Migration und Transport
«Ohne uns kein öffentlicher Verkehr»
Am 27. September stimmen wir über die sogenannte Begrenzungsinitiative ab. Die Initiative könnte die Zahl der ausländischen Arbeitnehmenden in der Schweiz stark beeinflussen, weshalb wir hier darlegen wollen, welch essenzielle Rolle sie in der ganzen öV-Branche spielen.
Bereits 2011 lancierte der SEV eine Kampagne zur Bekämpfung der Fremdenfeindlichkeit, um die Öffentlichkeit wie auch das gewerkschaftliche Umfeld auf die Bedeutung von Migrant/innen für einen funktionierenden Bahn- und Busbetrieb zu sensibilisieren. Im Jahr 2008 waren bei der SBB 12,2% der Beschäftigten ausländischer Herkunft, aus 88 verschiedenen Ländern. In anderen Unternehmen variierte dieser Prozentsatz: BLS (6,2%), Freiburger Verkehrsbetriebe (11%), Transports Publics du Chablais (12%), Rhätische Bahne RhB (15%), Transports Lausannois (TL) (35%), Trasporti Pubblici Luganesi (37%), Genfer Verkehrsbetriebe (TPG) (46%) und Elvetino (62%). In gewissen Bereichen war der Anteil an Migrant/innen besonders hoch: In der Reinigung lag er bei fast einem Drittel, im Gleisbau bei rund einem Viertel aller Mitarbeitenden. Seitdem hat die SBB für bestimmte Berufe wie die Anwendungsentwicklung Spezialist/innen aus Deutschland eingestellt.
Neuere Zahlen aus den letzten Jahren finden sich kaum, ein leichter Anstieg wird trotzdem deutlich: Der Anteil der ausländischen Mitarbeitenden bei der SBB stieg 2019 auf 16,3% und bei TL auf 40,5%; bei den TPG sank er hingegen 2018 auf 43,5%.
Je beschwerlicher die Tätigkeit, desto höher der Anteil
Warum ist der Anteil an ausländischen Angestellten in bestimmten Unternehmen und Berufsgruppen so viel höher als in anderen? Warum ist es so schwierig, Schweizer/innen zu finden, um die Stellen der Fahrdienstleitenden oder Lokführer/innen zu besetzen; und warum sucht die SBB vor allem in den Nachbarländern Deutschland und Frankreich aktiv nach Zugbegleiter/innen, Fahrdienstleitenden oder Lokpersonal? «Historische Zusammenhänge lassen sich erklären durch die Nähe der TPG zu Frankreich und die sehr gut ausgebildete Genfer Bevölkerung, in der sich nicht mehr genügend Fahrer/innen finden. Alle beschwerlichen Jobs sind hauptsächlich durch Grenzgänger/innen besetzt», erklärt Valérie Solano, die für die TPG zuständige SEV-Gewerkschaftssekretärin.
Eine weitere Erklärung ist, dass der öV keine Traumberufe mehr zu bieten hat. «Niedrige Löhne, unregelmässige Arbeitszeiten, schwierige Freizeitplanung, Probleme bei der Vereinbarkeit mit dem Familienleben und wenig Aufstiegsmöglichkeiten: Was einst der Traumberuf vieler Kinder war, ist einfach nicht mehr attraktiv für diejenigen, die gerade erst anfangen», erklärte LPV-Zentralpräsident Hans-Ruedi Schürch in dieser Zeitung (Nr. 17/2019). «Früher war der Bahnhofsvorstand angesehen, doch heute wird er nicht mehr wertgeschätzt. Früher wurde alles direkt am Bahnhof erledigt; das hat sich stark verändert. Der SBB fehlt es überall an Personal», analysiert René Zürcher, SEV-Gewerkschaftssekretär, der für die SBB zuständig ist.
Auch der Beruf des Buschauffeurs verliert an Attraktivität und einige Unternehmen haben Schwierigkeiten, Mitarbeitende zu rekrutieren. «Obwohl die GAV Löhne und faire Arbeitsbedingungen garantieren», stellt SEV-Vizepräsident Christian Fankhauser fest, «hat der Beruf des Chauffeurs seine Attraktivität verloren, insbesondere aufgrund der langen Dienstschichten und atypischen Fahrpläne. Es kommt vor, dass man sieben Tage pro Woche und 22 Stunden am Tag verfügbar sein muss–einschliesslich Feiertage. Es wird immer schwieriger, Arbeit und Privatleben in Einklang zu bringen.» Im vergangenen Jahr ergab eine SEV-Umfrage (Nr. 3, 2019) zur Gesundheit von Fahrer/innen im öffentlichen Verkehr, dass die Hälfte von ihnen unter Stress leidet. Schlafstörungen, Appetitverlust und Verdauungsprobleme haben signifikant zugenommen.
