Zwei Professoren haben untersucht, ob rechtmässig Streikende in der Schweiz genügend geschützt sind
Kompromisssuche beim Kündigungsschutz
Im Auftrag des Bundes haben die Professoren Jean-Philippe Dunand und Pascal Mahon untersucht, ob der Schutz für rechtmässig Streikende im Schweizer Recht den internationalen Normen entspricht. Zuvor hatten sie 2015 eine Studie über den Schutz von Arbeitnehmervertretungen publiziert. Die zweite Studie steht im Zusammenhang mit Klagen an die Internationale Arbeitsorganisation ILO, darunter jene des VPOD nach dem Streik im Spital La Providence und ältere des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.
kontakt.sev: Das Bundesamt für Justiz hat ihre Studie am 22. Juni veröffentlicht. Wann werden Streikende in der Schweiz besser geschützt sein?
Jean-Philippe Dunand: Für alle die ILO betreffenden Fragen gibt es auf Bundesebene eine tripartite Kommission. Sie hat die Studie zur Kenntnis genommen und wird nun dazu Diskussionsseminare organisieren, was eher ungewöhnlich ist. Daran werden ab Januar 2017 auch wir beiden Autoren teilnehmen. Was herauskommt, bleibt abzuwarten.
Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?
J.-P.D.: Die ILO könnte wohl damit leben, wenn die Maximalentschädigung für antigewerkschaftliche Kündigungen von sechs auf zwölf Monatslöhne erhöht würde, um die Arbeitnehmenden besser zu schützen. Die ILO verlangt, dass die Abhaltewirkung der Entschädigung erhöht wird, indem sie für die Unternehmen verteuert wird. Dies wäre ein guter Kompromiss. Verhängt würde die Entschädigung durch einen Richter unter Berücksichtigung aller Umstände. Zwölf Monatslöhne wären die grösstmögliche Sanktion. Diese Reform wird aber zurzeit von den Arbeitgebern bekämpft.
Warum lehnen die Arbeitgeber diese Lösung ab?
Pascal Mahon: Die Arbeitgeber sind der Meinung, dass die geltende Maximalentschädigung von sechs Monatslöhnen genüge. Gegen die vom Bund vorgeschlagenen zwölf Monatslöhne wehren sich vor allem die Kleinunternehmer mit der Begründung, dass solche Entschädigungen für sie kaum verkraftbar wären.
Und wie stehen die Gewerkschaften dazu?
Sie verlangen noch mehr Schutz, indem missbräuchliche Kündigungen aufgehoben und Gekündigte in ihr Unternehmen reintegriert würden. Davon wollen die Arbeitgeber aber nichts wissen. Die ILO findet sechs Monatslöhne als Maximalentschädigung im Vergleich zu den internationalen Standards ungenügend.
Geht es hier um gewerkschaftliche Grundrechte?
P.M.: Ja, die Koalitionsfreiheit steht hier im Widerspruch zur Wirtschafts- und Vertragsfreiheit. Man kann die Arbeitgeber nicht daran hindern, einzustellen und zu kündigen, wen sie wollen.
Was haben Sie dem Bund sonst noch empfohlen?
P.M.: Wir verwiesen zum Beispiel auf die Möglichkeit, den Schutz altersabhängig auszugestalten. Es macht Sinn, die Entschädigung für ältere Mitarbeitende höher anzusetzen als für jüngere, weil es in der Schweiz ab etwa 50 Jahren eindeutig schwieriger wird, eine neue Stelle zu finden. Dies könnte sich aber auch nachteilig auswirken, indem Arbeitgeber Leute entlassen, bevor sie dieses Alter erreichen.
J.-P.D.: Wir haben auch die Idee aufgeworfen, die Rechte der Sozialpartner auszuweiten und so die Sozialpartnerschaft zu stärken. Das schweizerische Recht regelt und beschränkt heute das Verhandlungsrecht in sehr weitgehendem Masse. Ferner haben wir vorgeschlagen, die Arbeitnehmenden auf eine andere Art zu schützen: indem das abschliessende Urteil zu einer missbräuchlichen Kündigung und/oder Diskriminierung von gewerkschaftlich aktiven Mitarbeitenden publiziert werden muss.
Wird es noch lange dauern, bis das Parlament über eine Gesetzesänderung abstimmt? Der SGB hat ja schon 2003 geklagt.
J.-P.D.: Ja, die jetzige Situation könnte noch einige Zeit andauern, falls die Sozialpartner und Politiker keinen befriedigenden Kompromiss finden. Doch die ILO würde dann in der Schweiz erneut intervenieren und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen.
Die ILO intervenierte vor allem nach der VPOD-Klage gegen die Entlassung von Streikenden im Neuenburger Spital La Providence*. Welchen Spielraum hat die ILO in solchen Fällen?
P.M.: Die ILO kann Meinungen abgeben, aber keine Sanktionen aussprechen. Sie kann kein «imperatives Recht» sprechen, sondern nur Empfehlungen abgeben, die nicht formell bindend sind. Darin unterscheidet sich die ILO vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der gegen Länder Urteile ausspricht, die zwingend befolgt werden müssen. Doch hat er dies gegenüber der Schweiz noch nie getan. Die Gewerkschaften prüfen übrigens zurzeit genau, ob sie diesen Weg einschlagen könnten. Eine Klage an den EGMR könnte die Schweiz dazu zwingen, ihr Arbeitsrecht zu ändern. Im Fall La Providence sind die Zivilklagen gegen die Entlassungen noch hängig. Man weiss also noch nicht, ob diese als missbräuchlich verurteilt werden oder nicht.
