Welche Rolle spielt die Schifffahrt in der Schweiz?
Der Transport auf den Seen ist ein Service public wie jeder andere
Die Seen, und damit auch die Schifffahrt, gehören zum Bild, das man sich von der Schweiz macht, besonders im Ausland. Aber die Mehrheit der Schifffahrtsgesellschaften hat Mühe, ohne Unterstützung der öffentlichen Hand zu überleben. Das Wetter hat einen grossen Einfluss auf den Geschäftsgang, was die Unternehmen äusserst verwundbar macht. Gewiss gibt es so viele unterschiedliche Situationen, wie es in unserem Land Seen gibt, aber die Unterstützung der Schifffahrt ist eine nationale Frage. Muss eine billige und leistungsfähige, für alle zugängliche Schifffahrt unterhalten werden? Welches ist genau ihre Aufgabe? Von der Antwort auf diese Fragen hängt die Zukunft gewisser Schifffahrtsunternehmen ab.
Seit dem Ersten Weltkrieg konnten die Schifffahrtsunternehmen auf eine gewisse Unterstützung durch die öffentliche Hand zählen, die allerdings in unterschiedlicher Art und unter verschiedensten Titeln geführt wurde (Investitionshilfe, Abfindung von Linien, Abfindung touristischer Linien, Defizitgarantien). Die angespannte Lage vieler öffentlicher Haushalte hat einen grossen Einfluss auf die Schifffahrt, weil die Politiker/innen nicht zögern, bei den Geldern, die ihr zugedacht sind, zu sparen.
Kaum Unterstützung durch den Bund
Bei der letzten Revision des Eisenbahngesetzes im Jahr 1996 wurde die Schifffahrt an den Rand gedrängt und künftig können nur Linien, die im juristischen Sinn öffentliche Leistungen erbringen, Unterstützung erlangen. Es gibt in der Schweiz nur vier Linien, die die entsprechenden Kriterien erfüllen: Luzern–Vitznau–Beckenried, Cudrefin–Portalban, Lausanne– Evian und Romanshorn– Friedrichshafen. Alle anderen Linien werden auf Bundesebene als rein touristische Linien angesehen. Alle Transportmittel wurden früher als Einheit gesehen und die Defizite von der öffentlichen Hand getragen. Seit 1996 werden dagegen alle Transportmittel unabhängig voneinander genommen und die Schifffahrt hat die Unterstützung der Eidgenossenschaft verloren. Die Branche muss deshalb nach anderen Wegen suchen, was häufig einer Übertragung der Aufgaben an Städte und Kantone gleichkommt.
Trotzdem nennt Konrad Eberle, der Präsident des Verbandes Schweizerischer Schifffahrtsunternehmen VSSU, dem 16 Schifffahrtsgesellschaften angehören, zahlreiche Gemeinsamkeiten von Schifffahrt und öffentlichem Verkehr im traditionellen Sinn, also etwa der SBB: Kundschaft, Fahrplan und Preise ähneln jenen bei der Eisenbahn. Die Schifffahrtsunternehmen sind glücklicherweise in ihrer jeweiligen Region sehr gut verankert. Der Wert der Binnenschifffahrt ist so gross, dass gewisse Städte und Kantone ihre Gesellschaften stark verteidigen. Die Kantone Schaffhausen und Thurgau haben entschieden, die Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein (URh) aus touristischen Gründen zu unterstützen. Der Schaffhauser Regierungsrat Reto Dubach unterstreicht, dass «die Unterstützung der Not leidenden Gesellschaft im Dezember 2009 oppositionslos angenommen wurde, da die Schifffahrt auf dem Untersee und dem Rhein eines der Hauptangebote im Tourismus- und Freizeitbereich des Kantons» sei. Es handelt sich um Image-, Kultur- und Gefühlseffekte, wie sie Dr. Jürg Meister, Berater im Transport- und Logistikbereich, in einer Studie im Auftrag des VSSU auflistet. Er unterstreicht in seinem Bericht die Auswirkungen der Schifffahrt vor allem im wirtschaftlichen, steuerlichen und touristischen Bereich, die die Schweizer Politiker nicht ausser Acht lassen sollten, handelt es sich doch um Beträge von mehr als 300 Millionen Franken.
Diversifikation
Mehrere Gesellschaften versuchen sich mit neuen Angeboten mit touristischem Mehrwert buchstäblich über Wasser zu halten. Fondueund andere Themenschiffe erlauben es, die Rezepte zu verbessern und das Angebot anzureichern. Auf dem Neuenburgersee hat die Gesellschaft LNM kürzlich den Velo- Gratistransport eingeführt und macht im grossen Stil Werbung für ihre Produkte wie Basteln mit Kindern, Zigarrenrundfahrt, Coiffeur- Schiff, Abendmusik für Senioren etc. Dies erlaubt es auch, das Image der Gesellschaft aufzufrischen. Die Schifffahrtsunternehmen sind ein wichtiges Tourismuselement, wie Konrad Eberle sagt. Sie haben oft die Funktion einer Lokomotive und ergreifen die Initiative, führen Tourismuskampagnen und setzen sich für die Region ein, was bei Hotels, Restaurants und andern privaten Anbietern nicht der Fall ist. Er unterstreicht auch, dass sich die Unterstützung dieses Erbes genauso auszahle wie jene von Veranstaltungen wie Theatern oder Jazzfestivals. Das mit den Schiffen verbundene Fachwissen (Schiffsbau, -Renovation, Arbeiten auf dem Wasser) sollte seiner Meinung nach ebenfalls erhalten bleiben.
