1911 hielten die Eidg. Räte im Obligationenrecht fest, dass die Sozialpartner Gesamtarbeitsverträge aushandeln können.
Hundert Jahre Gesamtarbeitsverträge
In den letzten hundert Jahren haben die GAV wesentlich dazu beigetragen, die Arbeitsbedingungen der Angestellten im privaten Sektor zu verbessern. Mit der Abschaffung des Beamtenstatus haben die GAV nach der Jahrtausendwende auch im öffentlichen Dienst Einzug gehalten.
Am heutigen 24. November findet in Bern eine Tagung zum 100-Jahr-Jubiläum der GAV in der Schweiz statt, organisiert vom Schweizerischen Arbeitgeberverband, vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund und Travail.Suisse. Angemeldet ist auch Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Ziel der Veranstaltung ist, in Erinnerung zu rufen, wie wichtig die GAV für die Verteidigung der Rechte der Arbeitnehmenden und die Regulierung des Arbeitsmarktes sind. Genau genommen erfand der Gesetzgeber das Rad nicht neu, als er 1911 im Obligationenrecht den Sozialpartnern das Recht einräumte, GAV auszuhandeln. Denn bereits in den Jahrzehnten zuvor hatten in der Schweiz Arbeitgeber( verbände) und Gewerkschaften Vereinbarungen zur Reglementierung der Arbeitsbedingungen getroffen.
GAV-unterstellte Arbeitnehmende in der Schweiz 1992–2009. In der Krise der 90er-Jahre sank ihre Zahl um über 13 %.
Ein Instrument zur Harmonisierung der Arbeitsbedingungen
Rechtlich verankert sind die GAV in erster Linie in den Artikeln 356 bis 358 des Schweizerischen Obligationenrechts. Weitere Vorschriften finden sich in folgenden Rechtstexten:
- Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen;
- Bundesgesetz über die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (gehört zu den flankierenden Massnahmen zum Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU);
- Bundesgesetz über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih: es dehnt die Lohnund Arbeitszeitbestimmungen allgemeinverbindlich erklärter GAV auf Temporärpersonal aus;
- Rechtstexte, welche die Vergabe öffentlicher Aufträge regeln und diese nur an Auftragnehmer zulassen, welche die orts- und branchenüblichen Arbeitsbedingungen einhalten. Zudem gibt der Bundesverfassungsartikel 110 dem Bund die Kompetenz, Vorschriften betreffend GAV und deren Allgemeinverbindlicherklärung zu erlassen. Und Artikel 28 sichert den Arbeitnehmenden das Recht zu, sich gewerkschaftlich zu organisieren und zu streiken.
Was ein GAV enthält
Ein GAV regelt Dinge, die durch gesetzliche Normen nicht oder nur lückenhaft geregelt sind. Dabei geht es um Lohn; Lohnzahlung bei Krankheit, Unfall, Mutterschaft, Militärdienst usw.; Urlaub für Weiterbildung, Gewerkschaftsarbeit und Vaterschaft; Zulagen und Vergütungen; Arbeitszeit; Ferien und Freitage; Auflösung des Arbeitsverhältnisses; Sozialplan und betriebliche Mitwirkung.
Ein GAV wird von den vertragsschliessenden Parteien (Arbeitgeber und Gewerkschaft) für eine bestimmte Laufzeit abgeschlossen.
AC / Fi
«Erste, bescheidene GAV entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts », liest man im Historische Lexikon der Schweiz, «so 1850 für die Genfer Typografen. Ebenfalls zu den Pionieren gehörten Uhrenarbeiter, in geringerem Masse auch Schreiner und Schuhmacher. Beide Seiten hielten sich lange zurück: Die Gewerkschaften, weil sie ihre Bewegungsfreiheit nicht verlieren wollten, die Arbeitgeber, weil sie auf dem Standpunkt beharrten, «Herr im Haus» zu sein. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts breiteten sich die GAV hauptsächlich als Folge der Streikwelle in den Jahren 1905–07 aus, u.a. wurden erste Landesverträge (Maschinensetzer 1906, Typografen 1907) abgeschlossen. 1910-12 zählte der Schweiz. Gewerkschaftsbund 412 GAV mit rund 45 000 Arbeitern, vor allem Uhren-, Metall- und Holzarbeiter sowie Typografen und Schneider. Damit gehörte die Schweiz nicht zu den Pionierländern. (...) Der Durchbruch erfolgte erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, v.a. nachdem die Chemie als erste Exportindustrie Anfang 1945 den Widerstand gegen den GAV aufgegeben hatte.»
GAV machen Boden gut
Danach stieg die Zahl der GAV-unterstellten Arbeitnehmenden laufend. 1992 waren es 1,402 Millionen, dann sank die Zahl infolge der Wirtschaftskrise auf 1,214 Millionen im Jahr 1996. Doch in den letzten 15 Jahren haben die GAV wieder Boden gut gemacht. Die neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik weisen für 2009 1,682 Millionen GAV-Unterstellte aus. Wirtschaftsprofessor Daniel Oesch, der an der Tagung über die Bedeutung der GAV für die Sozialpartnerschaft und die Regulierung des Arbeitsmarktes referiert, nennt für das wiedererstarkte Interesse an den GAV drei Gründe:
- Seit der Abschaffung des Beamtenstatus beim Bund und in den meisten Kantonen werden nun auch im öffentlichen Bereich GAV ausgehandelt.
- Seit 15 Jahren investieren die Gewerkschaften mehr Mittel in die Organisation des privaten tertiären Sektors (Verkauf, Sicherheitsdienste).
- Die Einführung der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union hat die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften dazu veranlasst, Schutzmassnahmen gegen die verschiedenen Formen von Dumping zu ergreifen.
Alberto Cherubini / Fi