Barbara Spalinger kämpft für gute Gesamtarbeitsverträge
«Wir wollen die GAV mit Krallen verteidigen!»
Seit 15 Jahren setzt sich Barbara Spalinger für die Angestellten der privaten Transportunternehmen ein. Dabei ist die SEV-Vizepräsidentin auch gerne mal ein bisschen unbequem.
kontakt.sev: Barbara Spalinger, warum hat der VPT Entlassungen aus gesundheitlichen Gründen dieses Jahr als Thema für seine Herbsttagungen gewählt?
Das ist ein Thema, das alle beschäftigt. Es kommt immer wieder vor, dass Leute aus gesundheitlichen Gründen entlassen werden. Im Bereich öV ist die Problematik besonders akzentuiert, gerade bei sicherheitsrelevanten Tätigkeiten. Da sind die Leute schneller arbeitsunfähig als in einem Büro, wo man auch mit ein bisschen Rückenproblemen weiter arbeiten kann.
Was passiert dann mit den Leuten, wenn sie ihren Beruf nicht mehr ausüben können? Haben sie nicht Anspruch auf eine IV-Rente?
Nein, wenn sie nur berufsbezogen arbeitsunfähig sind und sonst aber noch arbeiten können, dann haben sie keinen Anspruch auf eine IV-Rente. Die IV ist da sehr streng. Deshalb sagte ich vorhin, das Problem sei im öV akzentuiert. Wenn du ein Rückenproblem hast und im Büro arbeitest, dann kannst du vielleicht eingeschränkt weiterarbeiten. Aber wenn du eine sicherheitsrelevante Prüfung über deine Gesundheit hast und etwas mit den Augen nicht mehr stimmt oder mit dem Gehör, dann bist du draussen. Dann kannst du nicht mehr arbeiten auf diesem Beruf. Und dann ist die Frage: Kann man dich sonst irgendwo beschäftigen, hast du noch etwas anderes gelernt?
Dann wäre zu hoffen, dass es Reintegrationsprogramme gibt …
Bei den kranken Leuten versucht man, eine berufliche Reintegration zu machen. Ich denke, jede Unternehmung versucht das bis zu einem gewissen Grad, doch der Druck zur Produktivitätssteigerung wächst. Früher gab es noch mehr Nischenarbeitsplätze. Da konnte man Leute noch in einer Werkstatt einsetzen – zum Beispiel, um Schrauben zu sortieren. Heute werden die Leute einfach entlassen, gerade bei kleineren Unternehmen. Diese haben einfach keine Möglichkeit, solche Leute weiter zu beschäftigen. Je kleiner die Unternehmung, desto schwieriger ist es. Die SBB hat zwei solche internen Werkstätten, Anyway Solutions. Aber schon bei der BLS gibt es so etwas nicht, obwohl sie nach der SBB die zweitgrösste Unternehmung ist. Sie haben zwar ein paar Nischenarbeitsplätze, aber sie weigern sich, da etwas zu definieren. Sie machen es nur auf Zusehen hin, vielleicht mal hier und da ein bisschen, wenn es sich gerade ergibt, aber sie würden nie mit uns vereinbaren, eine fixe Zahl solcher Nischenarbeitsplätze zu haben. Bei den Kleinen mit wenigen hundert Angestellten wird es erst recht schwierig. Da müssen dann alle zusammen ganz fest wollen, dass es geht, und das ist leider sehr selten.
Wie könnte man die Situation verbessern?
