SEV-Frauen thematisieren die Gewalt
«Gewalt ist keine Lösung»
Die diesjährige SEV-Frauenbildungstagung vom 24. November steht unter dem Titel «Umgang mit Gewalt – gewaltfrei im Alltag». kontakt.sev sprach darüber mit Luzia Siegrist vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, die an der Tagung das einleitende Referat halten wird.
Nicht nur Busfahrer, Zugbegleiterinnen und Transportpolizisten sind immer wieder mit Übergriffen konfrontiert, sondern alle Verkehrsangestellten mit Kundenkontakt. Als Privatpersonen machen wir alle in unserem Leben unsere Erfahrungen mit Gewalt und mit unserer eigenen Gewaltbereitschaft. Diese haben viele von uns nicht im Griff, wie folgende Statistik- und Umfragewerte zeigen: «In der Schweiz stirbt alle zwei Wochen eine Frau unter den Schlägen ihres Partners oder Ex-Partners», erklärt Gewerkschaftssekretärin Lucie Waser, die im SEV u.a. für die Frauenkommission zuständig ist. «Eine von fünf Frauen erleidet im Lauf ihres Lebens physische und/oder sexuelle Gewalt. Mehr als die Hälfte aller Frauen sagen, dass sie abends nicht gern aus dem Haus gehen, weil sie sich nicht sicher fühlen. Und junge Frauen finden sexuelle Belästigung und Angefasstwerden von fremden Männern im Ausgang schon fast normal.»
Diese oft tabuisierte Gewalt thematisieren die SEV-Frauen an ihrer Bildungstagung im November und fragen: Wie kann ich mich dagegen schützen? Was kann jeder von uns dagegen tun? Luzia Siegrist, die beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) im Fachbereich häusliche Gewalt arbeitet, nimmt Stellung.
kontakt.sev: Was sind Ihre Aufgaben beim EBG?
Luzia Siegrist: Primäre Aufgabe des Fachbereichs häusliche Gewalt des EBG ist, die Öffentlichkeit zu informieren und zu dokumentieren. Weiter koordinieren wir die Massnahmen des Bundes auf dem Gebiet der häuslichen Gewalt. Wir fördern die Vernetzung zwischen Bundesstellen, Kantonsbehörden und Nichtregierungsorganisationen. In die internationale Zusammenarbeit sind wir auch einbezogen. Im November organisieren wir jeweils eine nationale Konferenz zu einem spezifischen Thema – dieses Jahr zu Stalking. Denn aktuell wird aufgrund des Postulats «Bekämpfung von Stalking in der Schweiz verbessern» von Nationalrätin Yvonne Feri (SP/AG) ein Bericht zu Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking erarbeitet. Zudem wirken wir mit bei Gesetzesverfahren und parlamentarischen Geschäften, wie zum Beispiel beim Bericht zu Stalking. Die Bundesverwaltung hat oft Aufträge des Parlaments umzusetzen – unsere vierte Aufgabe.
Wie viele Stellenprozente hat das EBG für die häusliche Gewalt zur Verfügung?
Ich arbeite zu 65%, meine Kollegin zu 50%. Hinzu kommen rund 15% meiner Vorgesetzten. Weil unsere Ressourcen beschränkt sind, konzentrieren wir uns auf die Gewalt in Paarbeziehungen und in Trennungssituationen. Wir berücksichtigen sowohl die Situation von Opfern als auch von Gewaltausübenden – unabhängig vom Geschlecht.
Mit welchen Formen von Gewalt sind Frauen in der Schweiz neben der häuslichen Gewalt konfrontiert?
Die grösste Gefahr, als Frau Gewaltopfer zu werden, besteht in den eigenen vier Wänden. Im öffentlichen Raum ist sexuelle Belästigung sehr häufig, etwa im Ausgang, zuverlässige Daten dazu gibt es aber nicht. Dann werden Frauen auch ausserhalb der eigenen vier Wände Opfer von schweren Gewaltstraftaten wie Tötungsdelikten oder Vergewaltigungen, wobei gerade bei diesen beiden Gewalttaten zu betonen ist, dass sie etwa zur Hälfte im häuslichen Bereich vorfallen. Der Menschenhandel und die Zwangsprostitution betreffen vor allem Frauen, ebenso die Genitalverstümmelung und die Zwangsheiraten (die Männer ebenfalls betreffen). Aber auch hierzu fehlen zuverlässige Daten, die Dunkelziffer ist gross.
