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Gewalt im öV

Aggressives Verhalten? Immer melden

Jeder Übergriff ist einer zu viel. Das Recht, sicher zu arbeiten, ohne an die eigene körperliche oder psychische Unversehrtheit oder Gesundheit denken zu müssen, ist ein Grundrecht. Bild : Tiemo Wydler.

Verbale und körperliche Übergriffe auf das Personal des öffentlichen Verkehrs kommen immer noch viel zu oft vor. Dies, obwohl das Gesetz seit 2007 vorsieht, dass diese als Offizialdelikt verfolgt werden. Behörden und Unternehmen müssen die Sicherheit des Personals wieder in den Mittelpunkt stellen. Interview mit Gilbert D’Alessandro, Zentralpräsident des VPT SEV.

Machst du dir Sorgen wegen der Gewalt, der unsere Kolleginnen und Kollegen in den Bussen, Trams, Zügen und an den Schaltern ausgesetzt sind?

Gilbert D’Alessandro: Eindeutig. Jede Aggression ist eine zu viel. In diesem Punkt gibt es nichts anderes als Nulltoleranz. Eine Verletzung der Integrität wirkt oft traumatisch. Man darf eine Aggression nicht ver-harmlosen. Gewalt ist immer Gewalt, bei den KTU und bei der SBB.

Verbale oder körperliche Gewalt, Aggression, Unhöflichkeit, Einschüchterung, Anspucken, Beleidigungen - die Formen sind vielfältig ...

... und es kommen noch heimtückischere Formen hinzu, wie die unermüdlichen Forderungen nach Einhalten des Fahrplans, die dauernd wiederholt während des ganzen Tages auch eine Form von Gewalt sind. Ein anderes Beispiel sind die Baustellen. Die Unternehmen müssten sich viel mehr darum kümmern, mit dem Personal im Voraus die kritischen Stellen zu besprechen, besonders wenn es zu Verengungen kommt und Probleme mit Kreuzen und Vortritt auftauchen.

Hast du konkrete Beispiele von Massnahmen, um Spannungen zu vermeiden, die zu Aggressionen führen?

Gilbert D’Alessandro, Zentralpräsident des VPT SEV. Foto Yves Sancey

In Freiburg haben wir recht gute Absprachen zwischen der Stadt und dem Personal, um diesen Problemen vorzubeugen. Die TPF plant für stark belastete Wochenenden im Voraus zusätzliche Securitas ein. Bei tl in Lausanne hat es am Wochenende in jedem Nachtbus Sicherheitspersonal. Das kostet die Unternehmen etwas, aber es wird vom Personal sehr geschätzt. Es gibt also gute Beispiele, aber leider werden sie nicht von allen Unternehmen und Kantonen übernommen.

Aber reicht das?

Natürlich nicht. Auch unter der Woche müsste das Personal in den Bussen und Zügen ab einer gewissen Uhrzeit von der Bahnpolizei begleitet werden. Das verursacht Kosten, klar, aber es nicht zu tun auch. Alle Transportunternehmen sollten selbst geschultes Sicherheitspersonal haben, das die besondere Situation im öffentlichen Verkehr kennt – so wie Securitrans bei der SBB.

Was tun, wenn man im Dienst beleidigt wird?

In den meisten Bussen weist ein Kleber darauf hin, dass jede Aggression gegen das Personal von Amtes wegen verfolgt wird. Foto : Yves Sancey

Man muss sofort den Arbeitgeber informieren (siehe Box). Alle KTU müssen ein internes Formular haben, mit dem man dies anzeigen kann. Jenes der TPF ist sehr gut und könnte für andere KTU ein Beispiel sein. Das muss man jedes Mal machen, auch für Vorfälle, die relativ banal erschienen. Innert 24 Stunden muss man dann den Vorgesetzten anrufen. Dieser kann verlangen, dass die Aufzeichnung gesichert wird, wenn es im Fahrzeug eine Kamera hat. Danach wird das Unternehmen den oder die Betroffene befragen um zu wissen, was genau passiert ist. Schliesslich entscheidet die betroffene Person, ob sie klagt oder nicht. Wenn sie das Feld ankreuzt, bei dem steht «Ich wünsche, dass das Unternehmen den Verstoss nach Art. 59a des Personenbeförderungsgesetzes (PBG) bei der zuständigen Stelle anzeigt» handelt das Unternehmen als Übermittler und der Angriff wird von Amtes wegen verfolgt. Gewisse Unternehmen meinen immer noch, dass sie das selbst entscheiden können, aber das stimmt nicht. Man kann in diesem Moment auch entscheiden, dass es nicht weitergehen soll. Aber damit wurde der Vorfall auf jeden Fall gemeldet. Ohne Spuren bleiben Übergriffe unsichtbar.

