Europäischer Gerichtshof
Skandalöses Urteil zur Entsendung von Arbeitnehmenden
Die Gewerkschaften lancieren eine Lobbyingkampagne gegen das eklatante Fehlurteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Dezember 2019: Der EuGH kassierte damit ein österreichisches Urteil gegen den ungarischen Bahnrestaurateur "Henry am Zug", der in Zügen der ÖBB massives Lohndumping betrieb. Damit entschied der EuGH einmal mehr gegen den Lohnschutz und für die "Dienstleistungsfreiheit" der Firmen. Weil dagegen nicht berufen werden kann, ruft die Europäische Transportarbeiterföderation alle Mitgliedsgewerkschaften auf, dafür zu lobbyieren, dass die Entsenderichtlinie auf EU-Ebene repariert wird. Diese Kampagne unterstützt auch der SEV.
Aufruf der Gewerkschaft vida und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) an alle ETF-Mitgliedsgewerkschaften:
Liebe Kollegin, Lieber Kollege!
Angesichts der dramatischen Entwicklung für grenzüberschreitend Beschäftigte sehen sich die ETF und die Gewerkschaft vida gezwungen, euch Folgendes zur Kenntnis zu bringen und um eure Unterstützung zu ersuchen. Bereits am 31.10.2019 erging an euch ein Brief, in dem die ETF und die Gewerkschaft vida auf diesen gefährlichen Fall hingewiesen haben. Damals stand der verheerende Ausgang des EuGH-Urteils jedoch noch nicht fest. Nun haben wir die Auswirkungen des Urteils analysiert.
Inhaltliche Hintergrundinformation zum konkreten Fall
Die ÖBB beauftragte das österreichische Unternehmen Henry am Zug (HaZ) mit der Bordverpflegung auf ÖBB-Zügen. HaZ Österreich gründete die Tochterfirma HaZ Hungary Kft. In Ungarn, von welcher aus im Zeitraum von 2012 bis 2016 ungarische MitarbeiterInnen auf Züge entsandt wurden. Die meisten davon waren nicht bei HaZ Ungarn angestellt, sondern von einer ungarischen Leiharbeitsfirma an HaZ Ungarn überlassen. Die Beschäftigten erhielten ungarischen Lohn für Cateringleistungen auf österreichischen Zügen von Budapest nach Salzburg oder München und retour.
Die Gewerkschaft vida kritisierte, dass hier systematisch Lohn- und Sozialdumping nach Österreich importiert wurde. Das in Österreich rechtlich abgesicherte Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ (Lohn- und Sozialdumping Bekämpfungsgesetz) muss auch für Beschäftigte im Bahn-Catering gelten. Sonst handelt es sich um einen Verstoß gegen die EU-Entsenderichtlinie.
Henry am Zug-Verstöße angezeigt
Die Finanzpolizei deckte Verstöße auf, Henry am Zug wurde zu hohen Strafen verurteilt, wogegen das Management (Dobersberger) Berufung einlegte. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof legte den Fall dem EuGH zur Entscheidung vor.
Die Praxis des Unternehmens, ungarische Beschäftigte in Österreich zu etwa einem Drittel des österreichischen Gehalts zu beschäftigen, konnte erfolgreich beendet werden. Die Firma HaZ wurde aufgrund von Verstößen gegen Bestimmungen des österreichischen Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes bestraft und bekämpfte das Urteil durch alle Instanzen bis zum EuGH. Dem EuGH wurden Fragen betreffend die Anwendbarkeit der Entsenderichtlinie und mögliche Verstöße gegen die Dienstleistungsfreiheit zur Vorabentscheidung vorgelegt.
SKANDALÖSES EUGH-URTEIL
Der EuGH hat am 19.12.2019 völlig unverständlich und gefährlich in dieser Sache entschieden.
ERGEBNISSE UND AUSWIRKUNGEN
1. DIE ENTSENDERICHTLINIE GILT FÜR BESCHÄFTIGTE, DIE BORDSERVICE UND REINIGUNGSLEISTUNGEN IN INTERNATIONALEN ZÜGEN ERBRINGEN, NICHT.
• Der Europäische Gerichtshof verkennt in seinem Urteil den Sachverhalt in völlig absurder Weise: Der EuGH argumentiert, dass sämtliche Tätigkeiten in Ungarn erbracht werden – mit Ausnahme des Bordservice. Für ihn ist also das Bordservice nur eine unwesentliche Tätigkeit der Arbeitskräfte.