Wie häufig sind auch Männer Opfer von Gewalt?
Im öffentlichen Raum sind gemäss polizeilicher Kriminalstatistik mehr Männer als Frauen betroffen. Bei häuslicher Gewalt machen die Männer etwa einen Viertel der polizeilich registrierten Opfer aus. Das Universitätsspital des Kantons Waadt (CHUV) hat eine spezielle Abteilung für die Behandlung von Gewaltopfern. Dort machen die Männer 12,5 Prozent der Opfer aus, die sich wegen häuslicher Gewalt in Spitalpflege begeben müssen, etwa wegen Verletzungen durch Messer oder geworfene Gegenstände. Bei der psychischen Gewalt in Beziehungen sind Männer und Frauen je etwa zur Hälfte betroffen.
Haben Sie ein gewisses Verständnis, wenn jemand mit physischer Gewalt auf verbale Gewalt antwortet?
Nein. Fürs Zuschlagen ist jede und jeder selber verantwortlich. Das kennen wir alle, es gibt Situationen, die extrem belastend und schwer auszuhalten sind. Doch Gewalt ist keine Lösung und kann nie eine Lösung sein, in keiner Gesellschaft, in keiner Familie, weil einfach die Folgen und die Tragweite für alle Beteiligten viel zu gravierend sind.
Wie häufig sind bei häuslicher Gewalt Alkohol und Drogen im Spiel?
In etwa 50 Prozent der Fälle. Sie begünstigen das Gewaltverhalten. Umgekehrt kann aber auch die Gewalterfahrung zu Substanzmissbrauch führen.
Was sind die Ursachen der häuslichen Gewalt?
Unsere Studie zu Gewalt in Paarbeziehungen von 2008 nennt die vier Ebenen, die zur Erklärung von Gewalt beigezogen werden. Eine davon ist die individuelle Ebene: Wie reagiere ich auf Stresssituationen? Wie belastbar bin ich? Kann ich einen Konflikt im Gespräch lösen oder nicht? Bin ich als Kind in einem gewaltbelasteten Umfeld aufgewachsen? Dann gibt es die Ebene des Paares, die Beziehungsdynamik: Wie löst man Konflikte gemeinsam? Wie ist die Machtverteilung in der Beziehung? Weiter gibt es die Ebene der Gemeinschaft, des näheren sozialen Umfelds wie Familie, Nachbarschaft oder Arbeitsplatz: Wie geht man da mit Gewalt um? Ist es legitim, sich mit Gewalt Luft zu verschaffen und so Ruhe zu kriegen in einem Konflikt? Ist das Schlagen der Kinder in der Erziehung normal? Die vierte Ebene ist die Gesellschaft: Welches sind die sozialen und kulturellen Normen, wie sehen die Geschlechterrollen aus? Wie die rechtlichen Rahmenbedingungen? In der Schweiz ist Gewalt in Ehe und Partnerschaft erst seit 2004 ein Offizialdelikt. Das heisst, seither genügt es, dass die Behörden davon Kenntnis erhalten, damit sie aktiv werden und die Gewaltopfer schützen müssen. Dafür braucht es nun nicht mehr eine Klage gegen die gewalttätige Person. Hinzu kam 2007 der Personenschutzartikel im Zivilrecht, welcher der Polizei die Kompetenz gibt, die gewaltausübende Person aus der Wohnung zu weisen. Vorher musste beispielsweise eine bedrohte Frau selber gehen, klassisch war die Flucht ins Frauenhaus. Nun kann die Polizei Gewalttätigen die Hausschlüssel abnehmen und ihnen verbieten, in die Wohnung zu kommen, einen gewissen Perimeter zu betreten und Kontakt mit der Partnerin, dem Partner aufzunehmen.
In welchen sozialen Gruppen kommt häusliche Gewalt in der Schweiz vor?