Eine Überlegung wäre, einen Branchenfonds zu gründen. Eine Unternehmung allein kann die Reintegration nicht stemmen. Deshalb müsste man eine zusammengelegte Lösung für die ganze Branche finden und sich überlegen, was mit Leuten, die aus gesundheitlichen Gründen ihren Beruf nicht mehr ausüben können, geschehen soll, wenn sie keine IV-Rente bekommen und in einem Alter sind, in dem sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen haben. Wenn du mit Anfang 20 eine Ausbildung als Lokführerin machst und sich danach bei der periodischen Prüfung herausstellt, dass du nicht gut genug siehst, dann ist das nicht sehr dramatisch. Denn du bist noch jung, du hast noch eine andere Berufsausbildung gemacht oder zumindest einen anständigen Schulabschluss. So kannst du dich beruflich noch relativ gut umorientieren. Wenn du aber 20 Jahre lang im Gleisbau oder als Buschauffeuse gearbeitet hast, nichts anderes gelernt und 20 Jahre lang nichts anderes gemacht hast, dann ist es schwierig. Und Leute über 50 haben es ohnehin schwer auf dem Arbeitsmarkt. Arbeitgeber wollen sie nicht; sie sind zu teuer.
Was gäbe es denn da noch für Möglichkeiten – hat nicht zum Beispiel die IV auch ein Interesse daran, dass diese Leute weiter arbeiten können?
Die IV hilft schon mit. Sie kann Umschulungen bezahlen oder helfen, Arbeitsversuche zu machen. Aber auch das ist sehr altersabhängig. Wenn jemand auf die 60 zugeht, dann kann man mit dieser Person schon Umschulungen machen, aber dann muss man noch einen Arbeitgeber finden, der so jemanden dann auch anstellt.
Passiert es oft, dass Leute, die aus gesundheitlichen Gründen entlassen wurden, schlussendlich in die Sozialhilfe rutschen?
Das passiert durchaus, wir haben aber keinen Überblick über alle Fälle. Oft begleiten wir die Leute bis sie draussen sind, aber in der Zeit, in der sie stempeln oder wenn sie dann ausgesteuert werden, sind sie nicht mehr bei uns. Deshalb bekommen wir das nicht immer mit, aber es ist prognostizierbar. Letztes Jahr hatte ich einen Fall bei einer Privatbahn: Ein Gleismonteur hatte kaputte Knie und konnte nicht mehr arbeiten. Ihm wurde gekündigt und ich habe dann probiert, wenigstens noch eine Abfindung auszuhandeln und die hat er auch bekommen. Jetzt kann er stempeln gehen, aber wenn er ausgesteuert ist, dann können wir nichts mehr machen. In solchen Fällen wäre ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die Altersvorsorge, dass die Leute die Pensionskasse behalten könnten. Momentan kommt das Pensionskassenguthaben wenn man entlassen wird auf ein Freizügigkeitskonto – für den Fall, dass man wieder einen Job hat und es der neuen Pensionskasse überweisen kann. Du kannst nichts mehr einzahlen, wenn du keinen Job mehr hast. Es wäre besser, wenn man mindestens die PK weiterbehalten könnte, damit die Situation beim Eintritt ins Rentenalter geregelt ist und vor allem, damit man eine Rente bekommt, anstatt dass einem das Geld einfach ausbezahlt wird. Dieses Geld ist dann schnell weg.
Kommen wir zum Arbeitszeitgesetz, das zurzeit revidiert wird. Welches sind die Themen der Revision?
Eines der Themen ist die Auswärtspause. Die Arbeitgeber haben keine Lust, diese zu bezahlen. Aber wer unregelmässig arbeitet, der hat die Pause betrieblich eingeteilt. Es wird nicht geschaut, ob Mittag ist, denn auch am Mittag fahren Züge und Busse. Dann hat man eben Pause an einem Ort, den man nicht selbst auswählt. Es fragt sich dann, ob es dort eine Beiz oder ein Pausenlokal gibt. Das ist die Logik hinter der bezahlten Auswärtspause. Solche Dinge verändern sich eben, deshalb muss das Gesetz revidiert werden. Früher hatten die Leute Wohnsitzpflicht und mussten in der Nähe von ihren Bahnhöfen wohnen. Und da sagte man, die Leute sollen für die Pausen nach Hause gehen. Natürlich ist es heute nicht mehr genau so.
Gibt es für gewisse Betriebe auch Sonderregeln?