Dies obwohl:
- die weitaus überwiegende Arbeitszeit mit dem Bordservice verbracht wurde und dies die zentrale Tätigkeit der Arbeitskräfte war
- der Gegenstand des Dienstleistungsauftrages die Bewirtschaftung des Zugrestaurants bzw. des Bordservices war
- der Name des Unternehmens „Henry am Zug“ lautet.
• Tatsächlich ist es so, dass Dienstantritt und -Ende nicht nur in Ungarn, sondern auch in Österreich stattfinden, dazu kommen die auswärtigen Übernachtungen.
• Außerdem wurden die Trollys in Ungarn nicht vom Bordpersonal, sondern von LagerarbeiterInnen befüllt.
Im Urteil wurde also nicht auf der Grundlage des tatsächlichen Sachverhalts entschieden.
2. Der EuGH bleibt unklar – tendiert jedoch in die Richtung – DASS VERKEHRSBESCHÄFTIGTE VOM SCHUTZ DER ENTSENDERICHTLINIE AUSGENOMMEN SIND. Dieses Urteil spielt daher auch in die Diskussion in andere Transportbereiche hinein.
3. DAS URTEIL KANN BESCHÄFTIGTE AUS ALLEN BRANCHEN TREFFEN, DIE ENTSENDUNGEN VORNEHMEN. Dieses Urteil wird zukünftig in ähnlichen Verfahren zugunsten der Unternehmen herangezogen werden.
Es besteht die Gefahr, dass die Argumentationen des EuGH, nämlich dass aus der Tätigkeit des Bordpersonals auf der Zugstrecke keine hinreichende Verbindung zu Österreich besteht, auf sämtliche Branchen im Entsendebereich angewandt wird.
Fazit:
Die Entsenderichtlinie ist ein gesetzliches von der EU geschaffenes Instrument, um Beschäftigte vor Lohnraub und Ausbeutung zu schützen. Dieses wichtige Schutzinstrument wurde nun durch das EuGH-Urteil ausgehebelt.
Unser gewerkschaftlicher Zugang:
Europa auf dem Holzweg – das „Soziale Europa“ ist in Gefahr
Durch das EuGH Urteil ist das System der Entsenderichtlinie in Gefahr:
• gleicher Lohn, bei gleicher Arbeit, am gleichen Ort, ist nicht mehr sichergestellt
• Das System der Entsenderichtlinie war bisher schon lückenhaft, besonders im Bereich des mobilen Personals
• Die Entsenderichtlinie wird durch das EuGH Urteil weiter ausgehöhlt.
Wenn wir nicht handeln, dann
➔ wird die Dienstleistungsfreiheit erneut über das Wohl der Beschäftigten gestellt
➔ werden Lohn- und Sozialdumping verschärft
➔ werden Beschäftigte in Europa erneut Opfer der grenzenlosen Gier von Unternehmen
➔ werden Beschäftigte aus Ost und West gegeneinander ausgespielt
➔ wird nationalistischen Strömungen weiter in die Hände gespielt
➔ werden die Botschaften zu einem „sozialen Europa“ vollkommen unglaubwürdig
Da gegen das EuGH-Urteil nicht berufen werden kann, fordern wir auf europäischer Ebene die Reparatur der Entsenderichtlinie!
Dazu müssen wir uns sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene ordentlich Gehör verschaffen.
Bitte informiert und lobbyiert eure Ministerien und relevanten Stakeholder auf nationaler Ebene sowie eure Vertreter im Europäischen Parlament.
Nachdem das Urteil auch Folgen für die Beschäftigten über die Verkehrsbranche hinaus haben wird, zählen wir auf die Unterstützung des EGB. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wird der Fall von den „Dachorganisationen“ (DGB, ÖGB, SGB) branchenübergreifend lobbyiert. Erste Termine der Gewerkschaften mit Mitgliedern des Europäischen Parlaments und Vertretern der Kommission fanden bereits statt.
Wir dürfen diese arbeitnehmerfeindlichen Entwicklungen in Europa nicht einfach zur Kenntnis nehmen! Wir müssen dagegen ankämpfen und solidarisch zusammenstehen.
In Solidarität!
Roman Hebenstreit, Vorsitzender Gewerkschaft vida
Livia Spera, Geschäftsführende Generalsekretärin ETF
Giorgio Tuti, Vorsitzender Sektion Eisenbahn ETF