Wie stellt man fest, ob eine Entlassung missbräuchlich war oder nicht?
P.M.: In den Fällen, die uns hier interessieren, weil sie Streikende und Personalvertreter/innen betreffen, kann eine Entlassung als missbräuchlich eingestuft werden, falls der Streik rechtmässig war. Aber auch in diesem Fall kann eine Entlassung für rechtens befunden werden, weil recht viele Interpretationen möglich sind. Beispielsweise dann, wenn der Arbeitgeber wirtschaftliche Gründe geltend macht. Der Entscheid, ob eine Kündigung missbräuchlich ist oder nicht, ist grundsätzlich immer schwierig. Bei einem unrechtmässigen Streik aber ist klar, dass die Entlassung nicht anfechtbar ist.
In der Schweiz ist oft von Arbeitsfrieden die Rede. Was ist das genau?
P.M.: Im Fall eines Arbeitsfriedens liegt ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) vor, mit dessen Unterzeichnung sich die Arbeitnehmenden dazu verpflichtet haben, keine Streiks durchzuführen wegen Dingen, die im GAV geregelt sind. Wegen anderen Fragen darf aber weiterhin gestreikt werden, ausser wenn im GAV eine absolute Friedenspflicht vereinbart wurde.
Wie stellt man fest, ob ein Streik rechtmässig war oder nicht?
P.M.: Gemäss Artikel 28 der Bundesverfassung ist der Streik das letzte Mittel der Arbeitnehmenden, um sich beim Unternehmen für ihre Klagen Gehör zu verschaffen. Man darf also nur dann streiken, wenn man alle anderen Möglichkeiten, um Verhandlungen zu erwirken, ausgeschöpft hat. Dieser Punkt gibt immer Anlass zu Interpretationen. Weitere Bedingungen für einen rechtmässigen Streik sind, dass ihn eine Gewerkschaft mitträgt (die quasi für die Streikenden bürgt) und dass er verhältnismässig ist (was etwa die Dauer betrifft, dass er gewaltlos bleibt usw.).
Gibt es Länder mit vorbildlichem Arbeitnehmerschutz?
J.-P.D.: Fast alle Länder kennen spezifische Schutzmassnahmen, die aber verschieden sind. Es gibt kein klassisches Vorbild, an das man sich halten könnte. Sicher ist, dass die Schweiz auf diesem Gebiet zu den liberalen Ländern mit einem relativ schwachen Schutz der Angestellten gehört.
P.M.: Italien zum Beispiel kennt einen unterschiedlichen Schutz je nach Grösse des Unternehmens. Wenn eine Produktionseinheit mehr als 15 Angestellte zählt, muss das Unternehmen einen Gekündigten wieder einstellen, falls sich die Kündigung als missbräuchlich herausstellt. Bei kleineren Produktionseinheiten bleibt es bei einer finanziellen Sanktion. Diese Regelung hat dazu geführt, dass Unternehmungen ihre Produktionseinheiten aufgeteilt haben, um Entlassene nicht wieder einstellen zu müssen.
Was genau war Ihr Studienauftrag, und wie ist es dazu gekommen?
J.-P.D.: Man muss wissen, dass seit einigen Jahren der Wille besteht, den Kündigungsschutz im schweizerischen Recht zu verbessern. 2010 hat der Bundesrat eine Vorlage in die Vernehmlassung geschickt, die insbesondere eine Anhebung der maximalen Entschädigung von sechs auf zwölf Monatslöhne vorsah. Die Reaktionen waren aber so kontrovers, dass der Bundesrat die Gesetzesrevision vertagte. Danach hat uns der Bund – genauer, das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und das Bundesamt für Justiz – beauftragt, zu untersuchen, ob das schweizerische Recht mit den internationalen Normen kompatibel ist, wie sie die Schweiz mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte und den ILO-Übereinkommen ratifiziert hat.
Fragen: Henriette Schaffter/Fi
* Das Privatspital La Providence kündigte im September 2012 den kantonalen GAV für subventionierte Spitäler, wie von der Käuferin Genolier gefordert, um die Anstellungsbedingungen zu verschlechtern. Dagegen streikten am 18. September rund 100 von 350 Mitarbeitenden, und am 26. November traten ca. 30 in einen unbefristeten Streik. Am 4. Februar 2013 wurden 22 Streikende fristlos entlassen, weil sie der Aufforderung zur Wiederaufnahme der Arbeit nicht nachkamen.
BIO
Jean-Philippe Dunand hat nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Genf die Anwaltsprüfung und sein Doktorat absolviert. Seine Lehrtätigkeit nahm er 1999 auf; zunächst an der Universität Genf und später an der Universität Neuenburg. Er ist auf römisches Recht, Rechtsgeschichte und auf schweizerisches Arbeitsrecht spezialisiert.
Pascal Mahon hat ebenfalls Rechtswissenschaften studiert und einen Doktortitel erlangt. Seit 1990 lehrt er an den Universitäten Lausanne und Neuenburg. Von 2012 bis 2016 war er Vizerektor der Universität Neuenburg. Seine Spezialisierung ist schweizerisches und vergleichendes Verfassungsrecht.
Die beiden führen das Centre d’étude des relations du travail (CERT) und haben zwei Studien verfasst, die den Schutz von Arbeitnehmervertretern (2015) und den Schutz bei einem rechtmässigen Streik (2016) behandeln. Letztere findet sich auf www.admin.ch.
Auf www.publications-droit.ch kann zudem der von ihnen publizierte «Commentaire du contrat de travail» bestellt werden.