Woher kommt der Artikel 59 PBG?

Er ist das Resultat eines langen gewerkschaftlichen Kampfs der Fahrerinnen und Fahrer im SEV, insbesondere von Johan Pain, und hartnäckiger Arbeit im Parlament, angeführt vom Freiburger Erwin Jutzet. Artikel 59 PBGsagt seit 2007 klar: «Nach dem Strafgesetzbuch strafbare Handlungen werden von Amtes wegen verfolgt, wenn sie gegen Angestellte von Unternehmen mit einer Konzession oder Betriebsbewilligung während deren Dienstausübung begangen werden». Das gilt ebenso für beauftragtes Personal von Drittunternehmen. Der Grundsatz der Verfolgung von Amtes wegen findet sich auch in Artikel 88 des Eisenbahngesetzes für konzessionierte Bahnunternehmen (siehe Box unten). Zuvor mussten die Kolleginnen und Kollegen selbst Anzeige er-statten, was eine zusätzliche Belastung über die Aggression hinaus war.

Was tun bei einem körperlichen Angriff?

Dasselbe wie bei einem verbalen Übergriff, aber ein solcher Angriff wird auf jeden Fall von Amtes wegen verfolgt, wenn er dem Unternehmen gemeldet ist. Während der Arbeit muss man das Fahrzeug anhalten oder die Kontrolle abbrechen. Es sollte obligatorisch sein, dass die Unternehmen ihre Fahrzeuge mit einem Notfallknopf oder einem Handy mit GPS ausstatten. Bei der TPF heisst das System Houston.

Nächstes Jahr feiern wir 25 Jahre der Charta gegen Gewalt im öffentlichen Verkehr. Worum handelt es sich da genau?

Gewalt gegen das Personal des öffentlichen Verkehrs ist leider nichts Neues. Vor 25 Jahren hat die Gatu, damals ein Teilverband des VPT, sich diesem Thema angenommen und dafür gekämpft, dass Gewalt von Amtes wegen verfolgt wird. Mit der Charta haben sich Unternehmen, Mitarbeitende und Gewerkschaften verpflichtet, miteinander Massnahmen zur Vorbeugung und zum besseren Umgang mit Gewalt und Übergriffen zu entwickeln, um die Risiken zu vermindern und die Unterstützung der Opfer zu verbessern. Sie haben insbesondere paritätische Gruppen eingesetzt, die Übergriffe und Gewalt erfassen und untersuchen und den Unternehmen entsprechende Vorschläge unterbreiten.

Was ist weiter geplant?

Im Rahmen des 25-Jahre-Jubiläums der Charta führen wir nächstes Jahr eine Kampagne durch, um die Problematik wieder ins Zentrum unserer Aktivitäten zu rücken. Wir wollen die Gelegenheit nutzen, um die paritätischen Kommissionen zu reaktivieren und weitere zu schaffen, wo es sie noch nicht gibt. In Freiburg hatten wir auch Vertretungen der Polizei und der Schulen einbezogen, das müssen wir wieder in Gang bringen.

Viel zu tun in den nächsten Monaten …

… Oh ja, wir haben noch viel Arbeit vor uns! Wir müssen auch unsere Kolleginnen und Kollegen besser informieren, damit sie wissen, was sie im Fall einer Aggression tun müssen. Und bei der Polizei und den Untersuchungsbehörden den Gesetzesartikel in Erinnerung rufen, der viel zu wenig bekannt ist. Wir haben keine Statistiken. Bei der Ausbildung der neuen Fahrerinnen und Fahrer kommt diese Information zu kurz, und zudem müsste die Deeskalation geschult werden. Kampagnen für die Reisenden, die Velo- und Autofahrerinnen und -fahrer sollten aufzeigen, dass es etwas anderes ist, einen Bus oder ein Tram zu führen, die nicht anhalten wie ein Velo.

Yves Sancey

Jeder Übergriff ist einer zu viel

Jemand ohrfeigt einen Kundenbegleiter im Zug. Eine Busfahrerin wird heftig von einer Reisenden beschimpft, weil sie ihren Anschluss verpassen könnte, da der Bus wegen Stau Verspätung hat. Das Zugpersonal muss Reisende in die 1. Klasse in Sicherheit bringen, weil Jugendliche mit Messern aufeinander losgehen. In den letzten Monaten wurden Kolleginnen und Kollegen aus dem ZPV, LPV, AS und VPT immer wieder mit verbalen Drohungen und teilweise körperlichen Übergriffen konfrontiert. Es ist legitim, dass sie sich weigern, mit Angst im Bauch zur Arbeit zu gehen. Die Antwort auf diese Situation, auch für Reisende, liegt vor allem in zusätzlichen Mitteln: mehr Geld ist nötig, um mehr Präsenz in Zügen, Bussen und Bahnhöfen zu gewährleisten.

