Rück- und Ausblick mit Ulrich Gygi nach siebeneinhalb Jahren an der SBB-Spitze

«Die Vorteile eines integrierten öV-Systems überwiegen klar»

Ulrich Gygi hat Mitte Juni das SBB-Verwaltungsratspräsidium an Monika Ribar übergeben. kontakt.sev sprach mit ihm über seine Entscheide bei der SBB und deren Folgen für das Personal, über die Sozialpartnerschaft, die Zukunft der Bahn und die Lehren, die er aus der Service-public-Initiative zieht.

kontakt.sev: Der Verwaltungsrat fällt strategische Entscheide. Was waren die wichtigsten in Ihrer achtjährigen Amtszeit?

Ulrich Gygi: Die letzte wichtige Entscheidung war die neue Strategie, bei der es darum geht, uns auf eine digitale Zukunft vorzubereiten und darauf, dass das Auto und der Strassenverkehr allgemein mit der technischen Entwicklung neue Vorteile bekommen. Die Fahrzeuge werden immer sauberer, verbrauchen immer weniger Treibstoff und werden einmal selbstfahrend sein. Auf der einen Seite verstärken wir unser Know-how bezüglich Digitalisierung und nehmen neue Chancen wahr, wo es Technologieentwicklung gibt. Auf der anderen Seite wollen wir mit dem Programm Railfit20/30 ganz klar Kosten einsparen. Auch bei Cargo haben wir strategische Entscheide gefällt. Der wichtigste war: Wir setzen auf den Güterverkehr, wir steigen nicht aus. 2013 haben wir erstmals schwarze Zahlen geschrieben. Beim Personenverkehr haben wir in den letzten Jahren drei neue Zugstypen gekauft. Beim Infrastrukturunterhalt sind wir zu einer neuen Bedarfsermittlung nach Anlagekategorien übergegangen, haben dem Bund entsprechend unsere Forderungen gestellt und die Leistungsvereinbarung 17–20 abschliessen können. Weiter haben wir 2011 eine Energiestrategie definiert. Wir haben entschieden, dass die Bahn weiterhin selber Energie produziert und der Austausch mit dem normalen Markt jederzeit möglich ist. Aber seither ist relativ viel passiert in diesem Markt, und jetzt wird man sich im Herbst wieder neu darüber beugen.

Wie haben Sie den grossen Rückstand beim Infrastruktur-Unterhalt entdeckt?

Bei meinem Amtsantritt hat auch gerade der neue Infrastrukturchef Philippe Gauderon angefangen, und er hat erstmals einen Netzzustandsbericht erstellen lassen. Das Ergebnis war: Man hat zu wenig in den Unterhalt investiert, insbesondere im Bereich Fahrbahn. Das Zugsangebot hat massiv zugenommen, z.B. als Folge der Inbetriebnahme der Bahn 2000 im Jahr 2004, während die Unterhaltskredite dem nicht gefolgt sind. Der Rückschluss, man habe den Unterhalt einfach vernachlässigt, wäre falsch. Man musste sich zuerst bewusst werden, wie viel mehr Unterhalt das gestiegene Angebot nötig machte. Das sind komplexe Zusammenhänge. Und die Verhandlungen mit dem Bund, der ja den Unterhalt bezahlt, mussten auch geführt werden, denn auch die Mittel des Bundes sind beschränkt. Darum wäre es ein wenig einfach zu sagen, die neuen Leute haben das entdeckt und die Vorgänger sind nachlässig gewesen. Wir haben relativ viel Kraft darauf verwendet, um den Bund zu überzeugen, dass mehr Mittel für den Unterhalt notwendig sind.

Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi mit CEO Andreas Meyer und Finanzchef Georg Radon an der SBB-Bilanzmedienkonferenz vom 26. März 2015.

Mit Railfit will die SBB gerade auch bei der Infrastruktur viele Stellen abbauen. Aber wenn man weniger Leute hat, wird es doch noch schwieriger, den Rückstand aufzuholen?

Mit RailFit 20/30 will man die Gesamtsystemkosten bis 2020 im Vergleich zum Jahr 2014 um mindestens 550 Mio. Franken reduzieren und beispielsweise auch die Kosten in der Verwaltung senken oder Arbeiten repriorisieren, die man nicht als dringlich beurteilt. Auf der operativen Seite hat man in den letzten Jahren viele Leute eingestellt: Ingenieure haben wir beispielsweise in einer dreistelligen Zahl rekrutiert.

