Pierre-Albert Voumard, Leiter und Chefarzt des MedicalService der SBB
«Im öffentlichen Verkehr können wir es uns nicht erlauben, mit der Sicherheit zu spielen»
Die SBB mustert ihren Dienstwagen für medizinische Untersuchungen aus. Dies nahm kontakt.sev zum Anlass, mit Dr. med. Pierre-Albert Voumard über den MedicalService der SBB zu sprechen, dem er seit 1996 vorsteht. Er trägt damit die schwere Verantwortung für die Untersuchungen zur Arbeitstauglichkeit in bestimmten Bahnberufen und für die periodischen medizinischen Kontrollen, die das Gesetz vorschreibt.
kontakt.sev: Warum mustert der MedicalService seinen Untersuchungswagen aus?
Dr. med. Pierre-Albert Voumard: Das Unternehmen hat dies einerseits deshalb beschlossen, weil der Wagen den technischen Anforderungen nicht mehr genügte und sehr teure Anpassungen nötig gewesen wären. Anderseits deshalb, weil die Zahl der Untersuchungen zunahm und es daher sehr schwierig wurde, den Wagenumlauf und die Untersuchungstermine der Mitarbeitenden aufeinander abzustimmen. Aber wir ersetzen den Wagen durch vier fixe Untersuchungsräume, die zu den drei bestehenden in Bern, Lausanne und Zürich hinzukommen. Damit können wir unsere Dienstleistungen verbessern und die Termine flexibler festlegen. Nachteilig ist, dass gewisse Mitarbeitende längere Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen.
Bio
Dr. Pierre-Albert Voumard wurde als Eisenbahnersohn am 16. August 1956 geboren. Er schloss sein Medizinstudium 1981 in Lausanne ab und wurde 1987 von der Universität Basel zum Dr. med. ernannt. Nachdem er als Assistenzarzt verschiedenenorts berufliche Erfahrung gesammelt hatte, trat er 1989 in den damaligen Ärztlichen Dienst der Bundesverwaltung, der PTT und SBB ein. 1990 erlangte er den Titel eines Spezialisten FMH in allgemeiner Medizin und 1994 in Arbeitsmedizin. Seit Mai 1996 ist er Leiter und Chefarzt des MedicalService. Im Jahr 2005 wurde er zum Präsidenten des Internationalen Verbandes der bahnärztlichen Dienste gewählt. Pierre-Albert Voumard ist verheiratet, hat drei Söhne und lebt mit seiner Familie in Villeneuve (VD).
Bei der SBB leiten Sie den «MedicalService. Ärztliche Kompetenz für Unternehmen». Warum steht «Unternehmen» in der Mehrzahl?
Arbeiten Sie auch für andere Unternehmen als die SBB? Ja, wir bieten unsere Dienste auch anderen konzessionierten Transportunternehmungen wie der BLS an, aber auch wie schon bisher der Post, der Bundesverwaltung, der SRG und weiteren Unternehmungen.
Könnten Sie den Dienst, den Sie leiten, kurz vorstellen?
Die Verwaltung des MedicalService, wo ich arbeite, ist im Bahnhof Bern im Bollwerk 4 und 6 untergebracht. In einem Nebengebäude befinden sich die Räume für die medizinischen Untersuchungen und ein Büro für die Terminverwaltung. Wir haben auch Untersuchungsräume in Lausanne und Zürich. Weitere haben wir als Ersatz für den Untersuchungswagen soeben in Bellinzona, Luzern und Muttenz eröffnet, ein weiterer kommt in den nächsten Monaten in St. Gallen hinzu. Letztes Jahr haben wir 4926 medizinische Untersuchungen durchgeführt. Unser Dienst beschäftigt zurzeit 42 Personen, darunter 15 Ärzte und Ärztinnen, 9 medizinische Praxisassistentinnen und 8 Arztsekretärinnen. Zudem arbeiten wir landesweit mit einem gut ausgebauten Netz von Vertragsärzt/innen zusammen.
Welchen Auftrag hat der MedicalService?
