| Aktuell / SEV Zeitung

Abschiedsinterview

Jürg Hurni: «Solidarität ist wichtig»

Nach 30 Jahren bei der SBB – davon 28 Jahre als Kundenbegleiter – und nach 16 Jahren beim SEV als Verantwortlicher für den Personenverkehr SBB geht Gewerkschaftssekretär Jürg Hurni Ende Jahr in Pension.

Wie bist du Bähnler geworden? Gab es Vorbilder in der Familie?

Nein, in der Familie hat niemand bei der Bahn gearbeitet. Ich bin ein Bauernsohn, hatte aber schon früh den Wunsch, Kondukteur zu werden. Ich schrieb das in einem Aufsatz und beobachtete auf Schulreisen das Zugpersonal genau. Als ich mich dann bei der SBB für die Kondukteurlehre bewarb, vernahm ich, dass in jenem Jahr keine Kondukteure angestellt wurden. Darum machte ich 1978 zuerst eine Betriebslehre und arbeitete im Rangierbahnhof Biel, bevor ich 1980 die Kondukteurlehre beginnen konnte. 1991 machte ich die Zugchefausbildung und arbeitete im Depot Biel, bis ich am 1. Januar 2009 Gewerkschaftssekretär wurde.

Was hat dir am Beruf des Kundenbegleiters gefallen und was weniger?

Gefallen hat mir der Kontakt mit den Reisenden, dass ich in der ganzen Schweiz herumkam und natürlich die rote Tasche des Zugführers. Und die vielseitige Arbeit: Damals begleitete das Zugpersonal neben Regional- und Schnellzügen auch Güterzüge und Stückgut, machte auf Stationen Rangiermanöver, berechnete das Bremsverhältnis des Zuges usw. Schon damals gab es ab und zu renitente Reisende, vor allem Betrunkene, aber niemals in dem Ausmass, wie das heute der Fall ist. Das war und ist die unangenehme Seite des Berufs.

Damals war der Kondukteur wohl noch eine Autoritätsperson?

Ja, das drückte sich in der Uniform aus mit der Mütze und den Streifen dran.

Hat es dich gestört, dass du in den Zügen noch viel Zigarettenrauch eingeatmet hast?

Tatsächlich sah man in manchem Raucherabteil fast nichts vor lauter Rauch. Das war nicht speziell angenehm, aber damals normal.

Du hast beim SEV oft simultanübersetzt, diese Sprachbegabung konntest du als Zugbegleiter sicher auch ausleben?

Mein Schulfranzösisch habe ich in Biel und dann im Sprachaufenthalt in Delémont perfektioniert, wo ich nach der Lehre zwei Jahre gearbeitet habe. Zurück in Biel wurde ich nach einem Monat für ein halbes Jahr nach Zürich versetzt. Versetzungen waren damals üblich.

Kannst du Schulabgänger:innen diesen Beruf auch heute noch empfehlen?

Grundsätzlich ist der Beruf Kundenbegleiter:in immer noch attraktiv, doch gibt es Begleitumstände, bei denen die Unternehmung über die Bücher gehen muss, zum Beispiel beim unregelmässigen Dienst, welcher Auswirkungen auf das soziale Leben und die Gesundheit hat, vor allem beim Samstags-, Sonntags- und Nachtdienst. Oder beim Lohn, denn der Einstiegslohn liegt je nach Alter und Vorbildung nicht viel über 4000 Franken. Wenn jemand schon Erfahrungen aus einem anderen Beruf, womöglich im Kundendienst, und Sprachkenntnisse mitbringt, hilft das natürlich. Und unregelmässige Arbeit ist für etwas reifere Personen besser verkraftbar als für jene, für die der Ausgang am Samstag sehr wichtig ist.

Das sagst du aus eigener Erfahrung?

Als Jugendlicher war ich in einem Musikverein aktiv, was nach der Versetzung nach Delémont wegen der Distanz und der unregelmässigen Arbeit nicht mehr möglich war. Ich spielte dann im Eisenbahner-Sportverein Fussball und kann den Schweizerischen Sportverband öffentlicher Verkehr, wie der SVSE heute heisst, allen Sportler:innen im öV bestens empfehlen.

Wie bist du SEV-Mitglied und aktiver Gewerkschafter geworden?