Bei der produktiven Arbeit wollen Sie also keine Stellen abbauen?

Es werden alle Stellen angeschaut. Wo der Verkehr wächst, werden wo notwendig auch Stellen aufgebaut.

Welche Lehren muss die SBB aus der Service-public-Initiative ziehen?

Es ist sicher gut, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass nicht alle Leute in der modernen Welt leben und von der Digitalisierung sprechen, sondern dass es auch Leute gibt, die die traditionellen Services in Anspruch nehmen wollen. Auch für sie müssen wir Lösungen haben und dürfen sie nicht diskriminieren. Das ist ganz wichtig. Für mich fast noch wichtiger ist die Verbundenheit der Bevölkerung mit den Service-public-Betrieben: Diese waren bisher in der Schweiz so etwas wie Ikonen, beliebt, galten als das Rückgrat der Schweiz. Doch aus der Initiative muss man interpretieren, dass diese Verbundenheit mit den Service-public-Betrieben ein wenig verloren gegangen ist. Viele nehmen uns heute als Organisationen wahr, die wie die Privatwirtschaft rein gewinnorientiert handeln und die Tarife kontinuierlich erhöhen. Dem müssen wir entgegenwirken, indem wir noch besser erklären, warum wir welche Massnahme umsetzen. Die SBB hat nur 50% Kostendeckung und muss auch betriebswirtschaftlich handeln. Wir müssen harte Entscheide treffen, damit wir finanziell im Gleichgewicht bleiben, müssen das aber gut erklären.

Bestimmt muss man auch beim CEO-Lohn ansetzen?

Die Lohnfrage ist jetzt politisch gestellt. Das ist eine schwierige Diskussion. Die SBB ist ein komplexes Grossunternehmen, das schwer zu führen ist. Das stellt sehr hohe Ansprüche an die Führung, und das muss auch entsprechend abgegolten werden. Es wäre falsch, sich nur wegen des Lohns mit den zweitbesten Kandidaten zu begnügen und unsere Attraktivität am Arbeitsmarkt einzubüssen. Wir müssen Regelungen definieren, die auf Dauer und für das ganze Management tragfähig sind. Dies ist eine Aufgabe des Verwaltungsrats. Einen politisch lancierten Lohndeckel erachte ich als falsch.

Sie haben beim Wagenladungsverkehr die Kostenoptimierung weitergeführt …

Wir sind im Güterverkehr im Wettbewerb mit der Strasse und haben nur eine Chance, wenn wir bahnaffinen Verkehr fahren – das heisst, viele Güter über eine möglichst grosse Distanz. Und nicht Verkehr, wo uns der Lastwagen zig-mal überlegen ist. Darum haben wir die Zahl der Zustellpunkte ein wenig gestrafft und Kosten gespart, und haben trotzdem praktisch keinen Verkehr verloren. 98% des Verkehrs ist geblieben. Und wenn auf einem Anschlussgleis nur ein Wagen pro drei Tage zuzustellen ist, lohnt sich dieses Rangieren dort nicht. In solchen Fällen braucht es einen kombinierten Verkehr von Strasse und Schiene: Der Lastwagen bringt die Güter zur Bahn, die Bahn transportiert sie über die lange Strecke und nachher werden sie wieder über die Strasse verteilt. Das ist eine zukunftsweisende Produktionsstruktur. SBB Cargo hat 23% Marktanteil am gesamten Güterverkehr in der Schweiz, das ist europaweit eine einmalig hohe Zahl. Was wir aber machen müssen, weil der Strassenverkehr immer produktiver wird: Wir müssen auch nachziehen, wir müssen auch automatisieren, wo wir können.

Heisst das für Sie: bald keine Lokführer mehr?

Daran glaube ich vorläufig nicht, dafür ist das Schweizer Verkehrssystem zu komplex, denn das würde ja bedingen, dass wir auf geschlossenen Systemen fahren, wie das eine U-Bahn machen kann. In ganz ferner Zukunft vielleicht kann man sich das auf einer Teststrecke vorstellen, ist aber derzeit kein Thema für die SBB.

Angesichts der viel tieferen Löhne im Ausland kämpft der SEV dafür, dass auf Schweizer Schienen Schweizer Löhne bezahlt werden müssen. Unterstützen Sie das?

Ich finde es vernünftig, dass man gegen dieses Lohndumping kämpft, und es sind ja Gespräche im Gang zwischen Ihrem Verband, dem Bundesamt für Verkehr und der SBB.

