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Aggressives Verhalten

«Die Gewalt in den Zügen muss stoppen!»

Täglich erlebt das Zug- und Lokpersonal aggressives Verhalten und gewalttätige Übergriffe in Zügen. In den letzten Jahren hat das Problem zugenommen. Der SEV fordert die SBB, aber auch andere Verantwortliche auf, endlich zu handeln. Ein Gespräch mit Hanny Weissmüller, Zentralpräsidentin LPV, und Ralph Kessler, Zentralpräsident ZPV.

© Sébastien Anex

Hanny Weissmüller, du fuhrst am Sonntagmorgen, am 21. April mit einem Zug vom Wallis nach Genf. Was hast du da erlebt?

Hanny Weissmüller: Ich fuhr den ersten Zug von Sitten nach Genf-Flughafen, der um 4.24 Uhr abfährt. Das war schon immer ein Problemzug, aber so schlimm wie an diesem Sonntag war es noch nie. Auf diesem Zug befinden sich oft Betrunkene, auf dem Heimweg von Partys, und gleichzeitig Reisende, oft Familien, die einen frühen Flug von Genf erwischen müssen. Am 21. April stiegen mehrere Dutzend Jugendliche in Martigny zu, die dort einen Nachtclub besucht hatten. Die Kantonspolizei begleitete die Jugendlichen, bis sie in den Zug stiegen. Dann übergaben sie uns das «Problem». Die Jugendlichen begannen im Zug zu randalieren. Anwesend neben mir war eine einzige Kundenbegleiterin, nicht wie eigentlich vorgesehen zwei. Es kam zu Messerstechereien unter den Jugendlichen. Wir waren völlig machtlos und riefen die Transportpolizei. Meine Kollegin konnte die anderen Reisenden in die 1. Klasse in Schutz bringen. Bis Lausanne hielt der Zug fahrplanmässig mehrmals an. Die Polizei griff nicht ein. In Lausanne, wo die Transportpolizei einen Stützpunkt hat, kam dann endlich Unterstützung und die Jugendlichen machten sich aus dem Staub. Die Wagen sahen aus, als wäre ein Wirbelsturm durch sie gefegt. Eine schreckliche Erfahrung.

Ralph Kessler: Solche Vorkommnisse sind leider nur die Spitze des Eisbergs. Uns erreichen in den letzten Jahren immer mehr Meldungen über Gewalt und Drohungen gegenüber dem Personal in Zügen. Dass diese Geschichte ausgerechnet auf dieser Strecke passiert ist, erstaunt mich nicht. Die SBB hat den Transportpolizei-Stützpunkt in Martigny vor ein paar Jahren geschlossen. Erst in Lausanne haben wir wieder Leute. Und die Kantonspolizei gibt das Problem an den Bahnhöfen, sobald die Leute in den Zug gestiegen sind, einfach ab. Ich persönlich finde es mehr als bedenklich, dass der Zug von Martigny bis Lausanne mit diversen Zwischenhalten insgesamt 59 Minuten unterwegs ist und offensichtlich niemand in der Lage ist, hier einzugreifen. Da muss man sich schon fragen, was die Polizeiorgane für Einsatzkonzepte haben.

Was muss jetzt passieren? Sollte die SBB mehr Personal zur Verfügung stellen?

Hanny Weissmüller: Mehr Personal würde sicher helfen. Unbegleitete Regionalzüge sollten wieder begleitet werden. Ich erlebe oft schwierige Situationen, wenn ich als Lokführerin alleine unterwegs bin. Bei kritischen Zügen braucht es mindestens eine Doppelbegleitung. Natürlich ist auch die Polizei gefordert. Die Kantonspolizei muss uns unterstützen und nicht einfach das Problem an uns abgeben, wenn weit und breit keine Transortpolizei da ist. Auch aus meiner Sicht war es ein Fehler, Stützpunkte der Transportpolizei zu schliessen. Entlastend könnten auch Massnahmen an den Bahnhöfen sein, zum Beispiel bessere Beleuchtung.

