Problem liegt bei Mentalität und Führung
Mit der Teilzeitarbeit tun sich viele Unternehmen schwer
Besonders für Mütter und Väter ist Teilzeitarbeit eine gute Form, um Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bringen, sofern der damit verbundene Lohnverzicht für sie verkraftbar ist. Auch die Arbeitgeber profitieren davon, wenn ihnen erfahrene, wertvolle Mitarbeitende wenigstens teilzeitlich treu bleiben. Dennoch tun sich viele Unternehmen weiterhin schwer mit der Teilzeitarbeit – sogar die SBB, die sie laut GAV fördern will.
Viele Teilzeitmitarbeitende haben nach wie vor einen schweren Stand: Abgesehen vom bewusst akzeptierten Lohnverzicht wegen der Pensenreduktion haben viele auch schlechtere Dienstpläne, mehr kurzfristige Einsätze, weniger Ausbildung und schlechtere Karriereaussichten in Kauf zu nehmen. Hinzu kommen Benachteiligungen bei der Invalidenversicherung. Und viele, die Teilzeit arbeiten möchten, können dies nicht tun, weil ihre Vorgesetzten dagegen sind. Betroffen ist auch der öffentliche Verkehr.
Obwohl alle Verkehrsbetriebe gemerkt haben dürften, dass Teilzeitarbeit einem Bedürfnis vieler Mitarbeitenden – vor allem der Mütter und Väter – entspricht und dass es auch im Interesse der Arbeitgeber ist, Teilzeitarbeit zu ermöglichen und zu fördern, gehen viele weiterhin sehr ungeschickt damit um. Manchmal werden Teilzeiter/innen gar richtig ausgenutzt. Auch die SBB, die die Teilzeitarbeit schon lange explizit fördern will, muss weiter daran arbeiten und dafür sorgen, dass alle Kader mitziehen – siehe Interview mit Martin Allemann. Es gibt aber auch Fortschritte bei der SBB und bei KTU, wie etwa bei Tilo (siehe Info-Box unten).
Besserer vertraglicher Schutz
Bereits im ersten SBB-GAV, gültig ab 2001, stand im Artikel 52 «Arbeitszeitmodelle» der Satz: «Teilzeitarbeit wird auf allen Stufen gefördert.» Im GAV 2005 wurde der Satz erweitert zu: «Teilzeitarbeit wird auf allen Stufen und in allen Formen gefördert.» So steht er auch im aktuellen GAV 2015 im neuen Artikel 53 «Teilzeitmodell».
Neu darin ist die Bestimmung, dass in neuen Teilzeitarbeitsverträgen u. a. festzuhalten ist, ob die Arbeitszeit täglich reduziert wird oder ob zusätzliche arbeitsfreie Tage bezogen werden und, wenn ja, wie (siehe Box im Interview mit Martin Allemann). Damit sollen sich Teilzeitmitarbeitende nun besser dagegen wehren können, dass ihnen beliebige Flexibilität zugemutet wird.
Allerdings haben zum Beispiel die vor 2015 angestellten Teilzeiterinnen des Bereichs Micronic (für Frequenzerhebungen) noch immer ihre alten, unpräzisen Verträge, die nur wenige Freitage pro Monat garantieren und zulassen, dass sie in gewissen Monaten viele Überstunden leisten müssen und in andern nur wenig oder keine. Und unabhängig vom Teilzeitgrad müssen sie in der Regel monatlich an mindestens zwei Samstagen und zwei Sonntagen arbeiten. Sich zu wehren und auch mal Nein zu sagen, wenn einmal mehr kurzfristig eine Ablösung gesucht wird, fällt vielen Teilzeiter/innen besonders schwer, da sie um ihre Stelle fürchten.
Teilzeitstopp für Lokpersonal
Der GAV-Artikel 53 hat den Personenverkehr SBB dieses Jahr auch nicht daran gehindert, wegen des (durch mangelhafte Nachwuchsplanung zum Teil selbst verursachten) Unterbestands beim Lokpersonal zu beschliessen, bis 2017 keine Lokführer/innen mehr in Teilzeit anzustellen. Der SEV-LPV hat immerhin erreicht, dass Teilzeitverträge erneuert werden. Doch wegen dem Teilzeitverbot haben bereits Lokführer zur Konkurrenz gewechselt oder sind auf Stellensuche …
Mehr zur Situation bei der SBB im Interview mit Martin Allemann.
Fragen an SEV-Vizepräsidentin Barbara Spalinger
kontakt.sev: Wie steht der SEV zur Teilzeitarbeit?
Barbara Spalinger: Teilzeitarbeit ist eine Realität, und das ist auch gut so. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen man nur zwischen 100%-Pensen oder gar keinen entscheiden konnte. Unternehmen tun sich nur Gutes, wenn sie sich den gesellschaftlichen Trends öffnen, zu denen auch die Teilzeit gehört.Melden öfters Mitglieder Probleme im Zusammenhang mit der Teilzeitarbeit?
