Interview SGB-Chefökonom Daniel Lampart

«Das Tieflohnproblem betrifft gestandene Berufsleute»

In der Schweiz verdienen viele Personen mit abgeschlossener Berufslehre weniger als 4000 Franken im Monat. Das ist ein Skandal, wie Daniel Lampart, Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund, erläutert. Von der Mindestlohn-Initiative, über die wir am 18. Mai 2014 abstimmen, profitieren 330 000 schlecht bezahlte Angestellte.

kontakt.sev: Die SGB-Initiative verlangt einen Mindestlohn von 4000 Franken für eine Vollzeitstelle. Warum gerade diesen Betrag?

Daniel Lampart: Wir führten vor der Lancierung der Initiative eine intensive Diskussion zu dieser Frage. Es ging einerseits darum, was es braucht, damit man einigermassen davon leben kann, und andererseits um die Machbarkeit. Am Ende haben wir uns auf die 22 Franken pro Stunde geeinigt. Das ergibt bei einer 42-Stunden-Woche und bei 12 Monatslöhnen pro Jahr rund 4000 Franken im Monat.

Im internationalen Vergleich scheint das viel zu sein. In Deutschland diskutiert man über einen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, also etwa zehn Franken.

Die Schweiz hat ein hohes Lohnniveau, deshalb braucht es natürlich auch einen hohen Mindestlohn, um die Löhne zu schützen, sonst wäre er unwirksam. Im Ver- gleich zum mittleren Lohn sieht die Sache deshalb schon anders aus. Da liegen wir hinter Frankreich und nur leicht höher als die Niederlande. Schaut man schliesslich, wie viele Leute davon profitieren, kommen wir auf neun Prozent der Beschäftigten. In Deutschland wären es bei 8,50 Euro 15 bis 20 Prozent. In den USA bei 10,10 Dollar fast 15 Prozent. Bei uns ist das Tieflohnproblem glücklicherweise etwas weniger gross als in anderen Ländern.

330 000 arbeiten in der Schweiz für tiefe Löhne. Werden sie alle fair bezahlt, wenn die Initiative eine Mehrheit findet?

Sie bekommen dann alle mehr Geld. Das ist auch dringend nötig. 4000 Franken im Monat sind ein einigermassen anständiger Lohn, eine Familie kann davon aber im- mer noch nicht leben. Und wenn jemand mit einer abgeschlossenen Lehre nur 4000 Franken verdient, bleibt das unfair.

Der Mindestlohn würde für die ganze Schweiz gelten, die Lebenskosten sind jedoch je nach Region sehr unterschiedlich. Müsste man nicht differenzieren?

Das haben wir uns überlegt. Wir kamen zum Schluss, dass es besser ist, auf eine Differenzierung zu verzichten. Erstens sind mehr als die Hälfte der Haushaltskosten in der ganzen Schweiz identisch. Der Einkauf im Laden, das Benzin und die Zugbillette sind überall gleich teuer. Zweitens ist es schwierig, die Regionen abzugrenzen. Das Oberengadin und das Bergell lie- gen direkt nebeneinander, das Preisniveau ist aber sehr unterschiedlich. Kommt dazu, dass staatliche Leistungen wie die AHV-Rente im ganzen Land gleich hoch sind.

Die Gegner argumentieren, die betroffenen Arbeitgeber würden weniger Leute einstellen, wenn die Löhne steigen. Bedroht die Initiative Arbeitsplätze, wie der Bundesrat warnt?

Bei jeder Verbesserung für die Arbeitnehmer malen die Arbeitgeberverbände und zum Teil auch der Bundesrat rabenschwarze Szenarien. Die Geschichte zeigt jedoch, dass Verbesserungen für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen jeweils mit wirtschaftlichen Verbesserungen einhergingen. Auch bei unserer Kampagne «Keine Löhne unter 3000 Franken» warnten konservative Ökonomen wie Aymo Brunetti vor einer Massenarbeitslosigkeit. Im Gastgewerbe traf genau das Gegenteil ein. Dort hat man die Löhne seit 1998 ungefähr um 50 Prozent angehoben, gleichzeitig ging die Arbeitslosigkeit im Vergleich zur gesamten Arbeitslosigkeit in der Schweiz zurück. Werden alle tiefen Löhne auf 22 Franken pro Stunde erhöht, steigt die Gesamtlohnsumme um etwa 0,4 Prozent.

Lidl, Aldi und jüngst H&M haben von sich aus einen Mindestlohn von 4000 Franken oder mehr eingeführt. Ein Erfolg der Initiative?

Ja. Die 4000 Franken sind eben plausibel, und die Detailhändler haben gemerkt, dass sie faire Löhne zahlen müssen, weil sonst die Kunden ausbleiben. Das Beispiel zeigt gleichzeitig, dass selbst die harten Discounter diesen Mindestlohn zahlen können. Es müsste deshalb für alle möglich sein.

Offenbar kann man als Arbeitgeber mit dem Mindestlohn sogar werben.

Das ist so. Die Discounter haben wahnsinnig viel Geld für diese Kampagne ausgegeben.

Wie steht es mit der Berufslehre? Verliert die nicht an Wert, wenn man auch ohne Abschluss auf 4000 Franken Lohn kommt?

Das Schlimme ist doch vor allem, dass viele mit einer Lehre nicht einmal auf 4000 Franken kommen. Ein Drittel der Leute mit Tieflöhnen hat eine Lehre absolviert, der grösste Teil ist über 25 Jahre alt. In der Schweiz betrifft das Tieflohnproblem gestandene Berufsleute. Man muss dafür sorgen, dass jene, die eine Lehre gemacht haben, einen anständigen Lohn bekommen, sonst steigen die Jungen aus.

Wie ändert die Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative die Ausgangslage? Nimmt der Lohndruck nun ab, sodass die Mindestlohn-Initiative als flankierende Massnahme überflüssig wird?

Nein, leider im Gegenteil. Die Einführung von Kontingenten ist überhaupt kein Schutz vor tiefen Löhnen. Wenn die Bauwirtschaft in China 10 000 Leute zu Billiglöhnen holen kann, ist das Lohndumping schlimmer als heute. Im ehemaligen Regime mit Kontingenten verdienten die Saison-Arbeiter für die gleiche Arbeit fast 14 Prozent weniger als Schweizerinnen und Schweizer. Das hat Druck auf alle Löhne erzeugt. Es ist sonnenklar, dass Kontingente ohne Mindestlöhne und Kontrollen vor Ort zu mehr Lohndruck führen. Mindestlöhne bleiben des- halb so nötig wie eh und je.

Interview: Peter Krebs