Es gibt einige Sonderregelungen für einzelne Branchen, zum Beispiel für die Seilbahnen oder die Schifffahrt. Das ist aber auch nötig, denn die Betriebsrealitäten sind schon sehr unterschiedlich. Man kann eine VBZ nicht mit einer Bergbahn oder mit der Bielerseeschiffahrtsgesellschaft vergleichen. Die funktionieren alle ganz anders. Auch im Agglomerationsverkehr gibt es bestimmte Erleichterungen. Aber die Frage, was Agglomerationsverkehr ist, ist nicht so leicht zu beantworten.
Das Jahr 2016 ist fast vorbei. Was wird dir in Erinnerung bleiben?
Ich stelle fest, dass wir mit den Arbeitgebern nicht mehr selbstverständlich und nicht mehr unbedingt auf derselben Augenhöhe reden können; dass sie die Sozialpartnerschaft stärker infrage stellen als früher und auch, dass sie nicht immer sehr zuverlässig sind. Wir haben eine Verrechtlichung des Ganzen. Momentan bearbeite ich zwei Schiedsgerichtsverfahren wegen Dingen, die man früher in einem Gespräch hätte lösen können. Heute geht das zuweilen nicht mehr. Das hat einerseits sicher mit dem Druck zu tun, der auf die Unternehmungen ausgeübt wird, damit sie noch effizienter noch mehr Leistungen erbringen. Es hat aber auch damit zu tun, dass in den Chefetagen der Unternehmungen Leute sitzen, die sich diesem Druck unterziehen, ohne ihm den Wert der Unternehmung – unter anderem auch der Mitarbeitenden, die sich für «ihre» Unternehmung schwer ins Zeug legen – entgegenzusetzen, notfalls auch mit einem gewissen Selbstbewusstsein. Sie sehen die Gewerkschaft nur noch als zusätzliche Komplikation und sehen nicht mehr, dass wir eigentlich in weiten Teilen am gleichen Strick ziehen. Wenn das BAV die Qualität prüft und damit droht, dass sie ausschreiben wollen, wenn sie nicht stimmt, so vermisse ich die Unternehmen, die zurückfragen, wie man es sich eigentlich vorstellt, mit weniger Geld mehr Qualität herzustellen. Wir stellen diese Fragen. Es ist bedauerlich, dass die Unternehmungen nicht mitziehen, sondern bei uns dann an den GAV herumschrauben wollen, um jene gebetsmühlenartig ge- forderten Produktivitätssteigerungen zu erzielen, die alle entlasten sollen, ausser natürlich das Personal. Deshalb bin ich froh, GAV zu haben und wir wollen sie mit Krallen und Zähnen verteidigen. Auch wenn es komisch erscheint: Hier halte ich es mit dem verstorbenen CSU-Politiker Franz-Josef Strauss, der einmal sagte: «Pacta sunt servanda». Das heisst «Verträge müssen eingehalten werden» und ich poche bei den GAV ebenso da-rauf, wie dies bei anderen Verträgen – zum Beispiel mit einem Mobilfunkanbieter – ja auch selbstverständlich ist. Manchmal muss man die Gegenseite daran erinnern. Die Unternehmungen versuchen immer mehr, an uns vorbeizukommen. Sie wollen lieber direkt mit ihren Angestellten verhandeln, wohlwissend, dass dort der Widerstand viel kleiner ist. Wenn du den Arbeitsvertrag direkt mit deinem Chef aushandelst, dann streitest du anders, als wenn wir das machen.
Karin Taglang
Und was macht Barbara Spalinger eigentlich am liebsten?
Ich mache am liebsten fünf Sachen auf einmal. Mir gefällt die Unterschiedlichkeit meiner Dossiers. Ich habe Berufsrechtsschutzfälle, ich betreue aber auch Sektionen und gehe an deren Vorstandssitzungen. Verhandlungen mache ich auch gerne, wenn sie zu einem guten Ende führen. Die Arbeit mit Menschen gefällt mir, unsere Mitglieder sind lässig. Sie ziehen mit, sie sind interessiert und loyal. Sie sehen, dass wir uns Mühe geben, das ist schön. Letztlich will ich ja, dass unsere Mitglieder zufrieden sind.