Während der Lehre wurde ich einem Bahnhof zugeteilt, dessen Vorstand im SEV aktiv war. Er fragte am ersten Tag: «Bist du Mitglied im SEV?», und das wurde dann rasch erledigt. Das empfand ich aber nicht als Zwang, denn mir war damals schon klar, dass Solidarität unter dem Bahnpersonal wichtig ist und dass man aus diesem Grund in die Gewerkschaft eintritt. Etwa 1985 habe ich im ZPV Biel die damalige Sektionsaufgabe übernommen, Touren zu schreiben und in den Aushang zu bringen. Der Sektionspräsident unterstützte mich und ich übernahm weitere Ämter in der Sektion bis zum Präsidium. Ich wurde als Mitglied des Kreises 1 in den Zentralvorstand ZPV gewählt und später als Kreisvertreter. Zentralpräsident Jakob Tribelhorn förderte mich und ich wurde Vizezentralpräsident und bei seinem Rücktritt 2006 Zentralpräsident. Daneben war ich in der SBB-Personalkommission Zugpersonal und durfte diese auch präsidieren. Berufsbegleitend absolvierte ich die Gewerkschaftsschule. 

Aktion «Im Tunnel immer zu zweit» bei der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels im Juni 2007.
 

Begegnung mit Bundesrat Moritz Leuenberger in Visp 2007.
 

Aktion für die konsequente Doppelbegleitung in langen Tunnels im März 2007 im Tessin.
 

Als Zentralpräsident hast du im Jahr 2007 denkwürdige Aktionen organisiert …

Weil die orangen Kästen für die Zugabfertigung trotz mehrmaliger Meldung des Personals nicht repariert wurden, was den pünktlichen Verkehr und letztlich die Sicherheit gefährdete, hat der ZPV daran Kleber angebracht mit der Aufschrift «Die SBB repariert diesen Kasten nicht. Das Personal kann deshalb die pünktliche Abfahrt nicht garantieren.» Bei der offiziellen Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels in Visp forderte der SEV-ZPV mit einem Transparent, dass Züge, die lange Tunnels befahren, immer mindestens zwei Zugbegleiter:innen zugeteilt erhalten. Unsere Botschaft «Im Tunnel immer zu zweit» konnten wir an Bundesrat und Verkehrsminister Moritz Leuenberger persönlich übergeben. Und mit der Armbinde «Stopp Aggression» demonstrierten wir gegen Übergriffe auf das Personal. Ein Thema, das leider auch heute aktuell ist. Die Situation hat sich in letzter Zeit auch dadurch verschlechtert, dass die SBB im Jahr 2020 die vom SEV-ZPV vorher erreichte integrale Doppelbegleitung im Fernverkehr wieder aufgehoben hat.

Ab dem 1. Januar 2009 warst du als Gewerkschaftsprofi für die Division Personenverkehr mit heute rund 14 000 Mitarbeitenden zuständig. Was waren deine Aufgaben?

Als Leiter der Verhandlungsdelegation auf Stufe Personenverkehr habe ich in 16 Jahren über 200 Projekte analysieren und beurteilen müssen, neben den GAV-Verhandlungen. Zu jedem dieser Projekte musste nicht nur der SEV Stellung nehmen, sondern alle vier Sozialpartner der SBB als Verhandlungsgemeinschaft (VG), was ich zu koordinieren hatte. Daneben sind die individuellen Betreuungs- und Rechtsschutzfälle über die Jahre insgesamt immer arbeitsintensiver geworden. Aber schon im Jahr 2011 hat es wegen dem Lohnsystem Toco eine ganze Flut von Rechtsschutzfällen gegeben, und 2016 nochmals mit den neuen Berufsbildern im Bereich Operation. Damals wurden verschiedenste Berufe überarbeitet und neu bewertet, zum Beispiel im Rollmaterialunterhalt.

Wir können hier unmöglich alle Projekte und Probleme ansprechen, mit denen du zu tun hattest. Stichwort Unterbestände?

Diese gab es in vielen Kategorien immer wieder. Zum Beispiel beim Lokpersonal und Kundenbegleitpersonal ist man praktisch alle zwei Jahre in einen Unterbestand hineingerutscht, wie auch aktuell wieder beim Kundenbegleitpersonal. Generell hat der Fachkräftemangel bei der SBB zugenommen, und die unregelmässige Arbeit, auch am Samstag und Sonntag, ist bei der Personalrekrutierung ein Handicap …

Stichwort Temporärpersonal?

Störend bei der SBB ist, dass sie Temporäre nicht nur zur Abdeckung von Spitzen verwendet, was eigentlich Sinn macht, sondern zum Beispiel bei der Wagenreinigung mit Temporären rechnet, um günstiger offerieren zu können. Auch in den Industriewerken wird mit viel Temporärpersonal gearbeitet.

Stichwort «Schmutzzulage»?