Es sind nach wie vor vor allem Frauen, die das Thema aufs Tapet bringen. Für sie ist es im Zusammenhang mit der eigenen Familie oft sehr akut.
Profitieren auch die Unternehmungen selber, wenn sie Teilzeitarbeit ermöglichen?
Ich kenne keine Unternehmungen, die keine Teilzeitmitarbeitenden haben. Selbstverständlich profitieren auch sie davon. Sie tun sich zuweilen schwer bei bestimmten Berufsgruppen oder weil es mehr administrativen Aufwand gibt. Ganz kleine Pensen sind zudem oft problematisch. Bei Pensen um 80% gibt es in der Regel kaum Unterschiede zu Vollpensen, hier profitieren Unternehmungen tendenziell auf alle Fälle, indem sie für fast dieselbe Leistung deutlich weniger zahlen müssen.
Du bist im SEV für die KTU, also die Verkehrsbetriebe neben der SBB, zuständig. Wird die Teilzeitarbeit dort genügend gefördert oder wenigstens ermöglicht?
Sie müsste eigentlich stärker thematisiert werden und es gibt nach wie vor sehr viel Ungeschick im Umgang damit (was teilweise aber auch bei der SBB so ist). Vorab wenn Frauen nach einer Babypause wieder mit einem kleinen Pensum einsteigen wollen, wird dies behindert. Dabei wird gerne übersehen, dass das kleine Pensum nur für eine begrenzte Zeit gewünscht wird und dass damit beispielsweise ein Know-how-Verlust bei längerer Abwesenheit verhindert werden kann. Hier wünschte ich mir deutlich mehr Flexibilität. Beispielsweise bei der BLS hatten wir erst kürzlich den Fall, dass einer Spezialistin in einem klassischen Männerberuf der Wiedereinstieg im kleineren Pensum so erschwert wurde, dass sie gekündigt hat. Eine klar vertane Chance!
Was tut der SEV, um die Teilzeitarbeit in den KTU zu fördern?
Was er auch sonst tut, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern: verhandeln, vertraglich verankern, im Einzelfall rechtlich durchsetzen helfen.
Fördert der SEV die Teilzeitarbeit auch bei sich selber, als Arbeitgeber bei seinem Personal?
Als ich 2001 beim SEV angefangen habe zu arbeiten, gab es meines Wissens nur einen einzigen männlichen Gewerkschaftssekretär, der Teilzeit arbeitete. Heute sind es mindestens fünf mit einem 80%-Pensum. Frauen, die 100% arbeiten, gab es immer wenige, und das ist so geblieben.
Bereitet die Teilzeitarbeit dem SEV als Arbeitgeber auch Schwierigkeiten?
Es gibt kaum Schwierigkeiten daraus, vielleicht zuweilen etwas höheren Koordinationsbedarf bezüglich Terminen.
Du arbeitest selber Teilzeit: Warum?
Ich habe immer Teilzeit gearbeitet, nicht nur, weil mein Mann und ich lange Jahre 800 km auseinander gewohnt haben, sondern weil ich auch gerne Zeit für andere Dinge habe. Das ist noch immer so. Es ist mir sehr klar, dass ich als Vizepräsidentin aufpassen muss, mit meinem 80%-Pensum nicht einfach ein billigeres Vollzeitpensum abzudecken. Aber die Freiheit, auch mal einfach mittags zu verschwinden, wenn ich keine Termine habe, möchte ich nicht missen.
Teilzeitarbeit bei Tilo und TPG
Beim Tilo-Lokpersonal funktioniert's
Bei der Tilo (Ticino–Lombardia) SA ist die Teilzeitarbeit seit dem 1. Juni 2012 Realität. In der Präambel des aktuell gültigen GAV steht: «Um die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben zu verbessern, fördert das Unternehmen die Teilzeitarbeit auf allen Stufen, soweit ihm dies möglich ist.»
Die Teilzeitarbeit bei Tilo ist eine gewerkschaftliche Errungenschaft, denn sie entspricht dem Wunsch der Lokführer nach Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben, den sie bei den Verhandlungen für die GAV-Erneuerung vorbrachten.
Für ein junges, ständig wachsendes Unternehmen wie Tilo ist dies zweifellos eine sehr gute Sache. Indem es seinem Personal nach dem Win-win-Prinzip Teilzeitarbeit ermöglicht, beweist es, dass es aktuellen gesellschaftlichen Trends Rechnung zu tragen weiss.
Lucio Campesi, der schon seit etlichen Jahren bei Tilo als Lokführer arbeitet und zurzeit die Personalkommission präsidiert, hat beschlossen, sein Pensum auf 90 Prozent zu reduzieren, um für sich mehr Zeit zu haben. Andere Kollegen mit Kindern haben eine 80-Prozent-Anstellung gewählt.
