätze gibt es bereits, aber es lohnt sich zu untersuchen, wie die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, die über 100 000 Mitarbeitende beschäftigt, mit der Schaffung eines paritätischen Fonds und einer Passerelle Antworten auf ähnliche Fragen gefunden hat.

Bevor eine nationale Lösung gefunden wurde, waren es die Kantone Waadt, Genf, Neuenburg und Freiburg, die als erste nach einer Branchenlösung für über 350 Unternehmen suchten. Vor dem Hintergrund drohender Abwanderung und massiver Kündigungswellen, die grosse Ausbildungszentren in Gefahr gebracht hätten (Sapal im Jahr 2000, Castolin 2001), rief der Staatsrat zu einer Tagung des Industriestandorts Waadt auf. Diese führte zur Forderung an den Kanton, angesichts des fehlenden GAVs eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, damit ein allgemeiner beruflicher Beitrag zur Schaffung eines paritätisch verwalteten Fonds geleistet werden kann. So entstand 2004 die «Fondation vaudoise pour la formation et le perfectionnement professionnels des métiers MEM».

«Auch wenn am Anfang ein paar Arbeitgeber skeptisch waren, sind sie heute alle überzeugt und begeistert», sagt Yves Defferrard, derzeitiger Verantwortlicher des Industriesektors bei der Geschäftsleitung der Unia und ehemaliger Regionalsekretär der Unia Waadt sowie zeitweiliger Präsident der «Fondation vaudoise». Zusammen mit dem Bund übernimmt diese z. B. Ausbildungs- und Weiterbildungskosten, Umschulungsangebote (insbesondere für Kupferschmiede von Bombardier, die zu Kabelverlegern umgeschult wurden) und die Unterstützung von Image-Kampagnen zur Förderung von Berufen in der technischen Industrie.

Fortschritte des GAV MEM 2018

Auf nationaler Ebene haben die Gewerkschaften bei den Verhandlungen zum GAV MEM im Jahr 2018 einen besseren Schutz für ältere Arbeitnehmende erreicht. So können ältere Mitarbeitende nicht mehr einfach auf die Strasse gestellt werden. Bei Personen ab 55 Jahren müssen die Arbeitgeber jede vorgesehene Kündigung einzeln untersuchen. Die Mindest-Kündigungsfrist wurde auf vier Monate verlängert, was Arbeitnehmenden über 55 Jahren zugutekommt, die seit weniger als zehn Jahren im Betrieb arbeiten.

Ideal wäre natürlich, Kündigungen zu vermeiden. Hier kommt die grosse Errungenschaft des GAV in Artikel 50 zum Tragen: Die Passerelle MEM 4.0, die eine «Lehre für Erwachsene» vorsieht und den Mitarbeitenden die Chance bietet, sich neu zu qualifizieren. «Ziel ist es, eine Struktur für Arbeitnehmende zu schaffen, die bereits eine Ausbildung haben und eine Weiterbildung oder eine Umschulung benötigen», erklärt Matteo Pronzini, Verantwortlicher der MEM-Branche in der Geschäftsleitung des Industriesektors der Unia. «Die Gewerkschaft hat rasch eine Übereinstimmung mit den innerhalb von Swissmem zusammengeschlossenen Arbeitgebern gefunden, die sich dieser Notwendigkeit bewusst sind», präzisiert Pronzini.

Inspirationsquelle?

Diese nationale Lösung ist über den GAV entstanden. So konnte vor ein paar Jahren ein paritätischer Fonds für Weiterbildungen geschaffen werden, der aus einem beruflichen Beitrag von zwei Franken pro Monat gespeist wird, wovon die Hälfte vom Lohn der Arbeitnehmenden abgezogen wird. Dank diesem Fonds konnte die «MEM-Passerelle 4.0» entstehen, die von den Sozialpartnern am 11. Dezember 2020 als Aktiengesellschaft mit einem Kapital von 100 000 Franken gegründet wurde. Sie wird von Prof. Stefan Wolter der Universität Bern präsidiert.

Kann das Passerellen-Modell die Verkehrsbranche inspirieren, wo die Qualifikationen vielleicht weniger hochspezialisiert und die Ausbildungen in Bezug auf Inhalt und Dauer weniger anspruchsvoll sind? Wenn die Branche darauf achtet, Fahrer:innen, die von der Arbeitsbelastung ausgebrannt sind, nicht einfach zu entlassen, kann das die Attraktivität der Branche bei Jugendlichen und Frauen verbessern. Dies ist nämlich eine der grössten Herausforderungen für die Unternehmen, bei welchen die Babyboomer-Generation in den kommenden Jahren das Rentenalter erreicht. Die Industrie kennt das gleiche Problem. Auch mit den Herausforderungen in Verbindung mit den technologischen Veränderungen und der Digitalisierung sind beide Branchen konfrontiert. «Die Maschinenindustrie und die Eisenbahn sind sich sehr nahe, z. B. beim Bau und Unterhalt von Zügen, bei den Elektrozentralen usw.», bemerkt Pronzini.

Dank der Passerelle ist eine zweite Ausbildung für Erwachsene oder eine Umschulung berufsbegleitend möglich und führt zu einem Diplom, das auf nationaler Ebene anerkannt ist. Dabei soll vermieden werden, dass ein Berufswechsel mit einer Phase der Arbeitslosigkeit einhergeht. Mitte Oktober 2020 hat ein erstes Pilotprojekt angefangen. Dazu Matteo Pronzini: «Die ersten Resultate sind sehr ermutigend, obschon es klar ist, dass der Prozess noch im Anfangsstadium steckt und noch viel zu machen bleibt, insbesondere in Bezug auf die Mittelbeschaffung bei den Behörden».

Auch wenn diese Baustelle für die Maschinenindustrie noch nicht beendet ist, wurde bereits eine Grundlage gelegt. Die Branche verfügt damit über ein Instrument, mit dem sie zahlreiche zukünftige Herausforderungen angehen kann. Der Fonds und die Passerelle 4.0 könnten für die Verkehrsbranche, die vor den gleichen Problemen steht, als Inspirationsquelle dienen.

Yves Sancey (Originaltext französisch)
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