Im Frühjahr 2019 wollte die SBB die Arbeitserschwerniszulage von 1 Franken 45 für das Reinigen von WCs in Reisezugwagen streichen. Dagegen intervenierte der SEV erfolgreich und mit grossem medialem Echo und konnte eine sehr gute Regelung zugunsten des Reinigungspersonals erreichen.

Stichwort «Enthumanisierung» der Bahn?

Trotz Gegenwehr des SEV hat die SBB in den letzten Jahren viele Verkaufsstellen geschlossen und in weiteren Zügen die Zugbegleitung abgeschafft, zum Beispiel 2013 im Rheintalexpress zwischen St. Gallen und Chur. Dank dem Contrat social im GAV konnten zwar Entlassungen vermieden werden und der SEV hat von der SBB auch eingefordert, Lösungen zu finden, damit möglichst niemand ins Arbeitsmarktcenter eintreten musste. Doch «enthumanisierte» Bahnhöfe und Züge sind für die Sicherheit der Reisenden subjektiv und objektiv nicht förderlich, und es mussten in den Zügen Stichkontrollen eingeführt werden sowie Bahnpolizist:innen, auch in den Bahnhöfen. Die Bahnpolizei bzw. Transportpolizei wurde übrigens vor Jahren aus der SBB ausgelagert und privatisiert, was sich aber nicht bewährt hatte. Darum hat man sie inzwischen wieder in die SBB integriert und ihr die nötigen Kompetenzen gegeben, damit sie ihre Aufträge erfüllen kann und in der Polizeilandschaft gut aufgestellt ist. Von unseren Mitgliedern gewünscht und nötig war zum Beispiel eine Dienstwaffe, und geprüft wird zurzeit auch die Einführung von Tasern. Ein Defizit gibt es allerdings auch hier beim Personalbestand …

Deine grössten drei Wünsche an die SBB?

Aufrechterhaltung der Sozialpartnerschaft. Mitberücksichtigung der Rückmeldungen der Mitarbeitenden, der Peko und des SEV bei Projekten. Und es braucht bei den Projekten eine Konsolidierungsphase, damit die Mitarbeitenden auch mal durchschnaufen können.

Mehrere Gewerkschaftssekretär:innen haben in den letzten Jahren den SEV nach relativ kurzer Zeit wieder verlassen. Welche Voraussetzungen muss man/frau für diese Funktion mitbringen?

Man muss eine dicke Haut haben, einen breiten Rücken, und man muss Menschen mögen. Berufserfahrung bei der SBB ist für ein SBB-Dossier sicher hilfreich. Und man muss damit leben, dass man viel unterwegs ist und oft lange Arbeitstage hat.

Deine Wünsche an den SEV?

Der SEV ist die Gewerkschaft des Verkehrspersonals. Daher soll sich der SEV weiterhin für gute Arbeitsbedingungen und einen gut funktionierenden öffentlichen Verkehr einsetzen.

Wann ist dein letzter Arbeitstag beim SEV, und wer sind deine Nachfolger:innen?

Letzter Arbeitstag war der 28. November, da ich noch Ferien abzubauen habe. Mein Nachfolger ist René Zürcher, die Gesamtkoordination der Peko-Wahlen übernimmt Susanne Oehler.

Worauf freust du dich als Pensionär?

Ich freue ich mich darauf, mehr Zeit für die Familie zu haben, insbesondere für die vier Enkelkinder, und für mich selber. Fehlen werden mir die Kontakte mit den Mitgliedern und den Arbeitskolleg:innen.

Markus Fischer

Jürg Hurni nach der Wahl als Zentralpräsident ZPV im Jahr 2007.
 

Jürg Hurni

Jürg wird im Dezember 1961 geboren und wächst auf einem Bauernhof im Seeland auf. Im April 1978 tritt er in die SBB ein. Er macht die Betriebslehre, ab 1980 die Kondukteurlehre, 1991 wird er Zugchef. In der ZPV-Sektion Biel übernimmt er Aufgaben bis zum Präsidium. Im Zentralvorstand ZPV vertritt er den Kreis 1, wird Vize- und Zentralpräsident (2006). 2001 bis 2008 präsidiert er die SBB-Peko Fläche Zugpersonal. Am 1. 1. 2009 wird er Gewerkschaftssekretär und übernimmt das Dossier Personenverkehr SBB. Er betreut auch Rechtsschutz-dossiers, koordiniert die Peko-Wahlen im SEV, macht Simultan- und schriftliche Übersetzungen Französisch–Deutsch. Per 1. Januar 2025 geht er in Pension. Er ist verheiratet, hat zwei (erwachsene) Kinder, eine Stieftochter und vier Enkelkinder. Hobbys: Familie, Garten, Lesen.