Vor allem Transportmittel
Hier stellt sich die Frage, ob die Schifffahrt auch als Transportmittel, das einem die Fahrt von A nach B erlaubt, wie es Zug, Tram, Flugzeug oder Bus tun, eine Zukunft hat. Laut SEV-Sekretär Olivier Barraud kann man von einem touristischen öffentlichen Verkehr sprechen. Man will den Leuten eine Fortbewegungsmöglichkeit zu erschwinglichen Preisen geben. Dies gehört auch zum Geist der «sanften Mobilität». Es geht also um touristische Fahrten, aber um Fahrten, die auf jeden Fall, sei es mit dem Zug oder dem Auto, unternommen worden wären. Konkretes Beispiel: Eine Familie aus Lausanne will das Schloss Chillon besuchen. Sie kann mit dem Zug oder dem Auto nach Chillon fahren oder das Schiff nehmen. Eine solche Linie gehört für Olivier Barraud zum «touristischen öffentlichen Verkehr». Und er betont die Wichtigkeit vernünftiger Preise. «Gegenwärtig sind sie das. Es ist wichtig, dass es so bleibt.» Ein Ehepaar mit zwei Kindern zahlt für diese Fahrt 126 Franken (hin und zurück, voller Preis, zweite Klasse). Würden sie von Lausanne auf den Rochers-de-Naye fahren, würden sie 224.80 für die gleiche Fahrzeit bezahlen.
Für Oliver Barraud müssen die Preise wie die Fahrpläne attraktiv bleiben. Dass die Schiffsfahrpläne ins nationale Transportnetz eingebunden sind und dass die Abonnemente gültig sind, ist ebenfalls wichtig. Diese Verbindung sei zumindest in Europa einmalig, sagt Konrad Eberle. In Deutschland sind die Unternehmen privat und fahren nach ausgedünnten Fahrplänen mit höheren Preisen. In Österreich sind die Schiffe nicht ins Fahrkartensystem von Bus und Bahn eingebunden.
Unterstützung ist Aufgabe der Öffentlichkeit
Es wäre also an den Kantonen und Städten, die Schifffahrtsunternehmen zu unterstützen, wenn diese als notwendig erachtet werden, vor allem weil auf gewissen Seen eine Eigenfinanzierung schwierig ist. Nicht alle Unternehmen haben das Glück, auf Seen mit hohem touristischem Potenzial wie etwa dem Vierwaldstättersee zu fahren. Jeder Kanton muss daher seine Lösung finden, um die Schifffahrt auf seinen Seen zu erhalten. Der Kanton Bern hat sich beispielsweise Ende 2008 länger mit dieser Frage beschäftigt. Die Situation der bernischen Unternehmen ist schwierig, aber der Regierungsrat fand, dass «die Unterstützung touristischer Angebote mittels jährlicher Betriebssubventionen keine Aufgabe des Kantons sein könne», auch wenn «die Schifffahrt auf bernischen Gewässern ein touristisches Angebot» sei. Zum Ausgleich wurde die Ausschüttung von Investitionssubventionen à fonds perdu beschlossen, weil es – immer laut dem Regierungsrat – zu den Aufgaben der öffentlichen Hand gehöre, für gute Bedingungen zu sorgen, damit die Schifffahrtsunternehmungen die finanzielle Selbstständigkeit erreichen könnten. Es handelt sich also um eine Hilfe auf längere Zeit. Die Stadt Biel hat ihrerseits laut Konrad Eberle «in letzter Minute» entschieden, die Bielersee-Schifffahrtsgesellschaft BSG zu retten. Was wäre passiert, wenn die Politiker/innen am Ende diese Entscheidung nicht getroffen hätten? «Es wäre ein Unternehmen neuer Art entstanden mit strikter Gewinnorientierung, also mit einem reduzierten Angebot, weniger Personal und weniger Schiffen.» Genau dies fürchten die Mitglieder des des SEV. Im Ausland gibt es entsprechende Beispiele. Die Dampfschifffahrt auf der Donau wurde privatisiert, weil die Politiker/innen fanden, es gebe genügend Busse und Züge, um den Transport zu gewährleisten. Die neue Gesellschaft «DDSG Blue Danube Schiffahrt GmbH» betreibt nur noch die rentablen Linien. Das Angebot wurde entsprechend drastisch zusammengestrichen.
Auch die «Basler Personenschifffahrt BPG» war in Schieflage geraten und sollte an private Investoren verkauft werden, als sich die Behörden schliesslich doch noch entschlossen, sie nicht zu veräussern. In den Kantonen Zug, Zürich, Schaffhausen und Thurgau geht man den Weg der Leistungsvereinbarung. Die Kantone definieren den gewünschten Fahrplan und die Linien und bezahlen das dafür fehlende Geld. Man verhandelt wie beim Regionalverkehr. Auf dem Genfersee haben die drei betroffenen Kantone Genf, Waadt und Wallis bisher jährlich das der «Compagnie générale de navigation sur le Lac Léman» CGN zustehende Budget ausgehandelt, was allerdings viel Zeit und Energie beansprucht. Auf dem Lago Maggiore ist es gleich, wobei Italien das Defizit deckt.
Sanfte Mobilität
Wenn gegenwärtig die sanfte Mobilität und die Sicherung des touristischen Erbes propagiert werden, sind die Politiker/ innen einig über die wichtige Rolle der Schweizer Schifffahrt. Aber oft greifen sie erst im letzten Moment ein, um Schifffahrtsunternehmen, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind, zu retten. Gefragt wären eine Vereinheitlichung der Praxis und ein längerfristigeres Finanzierungsmodell.
Henriette Schaffter / pan.