1. Mai 2020
Stark mit der Gewerkschaft
Der erste Mai 2020 war fast ausschliesslich virtuell – und bot doch einige Überraschungen. SEV-Präsident Giorgio Tuti blickt zurück.
«Nach all den Jahren als Aktivist in der Gewerkschaftsbewegung hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich jemals einen 1. Mai fernab der Strassen erleben würde.» So kommentiert Giorgio Tuti, Präsident des SEV sowie der Eisenbahnersektion der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF), den speziellen Tag der Arbeit von 2020.
Dieser spielte sich dieses Jahr vor allem digital ab; es gab keine grossen Aktionen auf der Strasse. «Der erste Mai ist sonst immer die beste Gelegenheit, andere Aktivisten und Kolleginnen zu treffen», findet der SEV-Präsident. «Doch dieses Jahr mussten wir neue Wege finden, um unsere Verbundenheit mit der Arbeiterschaft zu zeigen. Die Coronavirus-Pandemie hat das Leben hunderter Familien, älterer Menschen, Frauen und Männer auf den Kopf gestellt. Viele haben ihre Stelle verloren oder sind auf Kurzarbeit und leben in grosser Unsicherheit. In einer solchen Situation muss die Gewerkschaftsbewegung erst recht für die Leute da sein und sich auf allen Ebenen für den Schutz der Grundrechte engagieren.»
Deshalb haben Giorgio Tuti wie auch der SEV den Kontakt zur Basis seit Beginn der Coronakrise immer aufrechterhalten – dank den erweiterten digitalen Kommunikationskanälen.
Der gesundheitliche Notstand hat die Realität unseres Wirtschaftssystems entlarvt: Seine Mechanismen generieren Profite für Wenige und Ungleichheit für Viele. Gleichzeitig zeigte die Krise unmissverständlich, wie wichtig der Service public ist, den die Liberalen so oft nur als unnötigen Ballast bezeichnen. «Die Angestellten im öffentlichen Dienst, besonders das Gesundheits- und Verkehrspersonal und Lehrpersonen, verdienen nicht nur unseren Applaus, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen», betont Giorgio Tuti. «Arbeit und Service public halten unser Land zusammen. Dass dies absolut zentral ist, hat die Coronakrise eindeutig bewiesen.» Der Service public muss also gestärkt und verbessert werden muss. Der Weg aus der Krise ist lang, und den Zusammenhalt der Bevölkerung zu garantieren, wird eine grosse Herausforderung.
Welche Erinnerungen von diesem 1. Mai werden Giorgio im Gedächtnis bleiben? «Es war das erste Mal in 130 Jahren, dass keine Demonstrationen stattfanden. Doch ich werde mich nicht nur an die aussergewöhnliche Situation erinnern, sondern auch an unseren 97-jährigen Aktivisten, der zusammen mit seinem Freund ruhig eine SEV-Fahne durch die Strassen von Bern trug», erzählt Giorgio Tuti mit Stolz. «Als ihn die Polizei anhielt, weil die Fahne andere Menschen hätte anziehen können, erklärte er dem Polizisten, dass er immer am 1. Mai an der Demo teilnehme und dass er für nichts auf der Welt darauf verzichten wollte, mit der Fahne seiner Gewerkschaft auf die Strasse zu gehen.»
Helden findet man oft im Alltag: Es sind diejenigen, die nicht aufgeben, die es geschafft haben, die sich für andere eingesetzt haben. Moritz Rapp und sein Freund Walter Hubschmid, so heissen die beiden Berner Aktivisten, sind solche Helden. Sie wurden am Montag von Giorgio Tuti in Bern empfangen – dem Präsidenten der Gewerkschaft, deren Fahne sie, koste es was es wolle, durch Bern tragen wollten.
Françoise Gehring/Übersetzung: Karin Taglang
Der etwas andere 1. Mai-Umzug
Moritz Rapp und Walter Hubschmid waren wohl ziemlich überrascht darüber, was ihr «Spaziergang» am 1. Mai durch Bern ausgelöst hat. Auch wenn der alljährliche Umzug abgesagt werden musste, wollten die beiden ihr 85. respektive 60. Mal auf die Strasse gehen. Als sie von der Polizei angehalten wurden, waren sie aber sehr kooperativ. Walter Hubschmid präzisiert gegenüber dem SEV: «Wir haben der Polizei gesagt, dass sie richtig handelt. Wir wollten keine Versammlung anzetteln. Wir Gewerkschafter wollen sicher keinen Schaden anrichten.»
Bei der Demonstration spielte denn auch der Solidaritätsgedanke eine grosse Rolle, wie Walter betont: «Ich ging auch auf die Strasse für die vielen Arbeitnehmenden , die aktuell sehr gefragt sind, wie das Reinigungspersonal. Denn mir ist aufgefallen, wie sauber die Busse und Züge sind. Da wird oft geputzt.»
Und Moritz Rapp fügt an: «Schon als 12-Jähriger begleitete ich meinen Vater, einen aktiven Gewerkschafter, an den 1. Mai-Umzug. Und seit 1947 bin ich selber Mitglied im SEV, einer Gewerkschaft, die viel erreicht hat. Denn Verbesserungen erzielt man nur mit einer Gewerkschaft, der oder die Einzelne kann meistens nicht sehr viel bewirken.»
Kommentare
Daniel 18/05/2020 15:16:14
Ich finde es nicht richtig, wenn unsere Führung des SEV diese Demonstration obwohl verboten für gut heisst. Immerhin macht man diese Verbote, um solche Risikogruppen zu schützen.