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Der Kündigungsschutz in der Schweiz ist immer noch schwach

Das Bestmögliche erreicht…

Kollege A.* arbeitet schon mehrere Jahre bei Elvetino als Steward. Wir alle wissen: Das ist ein Knochenjob! Die internen Personalbeurteilungen sind zwar nicht brillant, aber gut. Da A. vier Sprachen spricht, darunter sehr gut Französisch, wird er im TGV Lyria eingesetzt, wo er die anspruchsvolle Kundschaft im Barwagen und jene der 1. Klasse auch am Platz bedient.

Klagen aus dem Nichts

Wie aus heiterem Himmel – nach mehreren Jahren, wie gesagt – erhebt das Unternehmen anlässlich eines Personalgesprächs Klagen gegen A.: Passagiere sagten, A. hätte (absichtlich) beim Bezahlen der Kundschaft falsches Wechselgeld herausgegeben. Er habe Zeitschriften, auf die die Erstklass- reisenden gratis Anspruch haben, verkauft (und das Geld in die eigene Tasche gesteckt). Die Uniform und der Barwagen seien gelegentlich schmutzig. Ausserdem erziele A. teilweise viel weniger Umsatz als andere Stewards auf der gleichen Tour.

Unbewiesene Vorwürfe

A. wehrt sich: Auf einen Teil der Missstände habe er selber schon aufmerksam gemacht, etwa, dass im Gare de Lyon in Paris viel geklaut werde. Die hygienischen Zustände habe er ohne Erfolg gerügt. Die übrigen Vor- würfe seien schlicht erfunden. Nie habe er etwas ohne zu bonieren verkauft und auch nicht falsches Retourgeld gegeben.

Der Arbeitgeber beharrt auf seinen Vorwürfen. Die Vorwürfe der Reisenden nimmt er zum Nennwert, was A. sagt, sind für ihn Schutzbehauptungen. Er spricht A. anlässlich des Gesprächs die Kündigung bei sofortiger Freistellung aus. Dass ihm dabei offenbar nicht ganz wohl ist, ergibt sich schon daraus, dass A. nicht fristlos entlassen wird, sondern für die Kündigungsfrist von einem Vierteljahr den vollen Lohn erhält. Aber natürlich muss A. auf das «Aufrundemünz», das für die Stewards einen nicht unerheblichen Teil des Verdiensts ausmacht, verzichten, und Überzeit und Ferien gelten mit der Freistellung als abgegolten.

Akzeptable Einigung

Der SEV, an den sich A. wendet, ficht die Kündigung als missbräuchlich an. Wer mit der Praxis im Schweizer Arbeitsrecht vertraut ist, weiss:Eine Wiederanstellung ist damit kaum zu erreichen. Doch A., der ohnehin auf der Suche nach einer besseren Stelle ist, möchte wenigstens ein möglichst gutes Arbeitszeugnis erhalten sowie eine finanzielle Entschädigung, um die mögliche Arbeitslosigkeit überbrücken zu können. Der Vertrauensanwalt, den der SEV in dieser Sache eingeschaltet hat, schafft es, beides zu erreichen: Das Arbeitszeugnis von A. wird so geändert, wie es die SEV-Gewerkschaftssekretärin verlangt. Und A. erhält eine Entschädigung von 6000 Franken, notabene zusätzlich zu den drei Monatslöhnen, die er während der Kündigungsfrist erhält.

Ein Wermutstropfen bleibt: Beim aussergerichtlichen Vergleich werden keine Parteikosten gesprochen, der SEV bleibt auf seinen Kosten sitzen. Doch hier geht es nicht um Buchhaltung: Für A. hat der Streit mit seinem ehemaligen Arbeitgeber zu einem akzeptablen Vergleich geführt. Er wird sich um eine andere Arbeitsstelle bemühen, wo er seine unbestreitbaren Qualitäten, vor allem seine Sprachfertigkeit, einsetzen kann.

Rechtsschutzteam SEV

*Name der Redaktion bekannt

Gratis – aber nicht kostenlos

Das schweizerische Arbeitsrecht ist – im Vergleich mit anderen europäischen Ländern – nicht sehr arbeitnehmerfreundlich. Immerhin ist das Verfahren auf der ersten Stufe, vor der soge- nannten Schlichtungsstelle, bis zu einem Streitwert von 30000 Franken gratis. Das heisst aber nicht, dass es kostenlos ist: Wird ein Anwalt zugezogen, muss er selber bezahlt werden. Wird die unentgeltliche Rechtshilfe gewährt, müssen entstandene Kosten später zurückbezahlt werden. Eine in der Schweiz ausgesprochene Kündigung wird, wenn kein GAV vorhanden ist, kaum je zurückgenommen. Der Abschluss eines (gerichtlichen oder ausser- gerichtlichen) Vergleichs – mit- hilfe des SEV-Rechtsschutzes – ist deshalb oft die beste Lösung, ausser es werden klare Gesetze offensichtlich verletzt.

pan.