Schienengüterverkehr
Fret SNCF: letzte Chance vor der Liquidation
Französische Eisenbahner:innen führten am 21. November einen Warnstreik durch und kündigten für den 11. Dezember einen verlängerbaren Streik an. Sie sehen darin die letzte Chance, die drohende Zerschlagung und Privatisierung der SNCF-Gütertochter aufzuhalten. Diese Entwicklung ist auch aus Schweizer Sicht alarmierend.
Auf dem Rangierbahnhof von Sotteville-lès-Rouen (Seine-Maritime) wachsen zwischen Lokomotivgerippen Bäume. In dieser Gemeinde ist der Bähnler Stéphane Lachèvre aufgewachsen. Genau wie seine Eltern vor ihm. Die SNCF war der grösste Arbeitgeber für die 30'000 Einwohner:innen dieses Vororts von Rouen, nicht weit von Le Havre entfernt. Doch der Rangierbahnhof wurde 2010 geschlossen. «Ein Schock», erzählt der Lokführer. Seitdem ist der Rangierbahnhof von Sotteville «ein Lokfriedhof» geworden – für Züge, die am Ende ihrer Lebensdauer angelangt sind, aber auch für Züge in noch gutem Zustand, die die SNCF mangels ausreichender Transportaufträge nicht mehr braucht.
Viele Rangierbahnhöfe in Frankreich verkörpern diesen Niedergang des Schienengüterverkehrs. Dafür hatte die SNCF lange das Monopol, doch in den letzten Jahren ist er schrittweise zugunsten des Wettbewerbs geöffnet worden. Und nun holt der Staat zum Todesstoss aus: Die SNCF-Gütertochter, die heute mit 4500 Mitarbeitenden noch die Hälfte des Bahngüterverkehrs in Frankreich fährt, wird per 31. Dezember abgewickelt.
In die Privatwirtschaft – ohne Garantien
Nach 28 Jahren treuer Dienste wird Stéphane Lachèvre für Fret SNCF keine Loks mehr führen. Ab dem 1. Januar 2025 werden er und seine 4500 Kolleg:innen automatisch in zwei neue Tochtergesellschaften überführt: 4000 kommen zu Hexafret, die sich dem Güterverkehr widmet, und 500 zu Technis, die sich um die Wartung von Lokomotiven kümmert. Für die Betroffenen ein Tauchgang ins Ungewisse. 15 Monate lang sollen ihre bisherigen Anstellungsbedingungen gleichbleiben, aber danach gibt es keine Garantien. Am 21. November führten die Gewerkschaften CGT, Unsa, Sud und CFDT einen Warnstreik durch in der Hoffnung, die Liquidation von Fret SNCF zu stoppen. Doch die Regierung und die SNCF-Direktion gingen auf ihre Forderungen nicht ein. Deswegen drohen die Gewerkschaften nun mit einem verlängerbaren Streik ab dem Abend des 11. Dezember. Ein Ultimatum.
Forderung nach einem Moratorium
Die Gewerkschaften fordern vor allem ein Moratorium für das Verfahren zur Auflösung von Fret SNCF, zudem ein Gesetz zur mehrjährigen Investitionsplanung für die Bahninfrastruktur und eine Debatte im Parlament über die Zukunft von Fret SNCF. Die Regierung beteuert, lediglich auf Vorgaben der EU zu reagieren. Blick zurück: Im Januar 2023 kündigte die Europäische Kommission die Einleitung einer Untersuchung gegen den französischen Staat an wegen des Verdachts, dass er zwischen 2005 und 2019 unzulässige und nicht wettbewerbskonforme staatliche Beihilfen an Fret SNCF bezahlt habe. Die fraglichen Beihilfen, die allenfalls von Fret SNCF zurückerstattet werden müssen, belaufen sich auf 5 Milliarden Euro. Um diese hohe Rechnung nicht bezahlen zu müssen, kündigte im Mai 2023 der damalige Verkehrsminister Clément Beaune die künftige Aufteilung von Fret SNCF in zwei privatisierte Tochtergesellschaften an.
Für Julien Troccaz von Sud Rail ist das «politische Feigheit ». Die Schlussfolgerungen der EU-Untersuchung seien noch gar nicht bekannt, und wenn sie mal vorlägen, bleibe noch genug Zeit, um die Rückzahlungsforderungen anzufechten, falls wirklich solche gestellt würden, betonen die Gewerkschaften. Dies gelte umso mehr, als die wirtschaftliche Tragfähigkeit des Modells mit zwei privatisierten Tochtergesellschaften fragwürdig sei. Zudem hat sich mit einem Wechsel in der EU-Kommission eine Tür geöffnet: Seit dem 1. Dezember ist die Sozialistin Teresa Ribera, die seit 2018 als Umweltministerin in der spanischen Regierung den ökologischen Wandel vorangetrieben hat, die neue EU-Kommissarin für Wettbewerb und als «Exekutiv-Vizepräsidentin für einen sauberen, fairen und wettbewerbsfähigen Übergang» in der EU-Kommission die Hauptverantwortliche für den europäischen Green Deal. Die Gewerkschaften sind der Ansicht, dass die französische Regierung mit ihr über einen Kurswechsel verhandeln könnte.
Die Ungewissheit über das nächste Jahr führe zu dem «Gefühl, dass alle im Stich gelassen werden», sagt Mikaël Meusnier, der seit über 20 Jahren Güterzüge führt und CGT-Gewerkschaftssekretär in Perpignan ist.
«Die älteren Eisenbahner denken, dass alles, was mit Fret SNCF gemacht wurde, ein Versuchslabor für das ist, was auch in den anderen Bereichen kommen soll», sagt Sébastien Mourgues, Zugbegleiter und Generalsekretär der CGT-Bahnbranche im Languedoc-Roussillon.
Maïa Courtois, «Basta !», Artikel unter https://urlz.fr/tiG2, bearbeitet von Yves Sancey
Staatliche Beihilfen in der Schweiz
«In der Schweiz praktizierte und vorgesehene Fördermittel zur Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene sollten und dürfen bei Übernahme des EU-Rechtes unter Druck geraten», sagt Gewerkschaftssekretär Philipp Hadorn, der bei SEV für das Dossier Cargo zuständig ist. «Sollte es anderslautende Interpretationen geben, gilt es dies vor Übernahme zu klären.» Zudem droht dem Schienengüterverkehr in der Schweiz auch durch die Reorganisation «G-enesis» bei SBB Cargo ein unverantwortbarer Abbau von Transportleistungen und Stellen. Der willfährige Vorschlag der Gruppe Gaillard, auf geplante zusätzliche Güterverkehrsförderung zu verzichten, ver-kennt übergeordnete Ziele in Sachen Klima und Verkehrspolitik. Doch im Parlament zeichnen sich Mehrheiten ab, die die gesellschaftliche und ökologische Bedeutung der Fördermittel für den Schienengüterverkehr anerkennen. ysa