Allein im ersten Quartal 2024 wurden der SBB 400 Übergriffe von Mitarbeitenden gemeldet (siehe unsere letzte Zeitung). In der Kriminalstatistik 2023 wurden fast 700 Straftaten in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Haltestellen oder in Bahnhöfen erfasst, die von Amtes wegen nach Artikel 285 des Strafgesetzbuches verfolgt werden. Dies ist nur die Spitze des Eisbergs.

Jeder Übergriff ist einer zu viel. Das Recht, sicher zu arbeiten, ohne an die eigene körperliche oder psychische Unversehrtheit oder Gesundheit denken zu müssen, ist ein Grundrecht. Es ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen, das seit dem 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Gewerkschaftskämpfe steht.

Heute verlangen das Arbeitsgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das OR und die Gesamtarbeitsverträge von den Arbeitgebern, Massnahmen zum Schutz der persönlichen Integrität der Kolleginnen und Kollegen zu ergreifen. Die Arbeitgeber haben auch die Pflicht, Diskriminierung, Mobbing und sexuelle Belästigung zu bekämpfen.

Im Jahr 2000 unterzeichneten die Unternehmen eine Charta gegen Gewalt, mit der Verpflichtung für mehr Sicherheit für das öffentliche Personal zu sorgen (siehe Downloads, oben, nur auf französisch). Es ist an der Zeit, diese Charta zu erneuern.

Im Kampf für einen besseren Gesundheits- und Sicherheitsschutz ist das Know-how des Personals, wie vor Ort gehandelt werden muss, von grundlegender Bedeutung. Unsere Kolleginnen und Kollegen sind oft am besten in der Lage, Lösungen für mehr Komfort und mehr Sicherheit beim Fahren vorzuschlagen.

Gegen das Gefühl von Angst, Rückzug, Resignation und Ohnmacht gibt es ein mächtiges Gegenmittel: die Gewerkschaft, die uns verbindet und Solidarität schafft. Sie kämpft mit dir für deine Rechte und deine Sicherheit.

Kommentar von Valérie Boillat, Vizepräsidentin SEV

Was tun bei Aggression?

Der SEV hat eine Broschüre (siehe Downloads, oben) herausgegeben, die Ratschläge für den Umgang mit Aggressionen gibt. Kurz gefasst:

  • Ruhe bewahren und sich schützen. Das fahrende Personal soll bei einer Aggression den Notfallknopf drücken, damit die Zentrale den Ton in der Fahrkabine aufzeichnen und das Ausmass des Vorfalls einschätzen kann, um bei Bedarf die Polizei aufzubieten.
  • Die Polizei und gegebenenfalls die Ambulanz (144) benachrichtigen.
  • Falls nötig, psychologische Hilfe beanspruchen.
  • Die Vorgesetzten benachrichtigen und sich falls nötig ablösen lassen. Sicherstellen, dass alle Beweismittel aufgenommen sind (Zeugen-aussagen, Videos, Fotos).
  • Den Vorgesetzten anrufen, um die Bild- und Tonaufnahmen zu erhalten – dies innert weniger als 24 Stunden, da sie sonst eventuell überschrieben worden sind.
  • Das interne Formular ausfüllen, um über die Aggression zu informieren. Das Unternehmen ist verpflichtet, die Aggression der Polizei zu melden und verantwortet das weitere Vorgehen. Man kann zur Verfolgung von Amtes wegen innert drei Monaten eine Straf-anzeige oder eine Zivilklage hinzufügen.
  • Bei Bedarf den Rechtsschutz des SEV beiziehen.

 

Bundesgesetz über die Personenbeförderung (Personenbeförderungsgesetz, PBG)

Art. 59 Verfolgung von Amtes wegen

Nach dem Strafgesetzbuch strafbare Handlungen werden von Amtes wegen verfolgt, wenn sie gegen folgende Personen während deren Dienstausübung begangen werden:

a. Angestellte von Unternehmen mit einer Konzession oder Bewilligung nach den Artikeln 6–8;

b. Personen, die anstelle von Angestellten nach Buchstabe a mit einer Aufgabe betraut sind.

 

Eisenbahngesetz (EBG)

Art. 88 Verfolgung von Amtes wegen

Nach dem Strafgesetzbuch strafbare Handlungen werden von Amtes wegen verfolgt, wenn sie gegen Angestellte von Eisenbahnunternehmen mit einer Konzession nach Artikel 5 während deren Dienstausübung begangen werden.