Europapolitik
«Europa muss in die Schiene investieren»
Im Moment führt die Schweiz Verhandlungen mit der EU über ein neues Rahmenabkommen. Der SEV fordert, dass sie sich nicht dem Druck der EU-Kommission beugt, einer Marktöffnung des internationalen Schienenpersonenverkehrs zuzustimmen. Zudem stellt sich der SEV hinter die Forderung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, den Lohnschutz zu wahren. Die Verhandlungen der Schweiz sind auch im Interesse der ETF, der Europäischen Transportarbeiter-Föderation. Der ehemalige SEV-Präsident Giorgio Tuti ist Präsident des Bahnsektors bei der ETF. Ein Gespräch zur aktuellen Europapolitik.
Als Gewerkschaften werden wir in den Schweizer Medien zurzeit oft als «Bremser» dargestellt, wenn es um das Verhältnis der Schweiz mit der EU geht. Wie reagierst du auf diese Anschuldigung?
Ich habe mich allmählich daran gewöhnt, als Bremser betitelt zu werden. Es ist jedoch inhaltlich grundfalsch, uns als Bremser zu bezeichnen. Wir sind die Ersten, die sagen, wir brauchen geregelte, gute Verhältnisse zur Europäischen Union. Die EU hat ganz vieles, was sehr gut ist und auch die Situation in der Schweiz verbessern würde. Aber wir kritisieren die Dinge, die die Situation verschlechtern würden. Wir müssen einerseits unsere Löhne schützen. Andererseits müssen wir das Kooperationsmodell bei der Eisenbahn verteidigen. Und da werden wir hundertprozentig von unseren Partnergewerkschaften in Europa unterstützt. Wir fahren bei der Europapolitik eine klare Linie, für die wir von den Gewerkschaften in der EU viel Lob erhalten. Wenn das also «Bremser» bedeutet, dann bin ich stolz darauf, einer zu sein.
Wir kämpfen für die Beibehaltung der Direktvergabe von Leistungen im Bahnverkehr. Wir kämpfen für die Kooperation mit ausländischen Bahnunternehmungen, statt Wettbewerb. Mit anderen Worten, wir wehren uns gegen das Liberalisierungsdogma der europäischen Kommission. Zu Recht?
Das Wettbewerbssystem hat Europa geschadet. In Schweden hat man behauptet, mehr Wettbewerb führe zu mehr Qualität für die Kundinnen und Kunden sowie zu mehr Zügen, und das alles zu tieferen Kosten. Genau das Gegenteil ist passiert. Die Qualität des Bahnangebots ist gesunken und die Kosten sind gestiegen. Die Steuerzahlenden und die Kundschaft wurden stärker zur Kasse gebeten. In Deutschland hat der Wettbewerb zu absurden Situationen geführt. Ein Beispiel: Es gibt 310 Unternehmungen im Schienenpersonenverkehr. Wie viele machen bei einer Ausschreibung im Durchschnitt mit? 1,7 Bewerberinnen und Bewerber (lacht). Und das soll also der grosse Wettbewerb sein? Das ist kein Wettbewerb! Das ist pure Ideologie, dass mit dem Wettbewerb alles besser werden soll. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Ausschreibungen kosten die Steuerzahlenden und die Unternehmungen Unmengen an Geld, um am Schluss ein solches Resultat zu haben.
Die Schweiz und Österreich, die Bahnverkehrsleistungen direkt vergeben und Kooperationsmodelle bevorzugen, statt Ausschreibungen durchzuführen, sind erfolgreich. Sie sind die Bahneuropameister mit den meisten Reisenden in ganz Europa. Findet bei der europäischen Kommission endlich ein Umdenken statt?
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir haben ein ETF-Positionspapier veröffentlicht, in dem wir ein Ende der Liberalisierungspolitik und gleichzeitig mehr Investitionen in den Bahnverkehr fordern. Der Bahnsektor ist Teil der Lösung im Kampf gegen den Klimawandel und soll entsprechend gefördert werden. Im Moment wird in den meisten Ländern viel zu wenig in die Bahn investiert. In Frankreich sind es nur 46 Euro pro Kopf, in Deutschland 114 und in Italien 115 Euro. In der Schweiz sind es 450 Euro pro Kopf. Wir brauchen dringend eine Kehrtwende, ein Umdenken bei der Verkehrspolitik in Europa. In einem Monat sind Parlamentswahlen in der EU. Vielleicht ist das eine Chance. Es ist wichtig, dass wir progressive Kräfte wählen, die sich u. a. für Arbeitnehmende und für Massnahmen gegen den Klimawandel einsetzen.