Gibt es Personalanliegen, die Sie besonders bewegt haben?

Ich komme ja von der Post, wo ich auch schon mit den Gewerkschaften zu tun hatte, und bin eigentlich gut gefahren mit der Sozialpartnerschaft, auch wenn es manchmal durchaus hart auf hart gegangen ist. Bei der Bahn habe ich das auch so erlebt. Es ist eine fruchtbare Sozialpartnerschaft, man hat nicht die unsäglichen Streiks wie in Frankreich oder Deutschland. Dem muss man wirklich Sorge tragen. Die Bereitschaft, bei GAV-Verhandlungen zu einem Abschluss zu kommen, der für beide Seiten tragbar ist, finde ich sehr positiv. Ich danke der Gewerkschaft und dem Bahnpersonal für diese Arbeit. Was mich auch positiv berührt hat, ist der Einsatz der Gewerkschaft für das Temporärpersonal. Die SBB ist in gewissen Bereichen auf Temporärpersonal angewiesen, um im Wettbewerb zu bestehen. Aber dass man nach einer bestimmten Dauer temporäre Anstellungen in Festanstellungen überführt, das wird bei der SBB von Arbeitgeberseite unterstützt.

Was haben Sie bei der SBB eingebracht, weil Sie Sozialdemokrat sind?

Ich fälle Entscheide nicht nach einem Parteibuch, habe aber ein grosses Verständnis für Arbeitsbedingungen und für Klagen von ungerecht behandelten Mitarbeitenden. Das kommt aus meinem Inneren heraus. Auf der anderen Seite war ich als Verwaltungsratspräsident natürlich auch verantwortlich fürs Management. Ich versuchte da einen vernünftigen Mittelweg zu gehen.

Was würden Sie neu anpacken, wenn Sie weitere vier Jahre VR-Präsident wären?

Die Zukunft der SBB sollen jetzt andere gestalten. Was mir aber vor allem am Herzen liegt, ist der einfache Zugang zum öffentlichen Verkehr. Dass man also den Swisspass zu einer Art Zugangskarte entwickelt, mit der jeder einfach in den Zug steigen kann, ohne sich um ein Ticket oder Tarife zu kümmern. Ich kann mir auch eine Art Prepaid Card vorstellen, die mittels einer Kreditkarte einfach aufgeladen werden kann. Dieser einfache Zugang ist etwas, das ich noch mehr pushen würde, denn drei geniale Dinge gehören zu den Eckpunkten des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz. Den Taktfahrplan und den direkten Verkehr mit nur einem Billett haben wir umgesetzt. Was noch fehlt ist der einfache Zugang. Wenn wir das geschafft haben, sind wir wettbewerbsfähig, dann nutzen noch viel mehr Leute den öV.

Stehen diese drei Punkte nicht im Widerspruch zur kompletten Liberalisierung des Personenverkehrs?

Ausgangspunkt der Ideen der EU ist ein Eisenbahnnetz und darauf fahren x Bahnen in Konkurrenz. Von dem halte ich für die Schweiz gar nichts. Wenn schon Wettbewerb, dann muss man das über andere Kanäle machen. Auch der Swisspass eignet sich dafür wenig, da sich ja alle Bahnen daran beteiligen müssen, wenn er die volle Wirkung erzielen soll. Da bleibt im Gegensatz zum Ausland wenig Spielraum für Wettbewerb. Die Vorteile eines integrierten öV-Systems überwiegen klar.

Markus Fischer

BIO

Ulrich Gygi wird am 6. Dezember 70-jährig. Er wuchs in Kappelen BE auf, studierte 1966 bis 1971 Wirtschaftswissenschaften, war Assistent am Betriebswirtschaftlichen Institut der Universität Bern und promovierte 1980 zum Dr. rer. pol. 1979 bis 2000 Mitarbeit in der Eidgenössischen Finanzverwaltung und im Bundesamt für Organisation, ab 1989 Direktor der Eidg. Finanzverwaltung. 2000 bis 2009 Konzernleiter der Post. Ab 1. Januar 2009 bis 15. Juni 2016 VR-Präsident der SBB. Er ist weiterhin Verwaltungsrat bei der SRG und der Genfer Bank BNP Paribas Suisse. Mitglied der SP. Mit seiner Partnerin wohnt er in Muri bei Bern und hat zwei erwachsene Kinder. Hobbys: Lesen, Musik (Saxophon), Biken, Joggen, Wandern, Skifahren.