Gewerkschaften, NGO und Linke mobilisieren gegen Bolsonaro
Der Hunger ist zurück in Brasilien
Brasilien ist kein Vorbild im Kampf gegen die Nahrungsunsicherheit: Im grössten Land Südamerikas hungern wieder Millionen von Menschen. Auf den Strassen verurteilen Volksbewegungen und Gewerkschaften das Elend und die Inflation, die die Regierung von Bolsonaro ausgelöst hat – und dieser träumt von einem Staatsstreich.
Die Bilder tun weh. In einem Quartier der Südzone, der reichsten Gegend von Rio de Janeiro, hält ein Transporter an. Sogleich bildet sich eine Schlange. Frauen und Männer beginnen einen Haufen Knochen zu durchsuchen, in der Hoffnung auf einen Fetzen Fleisch. Der Transporter fährt Fleischreste zu einer Firma, die daraus Futter für Haustiere oder Seife herstellt. «Vor einigen Jahren fragten mich die Leute nach einem Knochenstück für ihren Hund. Heute brauchen sie es zum Leben», erklärt der Fahrer.
Ein Rückschritt
Die Bilder, Ende September für die brasilianische Zeitung «Exame» aufgenommen, machen im Land die Runde. Sie zeigen die Folgen eines schrecklichen Rückschritts. 2014 verschwand Brasilien von der Hunger-Karte der UNO. Es war das Ergebnis der Kampagne «Null Hunger», die Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2011) in seiner ersten Amtszeit gestartet hatte.
Sechs Jahre später, 2020, leiden wieder 19 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer an Hunger. Innert zwei Jahren ist diese Zahl um 85 % angestiegen. Der Fleischkonsum ist auf den tiefsten Stand der letzten drei Jahrzehnte gefallen. Über 116 Millionen Menschen (über die Hälfte der Bevölkerung) befinden sich in einer unsicheren Nahrungssituation. Zudem leidet eines von drei Kindern an Blutarmut.
Die Lebensmittel fliegen weg
Die Rückkehr des Hungers ist nicht Folge einer Krise der landwirtschaftlichen Produktion. Im Gegenteil. Die Landwirtschaftsexporte, die fast einen Viertel des Bruttoinlandprodukts ausmachen, haben Rekordhöhen erreicht, allen voran Soja, Mais und Reis.
Die Gründe liegen andernorts: Die hohe Arbeitslosigkeit (über 14 %) und das Arbeitsprekariat (über 40 % der Beschäftigten arbeiten im informellen Sektor) verknüpfen sich mit den dramatischen Preisanstiegen der Grundnahrungsmittel – Reis, Bohnen, Milch, Fleisch –, von Gas (fürs Kochen) und des Benzins.
«Die Menschen hungern, weil sie nicht genug Geld haben, um Lebensmittel zu kaufen», bestätigt João Pedro Stedile, Anführer der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST), einer der wichtigsten sozialen Organisationen des Landes. Im Juni 2020 schlug die MST eine Reihe von Massnahmen gegen die Rückkehr des Hungers vor. Um die Beschäftigung und die landwirtschaftliche Produktion zu verbessern, regte sie an, umgehend grosse unproduktive Flächen an Bauernfamilien zu übergeben und die Programme zur Unterstützung der familiären Landwirtschaft wieder aufzunehmen; denn diese ist es, die einen Grossteil der Bevölkerung ernährt.
«Zweifacher Genozid»
Keiner der Vorschläge wurde aufgegriffen. Im Gegenteil. Die Regierung Bolsonaro, die mit den Grossgrundbesitzern verbunden ist, hat öffentliche Zuschüsse für die Ernährungssicherheit gestoppt. «Zum Völkermord der Pandemie kommt jener des leeren Tellers hinzu», verurteilt Frei Betto. Der Befreiungstheologe, renommierte Schriftsteller und frühere Aktivist gegen die Militärdiktatur weiss, wovon er spricht. Er war einer der Initianten des Programms «Null Hunger».
«Bolso-caro»
In den Kundgebungen, die die Absetzung des rechtsextremen Präsidenten fordern, trifft der Schlachtruf «Bolso-caro» (caro heisst in Portugiesisch teuer) auf «Bolsonaro der Völkermörder», der sich auf die verleugnerische Politik des Präsidenten in der Pandemie bezieht. Über 600 000 Menschen sind in Brasilien schon an Corona gestorben. Die Mobilisierung vom 2. Oktober hat in 300 Städten mehrere hunderttausend Personen auf die Strasse gebracht. Die Volksbewegungen, Gewerkschaften und Linksparteien wurden erstmals auch von einer oppositionellen Rechtspartei unterstützt.
Die Popularität des Präsidenten sinkt. Immer mehr Skandale betreffen seinen Clan. Die «Pandora Papers» haben aufgedeckt, dass Wirtschaftsminister Paulo Guedes Millionenvermögen in Steuerparadiesen versteckt. Die Umfragen sagen voraus, dass Bolsonaro klar verlieren würde, wenn er in den Wahlen auf Lula treffen würde. Der erste Wahlgang ist auf den 2. Oktober 2022 angesetzt.
Im Stil von Trump?
Aber der ehemalige Hauptmann hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Am 7. September hat er am Unabhängigkeitstag vor Zehntausenden Anhängern in São Paulo und Brasilia die Bedrohung durch einen Staatsstreich in den Raum gestellt, nur um wenige Tage später einen taktischen Rückzieher zu machen.
Der Weg ist noch lang und unsicher. Vor allem für die Millionen Armer, die täglich dafür kämpfen, etwas zu essen im Teller zu haben.
Guy Zurkinden, «services publics» (franz. VPOD-Zeitung), 15. Oktober 2021
Übersetzung: Peter Moor
Schwere Anschuldigungen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Dutzend weiterer Delikte: Der parlamentarische Untersuchungsausschuss gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro hat schwere Vorwürfe erhoben. In sechsmonatiger Arbeit hat er einen 1200-seitigen Bericht über die Bewältigung der Pandemie erstellt. Auch wenn die 600'000 Toten nicht ausreichen, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro durchzusetzen, weil dieser im Parlament eine solide Mehrheit hat und weil er auf Generalstaatsanwalt Augusto Aras zählen kann, der jede Anklage blockieren kann, sind die Folgen für Bolsonaro doch unvorhersehbar und der Fall könnte vor dem Internationalen Strafgerichtshof landen. "Am Ende von sechs Monaten intensiver Arbeit hat diese parlamentarische Kommission Beweise gesammelt, die zeigen, dass die Bundesregierung im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie langsam gehandelt und die Bevölkerung absichtlich dem Risiko einer echten Massenansteckung ausgesetzt hat", heisst es in dem Bericht, der von "vorsätzlichen" Verbrechen spricht.