In der Schweiz teilen wir viele Probleme mit unseren europäischen Kolleginnen und Kollegen. In den meisten europäischen Ländern gibt es ebenfalls Personalmangel im öffentlichen Verkehr, und die Sicherheit des Personals ist vielerorts unter Druck. Zeichnen sich da Verbesserungen und Fortschritte ab?
Ja, ich nenne drei Beispiele. Erstens «Women in Rail». Das ist ein bindendes Abkommen der Sozialpartner, das die Situation der Frauen, die im Bahnsektor arbeiten, verbessern soll. Das Ziel dabei ist, Bahnjobs attraktiver zu machen, um dadurch mehr Frauen in den Sektor zu holen und so auch die Personalunterbestände zu bekämpfen. Da gibt es laufend kleine Fortschritte. Zum Beispiel in Verona, in Italien, wurden kürzlich spezielle Parkplätze für Frauen geschaffen, die nahe bei den Arbeitsplätzen liegen. Da müssen Frauen, die in späten Schichten arbeiten, keine Angst mehr haben, wenn sie in der Nacht zu ihren parkierten Autos gehen. Das tönt nach wenig, für die direktbetroffenen Frauen bedeutet es aber im Arbeitsalltag eine grosse Verbesserung. Zweitens «Lingua franca Englisch». Die EU-Kommission wollte im Schnellverfahren Englisch als obligatorische Sprache einführen, die das Lokpersonal sprechen muss, wenn es grenzüberschreitend fährt. Dieses Vorgehen konnten wir, durch eine «joint recommendation», d. h. eine gemeinsame Empfehlung des Arbeitgeberverbandes CER und der ETF im Rahmen des Sozialen Dialogs, für den Moment blockieren. Die EU-Kommission muss uns nun zuerst Beweise liefern, was die «Einheitssprache» bringen soll. Gibt es nämlich Verzögerungen beim Grenzüberschreiten, hat das nichts mit der Sprache zu tun, sondern vielmehr mit der Technik, das sagen uns übrigens alle, die etwas von Eisenbahn verstehen. Drittens die sogenannte PSO-Verordnung (Public Service Obligations) der EU zu Direktvergaben und Wettbewerb im öffentlichen Verkehr. Die EU-Kommission hat dazu eine Interpretationsrichtlinie entgegen dem Wortlaut der PSO-Verordnung publiziert und so durch die Hintertür den Wettbewerb höhergestellt als die Direktvergabe von Leistungen. Die Verordnung definiert aber den Wettbewerb und die Direktvergabe als gleichwertig. Die EU-Kommission als Gesetzgeberin? Das geht gar nicht und ist auch nicht Aufgabe der Kommission. Das ist ein Skandal! Da arbeiten wir jetzt mit unseren österreichischen Partnern zusammen, um diese Richtlinie zu kippen. Ein österreichischer Rechtsprofessor hat aufgezeigt, dass diese Richtlinie nicht nur politisch, sondern auch juristisch nicht standhält. Es gibt also viele Beispiele, wo wir auf europäischer Ebene vorwärtskommen und gewerkschaftlich einiges erreichen konnten, was uns auch in der Schweiz hilft.
Die ETF ruft zu einer grossen Demonstration Ende Mai in Paris auf. Warum?
Es laufen zur Zeit in einigen europäischen Ländern Verfahren der EU-Wettbewerbsbehörde. Anlass sind staatliche Unterstützungsmassnahmen oder Subventionen, die nicht im Einklang mit den EU-Beihilfevorschriften stehen. Im Fall der DB und DB Cargo stösst sich Brüssel daran, dass die DB die Verluste von DB Cargo ausgleicht. Die Konsequenzen auf die Arbeitsplätze und auf den Güterverkehr auf Schiene werden deshalb verheerend sein und dagegen wehren wir uns zu Recht. In Frankreich läuft ein ähnliches Verfahren. Als Konsequenz hat SNCF Fret bereits Verkehre abgegeben und wird nun aufgeteilt. Das ist völlig absurd. Wir sprechen von Klimawandel und von der Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene. Mit Geldstrafen und einem faktischen Unterstützungsverbot setzt man aber Unternehmungen unter Druck und zwingt sie zu Sparmassnahmen, Reorganisationen und auch zu Angebotsabbau. Das ist ein gewaltiger Widerspruch. Um gegen diese unsinnige Liberalisierungspolitik zu protestieren, gehen wir also nach Paris. Es ist wichtig, dass wir vor den Europawahlen ein Zeichen gegen die schädliche Liberalisierungspolitik der EU setzen.
Michael Spahr