Ralph Kessler: Es ist keine leichte Aufgabe und sehr herausfordernd für das Personal, wenn neu Züge wieder durch Personal begleitet werden, welche vorhin jahrelang ohne Zugbegleitung unterwegs waren. Das aktuelle Beispiel erleben wir in den RegioExpress-Zügen zwischen Genf, Vevey und St. Maurice in den Abendstunden. Die SBB kann nicht jahrelang ohne Zugbegleitung herumfahren und plötzlich das Gefühl haben, mit einem einzigen Zugbegleiter wieder den «Normalzustand» herstellen zu können. Hier hat es die SBB verpasst, entsprechende Begleitmassnahmen herbeizuführen. Der Kundenbegleitungsjob ist aktuell äusserst herausfordernd, die psychischen und physischen Belastungen für das Personal sind enorm und wider-spiegeln sich auch in den hohen Absenzen mit 26 Tagen im Jahr pro Mitarbeiter:in. Hier braucht es dringend eine Entlastung für das Personal.

Der ZPV hat kürzlich mehrere Forderungen bei der SBB deponiert. Sie muss Massnahmen für die Entschärfung der Personalsituation ergreifen. Der Umgang mit Meldungen und Ereignissen sowie die Aufbietung der Einsatzkräfte in der Einsatzzentrale der Transportpolizei soll überprüft werden. Zentrale Forderungen betreffen die Doppelbegleitung durch Zugpersonal. Was hat es damit auf sich?

Ralph Kessler: Im Jahre 2009 wurde aufgrund mehrerer Gewaltvorfälle die generelle Doppelbegleitung in den Fernverkehrszügen eingeführt. Mit dem Konzept «Kundenbegleitung 2020» wurde diese Doppelbegleitung per Fahrplanwechsel im Dezember 2018 wieder abgeschafft. Zudem hält sich die SBB aktuell nicht an die vereinbarten Regelungen wie die Doppelbegleitung ab 22 Uhr oder in kritischen Frühzügen. Wir verlangen hier mit Nachdruck, dass diese Regelungen wieder eingehalten werden. Zudem hat der ZPV bereits 2019 aufgrund der negativen Erfahrungen verlangt, dass die generelle Doppelbegleitung auf den Zügen des Fernverkehrs wieder eingeführt wird.

Die SBB hat reagiert und euch zu Gesprächen eingeladen. Reicht das?

Ralph Kessler: Man muss generell feststellen, dass wir immer mehr Leute in den Zügen transportieren und die SBB, aber auch andere Bahnen, mit Begleitkonzepten operieren, welche diese aktuelle Lage nur ungenügend – wenn überhaupt – berücksichtigen. Hier besteht ein deutlicher Handlungsbedarf. Und zwar nicht nur beim Personal auf den Zügen, sondern auch bei der Transportpolizei und bei den kantonalen Polizeikorps. Wir haben bei der SBB mehrmals verlangt, die Doppelbegleitung beizubehalten. Auch machen wir an jeder Sitzung mit der SBB darauf aufmerksam, dass sie sich aktuell nicht an die vereinbarten Regelungen wie die Doppelbegleitung ab 22 Uhr sowie in den kritischen Frühzügen hält. Zudem hat man uns mit dem Projekt «Kundenbegleitung 2020» Versprechungen gemacht (mehr als zwei Kundenbegleiter:innen auf 400-Meter-Doppelstock-Zügen), welche heute nicht eingehalten werden. Hier hat uns die SBB angelogen und die Vertrauensbasis zerstört. Wie stark sich die Lage verändert hat, zeigt ein Blick zurück in das Jahr 2008: Dort ist im Geschäftsbericht der SBB zu entnehmen, dass sich in diesem Jahr 240 Tätlichkeiten gegen das Personal der SBB ereignet hatten (2007: 236). Am 20. März 2024 hat uns die SBB mitgeteilt, dass sich bis zu diesem Datum allein im Bereich Kundenbegleitung und Cleaning bereits knapp 400 Aggressionen gegen das Personal ereignet haben. Rechnet man dies auf das ganze Jahr hoch, ergibt dies 1750 Aggressionen gegen das Personal nur in diesem Bereich!

Hanny Weissmüller: Zwei meiner Lokführer-Kollegen wurden in den letzten Monaten spitalreif geschlagen. Ich habe auch mit Kolleginnen und Kollegen von anderen Unternehmungen gesprochen. Das Problem betrifft nicht nur die SBB. Bei der RhB gab es letzten Sommer einen massiven Polizeieinsatz, nachdem eine Touristengruppe gewalttätig wurde. Und auch in anderen öV-Bereichen, in Bussen und in Trams, hören wir von einer Zunahme des aggressiven Verhaltens von Gästen.