Häusliche Gewalt kommt in allen sozialen Schichten vor. Doch es gibt Risikofaktoren, die in gewissen Gruppen gehäuft anzutreffen sind. Man hat zum Beispiel festgestellt, dass, wer jung und verheiratet ist, öfter von häuslicher Gewalt betroffen ist als ältere, nicht verheiratete Paare. Eine schlechte Ausbildung, geringes Einkommen, finanzielle Probleme oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz erhöhen das Risiko ebenfalls. Eine Rolle spielt auch die Wohnsituation: Wohnt eine fünfköpfige Familie in einer Dreizimmerwohnung oder hat sie ein ganzes Haus zur Verfügung? Treten auf den vier Ebenen des Erklärungsmodells zur Gewalt verschiedene Faktoren gehäuft auf, steigt entsprechend das Risiko von Gewalt.
Ist häusliche Gewalt bei bestimmten Migrantengruppen besonders häufig?
Die polizeiliche Kriminalstatistik unterscheidet nicht zwischen den Ethnien, sondern nur zwischen Menschen mit und ohne Schweizer Pass. Bei letzteren ist der Anteil der Opfer und Täter/innen von häuslicher Gewalt höher. Wenn in der Herkunftsgesellschaft der Migrant/innen Schläge zu Hause normal sind, dann migriert diese Gewalttoleranz zu einem gewissen Anteil mit. Zudem sind viele Migrant/innen von den anderen erwähnten Risikofaktoren stärker betroffen. Eine passende Wohnung zu finden kann sich als schwierig erweisen. Dazu kommen die Herausforderungen von Sprache und Integration oder die Nichtanerkennung von Ausbildungen.
Was bedeutet häusliche Gewalt für die Kinder?
In einem Angstklima aufzuwachsen, kann fatale Folgen haben: psychische Probleme, soziale Auffälligkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Probleme in der Schule oder ein erhöhtes Risiko, später selber Opfer oder Täter/in zu werden, um nur einige zu nennen. Darum muss man frühzeitig intervenieren. Diese Kinder brauchen Unterstützung, auch um Spätfolgen wie Jugendgewalt, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Suizide usw. zu vermeiden. Folgen, die letztlich die ganze Gesellschaft trägt.
Kann man beziffern, was häusliche Gewalt kostet?
Weil die Datenlage zum Teil prekär ist, kann man nicht alles beziffern. Wir haben es 2013 trotzdem versucht und sind für die Schweiz in einer vorsichtigen Schätzung auf 164 bis 287 Mio. Franken pro Jahr gekommen. In der Berechnung nicht enthalten sind mangels Datengrundlagen einige gewichtige Bereiche wie die Kosten für Zivilverfahren, Kindes- und Erwachsenenschutz, Unterstützungsangebote und Gesundheitskosten für Kinder und die psychischen Gesundheitskosten von Männern. Die häusliche Gewalt kostet also viel Geld, das man besser in Prävention investieren würde. So liessen sich gesellschaftliche Probleme besser vermeiden.
Wie kann man sich gegen häusliche Gewalt schützen?
Indem man sich frühzeitig Hilfe holt. Zum Beispiel, wenn man merkt, dass Streit immer häufiger und heftiger vorkommt. In allen Kantonen gibt es Beratungsstellen für Opfer und Gewaltausübende. Wenn das Gewaltproblem noch nicht gravierend ist, kann man sich auch an Beratungsstellen für Familien, für Erziehung oder für Alkohol- und Suchtprobleme wenden.
Markus Fischer
BIO
Luzia Siegrist (46) wuchs in Basel auf. Nach einem Geografiestudium in Basel arbeitete sie in Ecuador in der Entwicklungszusammenarbeit, dann auf der Integrationsfachstelle im Ausländerdienst Baselland, den sie in der Arbeitsgruppe Häusliche Gewalt Baselland vertrat. Seit 2010 ist sie beim Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann tätig. Im VPOD ist sie Co-Präsidentin der Sektion Bern Bundespersonal. Sie lebt mit Partner und Tochter in Bern. Hobbys: draussen sein im Garten, auf dem Velo, im Wasser, in den Bergen oder an der Basler Fasnacht.