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Der Lokführerfehler allein hätte nicht zum Zusammenstoss führen dürfen

Die SBB hat das Unglück von Granges-Marnand mitverursacht

Der Lokführer, der 2013 die Zugkollision in Granges-Marnand durch Abfahren bei Rot verursacht hat, ist am 31. Oktober zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt worden. Auf die Anklagebank hätte aber auch das SBB-Management gehört, weil es das Unglück durch Sparmassnahmen und Inkaufnahme von Sicherheitslücken mitverursacht hat.

Der Fahrdienstleiter hätte die Kollision verhindern können, wenn er von der SBB für das Abschalten der Fahrleitung klar instruiert und ausgebildet worden wäre. (Foto: Sust-Bericht/Kantonspolizei VD)

Das Regionalgericht in Yverdon sprach den Lokführer der fahrlässigen Tötung schuldig, anerkannte aber entlastende Punkte: im Dienstfahrplan der Lokführer sind Kreuzungsstellen nicht mehr enthalten, die Zugabfertigung wird nicht mehr doppelt kontrolliert und das Lokpersonal steht unter hohem Druck.

Der erfahrene Lokführer (Jg. 1959) fuhr am 29. Juli 2013 um 18.43 mit seinem Regionalzug bei rotem Signal los, wie die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) in ihrem Bericht schreibt. Sie hält ihm zugute, dass er die Signalfarbe möglicherweise atmosphärisch bedingt nicht gut sah. Den in Gegenrichtung nahenden Regioexpress sah er wegen in der Kurve abgestellter Wagen zuerst nicht, sodass er die Notbremsung zu spät auslöste.

Die Frontalkollision tötete den RE-Lokführer (Jg. 1982) und verletzte 25 Passagiere, davon 6 schwer. Die Staatsanwaltschaft klagte nur den (selber leicht verletzten) Regionalzuglokführer an und stellte die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die SBB ein. Für den SEV ist diese aber mitschuldig, weil sie das Unglück durch Sparmassnahmen möglich machte.

«Trapezkünstler ohne Netz»

Vor Gericht kritisierte der Lokführer den Abbau von Sicherheitsmassnahmen seit Anfang der 2000er Jahre. Nachdem früher noch ein Zugbegleiter als dritter Mann die Abfahrt kontrolliert hatte, fiel später auch die Abfertigung durch den «Statiönler» weg. Seither lag die ganze Verantwortung für die Zugabfahrt allein beim Lokführer, trotz immer mehr Passagieren, immer engerer Fahrpläne und Stress durch Verspätungen (der betroffene Regionalzug hatte in Granges-Marnand 2 Minuten Verspätung) und trotz der Gefahren der Routine.

Ernsthafte Sicherheitslücken

«Mit der Abschaffung der doppelten Kontrolle machte man die Lokführer auf den alten Bahnhöfen ohne moderne Sicherungsanlagen zu Trapezkünstlern ohne Netz», sagt SEV-Gewerkschaftssekretär Jean-Pierre Etique. In Granges-Marnand war das Ausfahrsignal damals nämlich durch kein Zugbeeinflussungssystem (ZUB) gesichert: Ein solches hätte bei Abfahrt bei Rot den Lokführer sofort alarmiert. Im April 2014 wurde auf Empfehlung der Sust ein ZUB eingebaut. Bis dann wurde ab 1. Oktober 2013 die doppelte Kontrolle wieder eingeführt, ebenso auf weiteren Bahnhöfen. Zuvor hatte nach der Divisionalisierung der Personenverkehr SBB in Granges-Marnand und anderswo auf die Zugabfahrtskontrolle durch weiterhin vorhandene Fahrdienstleiter verzichtet, weil er dies der Division Infrastruktur hätte vergüten müssen.

In ihrem Bericht nannte die Sust als Hauptursache des Unfalls das Fehlen moderner Sicherungsanlagen in einem Kreuzungsbahnhof, wo die Zugabfertigung nicht mehr doppelt kontrolliert wurde. Die Sust hielt ausdrücklich fest, dass in der Zugsicherung normalerweise nicht ein einziger menschlicher oder technischer Fehler zu einem Unglück führen dürfe, dass dies aber 2013 in Granges-Marnand der Fall war.

Abschalten der Fahrleitung hätte den Zusammenstoss verhindert

Besonders tragisch am Unglück ist, dass es durch den Fahrdienstleiter leicht hätte verhindert werden können, wenn er richtig instruiert gewesen wäre. Er bemerkte die Zugsabfahrt bei rotem Hauptsignal sehr wohl, rannte sofort auf das Perron und versuchte, den Lokführer mit Trillerpfeife und Gestikulieren zu stoppen, aber ohne Erfolg. Er konnte nicht wissen, dass er stattdessen die Fahrleitung durch Drücken auf zwei Tasten am Schaltpult ganz einfach und schnell notfallmässig hätte ausschalten können, weil er darin nicht instruiert war, wie die Sust in ihrem Bericht festhielt. Diese Tasten waren an anderen älteren Bahnhöfen desaktiviert worden, in Granges-Marnand aber noch aktiv. Jedoch sahen die geltenden Betriebsabläufe den Gebrauch dieser Tasten nicht mehr vor. Dies kritisierte die Sust in ihrem Bericht denn auch als Sicherheitsmangel und empfahl, dieses notfallmässige Abschalten der Fahrleitung in solchen Bahnhöfen wieder systematisch vorzusehen und zu instruieren. Dies geschah in Granges-Marnand nach dem Unfall tatsächlich und verhinderte am 16. September 2013 einen nochmaligen gleichen Unfall: Der Fahrdienstleiter konnte diesmal durch Abschalten der Fahrleitung einen erneut bei Rot abgefahrenen Zug stoppen.

Nicht bei der Sicherheit sparen

«Hohes potenzielles Unfallrisiko», «Sicherheitsmangel», «fehlende Information»: diese Wörter tauchen im Schlussbericht der Sust zum Unfall in Granges-Marnand mehrfach auf. Deshalb erscheint es als etwas vorschnell zu behaupten, dass die SBB für das Drama vom 29. Juli 2013 keine Verantwortung trage. Auf jeden Fall gilt es aus diesem Unfall zu lernen, dass die Sicherheit und das Leben von Personal und Reisenden bei den Prioritäten der SBB an erster Stelle stehen müssen und nicht durch Sparmassnahmen gefährdet werden dürfen.

Yves Sancey/Fi