In Deutschland droht unsere Schwestergewerkschaft EVG mit Streik an der Euro 2024, wenn sich punkto Gewalt und Aggressionen nichts tut. Wie sieht es eigentlich beim Thema Fanzüge in der Schweiz aus?

Ralph Kessler: Im Bereich der Fanzüge wird der Ball seit Jahren zwischen den Klubs, der Swiss-Football-League und der Politik hin- und hergeschoben, ohne dass konkrete Resultate und Massnahmen erzielt wurden. In der ganzen Fanbetreuung und Fanarbeit gibt es nur sehr wenige, positive Beispiele (z. B. YB), welche Erfolge zeigen. Hier müssten vonseiten der Politik, aber auch der Swiss-Football-League endlich «Nägel mit Köpfen» gemacht werden. Die Forderungen der deutschen Gewerkschaft EVG sind verständlich und nachvollziehbar. Man kann heute keine solche Grossveranstaltung ohne entsprechende Massnahmen durchführen. Hier müsste auch von der Politik her endlich ein deutliches Zeichen gesetzt werden.

Michael Spahr

Genug ist genug

Physische Aggressionen gegen das Lok- und Zugpersonal sowie Beschimpfungen belasten unsere Kolleginnen und Kollegen mittlerweile täglich. Seit der Coronakrise haben verbale und körperliche Gewalt gegenüber dem Personal im öffentlichen Verkehr spürbar zugenommen.

Vor ein paar Wochen randalierten mehrere Dutzend Jugendliche um vier Uhr morgens in einem Zug im Unterwallis. Die Lokführerin und die einzige anwesende Kundenbegleiterin wurden mit dieser schwierigen Situation allein gelassen. Es ist sicher auch dem umsichtigen Vorgehen der Kolleginnen auf dem Zug zu verdanken, dass die Lage in dieser Nacht nicht weiter eskaliert ist. Solche Vorfälle führen verständlicherweise beim Personal zu Angst.

Eine Massnahme, die das Sicherheitsgefühl wieder erhöhen würde, ist ganz klar der Einsatz von genügend Personal. In der Kundenbegleitung braucht es in kritischen Zügen, beispielsweise spät in der Nacht oder frühmorgens am Wochenende, zwingend eine Doppelbegleitung. Und zwar ausnahmslos. Nötig dazu ist eine Erhöhung des Personalbestandes mit einer bezahlten Reserve, damit auch bei kurzfristiger Abwesenheit einer Kollegin oder eines Kollegen die Doppelbegleitung sichergestellt bleibt.

Bei der Transportpolizei genügen 220 Polizistinnen und Polizisten offensichtlich nicht, um schweizweit die täglichen Präsenz- und Interventionsdienste abzudecken. Auch hier ist ein zentraler Lösungsansatz mehr Personal. Die Skepsis des SEV gegenüber der Schliessung der Transportpolizei-Standorte in Martigny und Neuenburg hat sich als berechtigt erwiesen. Beide Posten sollten wieder eröffnet werden, sicherlich zumindest jener in Martigny.

Aber nicht nur die Unternehmungen sind gefordert, sondern auch die kantonalen Polizeicorps. Diese sind zwar nicht für die Polizeiarbeit in den Zügen verantwortlich, doch für alles, was darum herum passiert. Es darf nicht sein, dass offensichtlich gewaltbereite und stark alkoholisierte Gruppen auf einen Zug begleitet werden und die Polizei sich daraufhin zurückzieht, wie es beim vorher genannten Vorfall passiert ist.

Aggressionen gegenüber dem Personal und eine wachsende Gewaltbereitschaft sind gesellschaftliche Probleme, für die es keine einfache Lösung gibt. Massnahmen dagegen sind aber möglich. Und diese Massnahmen müssen jetzt dringend in Angriff genommen werden.

Kommentar von Patrick Kummer, Vizepräsident SEV

Kommentare

  • Fabienne von Flüe

    Fabienne von Flüe 31/05/2024 10:33:56

    Das Personal ist ständig flexibel und schaut und macht für die SBB. Braucht man umgekehrt einmal etwas, kann man es getrost vergessen. Der Bund wollte das Corona-Theater, dann muss auch er die Konsequenzen tragen und das macht er leider nicht!

  • Cara

    Cara 05/06/2024 17:31:52

    Der letzte Absatz im Artikel über die Fanzüge finde ich hier nicht passend. Regelzüge sind eine andere Angelegenheit. Das ist als würde man Wasser mit Wein vergleichen.