All diese negativen Aspekte machen die öV-Berufe weniger attraktiv, trotz bestimmter Fortschritte, die der SEV erwirkt hat–wie die Verringerung der Dienstschichten und die Verbesserung der Fahrpläne. Die fehlende Attraktivität verstärkt die Knappheit, es kommt zu Personalmangel, der die Arbeitszeit noch komplizierter macht und die Gesundheit unserer Kolleg/innen belastet. Der Ausbruch aus diesem Teufelskreis hat für die Gewerkschaft Priorität.
Engpässe begrenzen
Mithilfe von ausländischen Arbeitskräften konnten solche Engpässe überbrückt werden, doch in vielen Bereichen des öffentlichen Verkehrs ist der Mangel weiterhin akut: Es fehlt an Lokführer/innen, Fahrdienstleitenden, Zug- und Rangierpersonal (Nr. 1/2020). Sollte die Schweiz den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte stark einschränken, könnte der in diesen zahlreichen Sektoren bereits bestehende Mangel unser effizientes öV-System erheblich beeinträchtigen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die SBB wird in den nächsten Jahren fast tausend Lokführer/innen benötigen, auch weil viele der Babyboomer-Generation pensioniert werden.
Der Personalmangel könnte auch bald die Busbetriebe treffen. «Wenn meine Generation in den Ruhestand geht, könnte in den nächsten 5 bis 10 Jahren ein Problem entstehen. Die Suche nach jungen Menschen, die bereit sind, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, wird sehr schwierig sein», prognostiziert Gilbert d’Alessandro, VPT-Zentralpräsident. Ein Viertel der Busfahrer/innen ist aktuell zwischen 56 und 65 Jahre alt.
Unverzichtbare Arbeitskräfte
Unsere ausländischen Kolleg/innen nehmen nicht nur diejenigen Jobs an, für die sich nicht mehr genügend Schweizer/innen finden lassen, sondern sie ermöglichen es auch, den in der ganzen Branche vorhandenen Mangel teilweise zu beheben. Dies gilt auch für andere weniger attraktive Berufe mit unregelmässigen Arbeitszeiten, z.B. im Gesundheitsbereich. Als zu Beginn der Coronakrise im März das Risiko bestand, dass Frankreich und Italien ihre Grenzgänger zurückholen könnten, wurde deren Bedeutung einmal mehr ersichtlich, insbesondere für die Krankenhäuser in den Kantonen Tessin und Genf. «Ohne Einwanderer hätten wir die Eisenbahntunnel Gotthard, Simplon und Lötschberg nicht», erinnert sich Giorgio Tuti. Der SEV-Präsident ist auch überzeugt, dass «ohne ausländische Arbeitskräfte der öffentliche Verkehr in der Schweiz nicht funktionieren könnte».
Schweizer Löhne für Arbeit in der Schweiz
Einige Kolleg/innen könnten befürchten, dass die Freizügigkeit die Löhne nach unten drückt. Doch sollten wir uns daran erinnern, dass die in den GAV verankerten Lohnsysteme in der öV-Branche dem Arbeitgeber keine Möglichkeit lassen, das Gehalt nach der Farbe des Passes oder dem Wohnort der Arbeitnehmenden festzusetzen. Für Christian Fankhauser, SEV-Vizepräsident, ist die Forderung der Gewerkschaft klar: « Schweizer Löhne für alle Arbeiten, die in der Schweiz von einem Ausländer oder einem Schweizer ausgeführt werden, egal, ob für ein Schweizer oder ein ausländisches Unternehmen. Dazu müssen GAV in allen Wirtschaftsbereichen verbindlich vorgeschrieben werden.» Die Abschaffung der Begleitmassnahmen im Falle einer Annahme der Initiative wird hingegen nicht dazu beitragen, besser gegen Dumping kämpfen zu können. Es sind die GAV und die damit verbundenen Massnahmen, die Lohnsicherheit garantieren. Das eigentliche Ziel der SVP besteht also vielmehr darin, eine Deregulierung herbeizuführen, die es dann ermöglichen würde, Schweizer und ausländische Arbeitnehmende durch Druck auf die Löhne gegeneinander auszuspielen. Genau dies wollen die Gewerkschaften verhindern, indem sie sich entschieden gegen diese Initiative aussprechen.
Yves Sancey/Übersetzung: Karin Taglang