«Ich habe mich für ein Teilzeitpensum entschieden, um ein bisschen mehr Freizeit zu haben, um Sport treiben, reisen und mit Freunden und Familienangehörigen zusammensein zu können», erklärt Lucio Campesi. «Wenn man Schicht arbeitet, ist es schwierig, mit anderen Leuten etwas abzumachen, denn wenn die anderen frei haben, arbeiten wir häufig, und umgekehrt.»
Andere Kollegen haben ihr Pensum teilweise aus den gleichen Gründen wie Lucio Campesi reduziert, aber auch, weil die Arbeit als Lokführer «härter» geworden ist: Die Touren sind anstrengender als früher (weil man mehr Zeit am Fahren ist) und extremer (weil sie am Morgen immer früher beginnen und abends immer länger dauern); zudem sind die Tourenübergänge immer kürzer. Indem sie ihre Arbeitszeit senken, schützen sich diese Kollegen vor chronischer Übermüdung.
«Ich bin froh, dass ich mich vor ein paar Jahren so entschieden habe», bestätigt Lucio Campesi. «Ich habe mehr Freizeit und arbeite auch besser, weil ich ausgeruhter und ausgeglichener bin. Die Dienstplanung – also die Planung seitens des Unternehmens Tilo bzw. des Zuteilungsbüros – funktioniert ebenfalls gut. Beide Seiten kommen mit der Teilzeit gut zurecht.» Wenn Teilzeitarbeit von den Angestellten freiwillig gewählt werden kann, ihnen also nicht aufgezwungen wird und sie von guter Qualität ist, ist sie ein positives Instrument.
Für Unternehmungen sind Massnahmen zugunsten des Familienlebens grundsätzlich nur bei Win-win-Modellen von Vorteil. Berechnungen, die Firmen und Organisationen in der ganzen Schweiz berücksichtigten, haben aufgezeigt, dass die direkten positiven Effekte einer Personalpolitik zugunsten der Familie die Kosten solcher Massnahmen übersteigen. Wenn man bei solchen Berechnungen von realistischen Effekten ausgeht, resultiert ein Return On Investment von rund acht Prozent.
Françoise Gehring (ihr Beschäftigungsgrad beim SEV: 80 Prozent) / Fi
TPG-Teilzeitmitarbeiterin: «Früher war es menschlicher»
Fragt man Marie (Name geändert), Teilzeitbusfahrerin bei den Genfer Verkehrsbetrieben TPG, was sie über die Situation der Teilzeitmitarbeitenden im Unternehmen denkt, antwortet sie: «Es ist eine richtige Katastrophe. Wir haben grosse Probleme mit den Vorgesetzten. Ein Chef hat plötzlich entschieden, dass alle gleich zu behandeln seien, unabhängig davon, ob wir Kinder haben oder nicht. Dienstpläne, die es ermöglichen, das Leben zu Hause zu organisieren, und unregelmässige Dienste wurden abgeschafft. Früher war es menschlicher. Die frühereDirektion hatte für die Teilzeitangestellten mehr Verständnis. Diese waren früher auch zahlreicher. Heute ist keine Gesprächsbereitschaft mehr vorhanden.»
Manche Teilzeiter/innen hätten die Arbeitsbedingungen nicht mehr ertragen: «Denn wir kommen bei der Dienstplanung immer zuletzt dran und sind gezwungen, zu nehmen, ‹was übrig bleibt›. Um sich diese Unannehmlichkeiten zu ersparen, wollten viele lieber wieder 100 Prozent arbeiten. Andere haben ihr Pensum reduziert, weil sie den Arbeitsrhythmus bei 100 Prozent nicht mehr ertrugen.» Diese Lösung wird vom Unternehmen wegen der steigenden Absenzenrate empfohlen (siehe Artikel zu den TPG): Leute sollen Teilzeit arbeiten, um besser in Form zu sein… Marie ergänzt: «Das Unternehmen denkt, dass Teilzeitmitarbeitende weniger müde seien, weil sie weniger arbeiten, und dass sie daher anstrengendere Dienstpläne verkraften könnten.»
Bei der Sektion SEV-TPG ist man der Meinung, dass die vom Unternehmen propagierte Teilzeitarbeit aus Gesundheitsgründen eine ungerechte und absolut verantwortungslose Massnahme ist. Um die Mitarbeitenden zu entlasten, müssen die Dienstpläne verbessert und längere Wendezeiten an den Endstationen vorgesehen werden, statt den Angestellten eine Pesenreduktion zu empfehlen, womit sie weniger verdienen.
«Insgesamt befürworten die TPG die Teilzeitarbeit, die die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben verbessern kann », sagt TPG-Sprecherin Isabel Pereira. «Sie ist in allen Bereichen möglich. Beim Betrieb denkt man über Lösungen nach, wie die Teilzeitarbeit unter Wahrung der organisatorischen Bedürfnisse gefördert werden kann.» Zurzeit sind 101 der 1748 TPG-Angestellten Teilzeiter/innen.
Henriette Schaffter (60%) / Fi