Wir untersuchen Mitarbeitende vor ihrer Anstellung sowie danach periodisch auf ihre medizinische Tauglichkeit zum Führen oder Begleiten von Zügen, wie dies die Verordnung des Uvek über die Zulassung zum Führen von Triebfahrzeugen der Eisenbahnen (VTE) vorschreibt. Wir machen die Kontrollen, welche die Richtlinie der SBB über den Einsatz und den Gesundheitsschutz im Rahmen der Nachtarbeit verlangt. Wir beurteilen auch die Arbeitstauglichkeit der übrigen SBB-Mitarbeitenden vor ihrer Anstellung oder nach einem Unfall oder einer Krankheit. Zu unserem Dienst gehört zudem der Bereich Betrieblicher Gesundheitsschutz, der unter anderem Risikoanalysen und technische Messungen am Arbeitsplatz vornimmt. Innerhalb der Geschäftseinheit Arbeitsmarktfähigkeit, Gesundheit und Soziales (AGS) der SBB arbeiten wir mit weiteren Diensten zusammen, zum Beispiel mit dem Sozialdienst oder dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM).
Wenn bei den periodischen Untersuchungen entschieden wird, dass ein Mitarbeiter seine bisherige Berufstätigkeit nicht weiterführen darf, hat dies für den Betroffenen einschneidende Folgen. Fallen Ihnen solche Entscheide nicht schwer, zumal die Kriterien, welche Bund und SBB vorgeben, doch manchmal sehr rigide sind?
Im öffentlichen Verkehr können wir es uns nicht erlauben, mit der Sicherheit zu spielen. Wir halten uns im MedicalService an eine einheitliche Doktrin, doch jede untersuchte Person ist ein Fall für sich. Wir sind uns bewusst, dass wir eine grosse Verantwortung tragen – nicht nur in medizinischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Doch Sie dürfen mir glauben, dass wir keinen Entscheid auf die leichte Schulter nehmen.
Immer mehr Eisenbahner/innen sind gestresst oder erleiden gar ein Burn-out. Haben Sie dies auch festgestellt?
In der Tat gibt es SBB-Mitarbeitende mit psychologischen Problemen, die wir auf ihre Arbeitstauglichkeit untersuchen müssen. Die Stressresistenz ist sehr individuell, und es gibt diese Art von Problemen auch bei anderen Unternehmungen.
Ja, aber es gibt ziemlich viele SBB-Mitarbeitende, die über die zahlreichen Restrukturierungen klagen, über den Druck, den ihre Vorgesetzten auf sie ausüben, damit die Ziele erreicht werden, und über den Druck seitens der Kundschaft …
Die SBB hat ihre Produktivität in den letzten Jahren gesteigert. Dies kann sich auf die Gesundheit einer gewissen Zahl von Mitarbeitenden auswirken und rechtfertigt die Ausarbeitung einer Gesundheitsstrategie, wie sie die Unternehmensführung letztes Jahr genehmigt hat.
Kümmert sich Ihr Dienst um Prävention?
Es sind die Geschäftseinheiten Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und SI (Sicherheit), die sich bei der SBB unter anderem mit Prävention beschäftigen. Natürlich tragen unsere Untersuchungen ebenfalls dazu bei, beispielsweise wenn dabei ein beginnender Diabetes oder zu hoher Blutdruck festgestellt wird.
Sie präsidieren den Internationalen Verband der bahnärztlichen Dienste. Was ist der Nutzen dieser Organisation?
Sie ist ein guter Ort für den Austausch über Erfahrungen und medizinische Arbeitsweisen. Beispielsweise beschliessen wir dort auch Stellungnahmen zuhanden der Europäischen Eisenbahnagentur zu bestimmten medizinischen Aspekten der EU-Richtlinie 2007/59 über die Zertifizierung von Triebfahrzeugführern im grenzüberschreitenden Verkehr.
Sie sind Arzt, doch Ihre Funktion scheint vor allem administrativer Art zu sein. Trauern Sie der praktischen ärztlichen Arbeit nicht nach?
Ich stehe den Ärzt/innen meines Dienstes zur Verfügung, um bestimmte Diagnosen zu überprüfen. Zudem kümmere ich mich weiterhin persönlich um die Mitarbeitenden des Industriewerks Yverdon und andere Berufskategorien bei externen Kunden. Diese Basisarbeit gibt mir nützliche Hinweise auf die Gesundheit des Personals und des Unternehmens. Als man beispielsweise über die Zukunft des IW Yverdon diskutierte, hatte dies sehr direkte negative Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Mitarbeitenden.
Interview: Alberto Cherubini / Fi