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Auf den Spuren von …

Kassandra De Giuli, Lokführerin und Betriebsmanagerin

Eigentlich ist Kassandra De Giuli Lokführerin. Nach der Geburt ihres Kindes musste sie ihr Tätigkeitsfeld neu organisieren. Sie schaffte es mit einem zweiten Job im Betriebsmanagement.

Am Bahnhof von Montreux ankommend, empfängt mich die 34-jährige Kassandra herzlich. Auf dem Bahnsteig erkennen wir uns sofort, beide tragen wir eine orangefarbene Weste. Um zum Kontrollturm der Montreux–Berner Oberland-Bahnen (MOB) zu gelangen, muss man die Gleise überqueren, auf denen Züge wie der GoldenPass Express durchfahren, den sie zu 20 % steuert. Heute arbeitet sie im Betriebsmanagement (GOP). Sie ist zu 60 % Mitarbeiterin für Betriebsmanagement in diesem «neuralgischen Zentrum» der MOB.

Man taucht sofort in die Betriebsatmosphäre ein. Im Vorbeigehen an der Werkstatt unterhalb der Betriebszentrale spricht sie einen Kollegen an. Er ist besorgt: Einer der beiden Rangierleiter der Werkstatt wird im Juli nicht verfügbar sein. Wie werden sie die Wagen, die repariert werden müssen, kein Wasser mehr haben oder schmutzig sind, zurückstellen? Es ist Teil von Kassandras Arbeit, sich um kurzfristige Probleme zu kümmern, die sowohl das Rollmaterial als auch das Fahrpersonal (Zugpersonal, Lokführer:innen, Bahnhofspersonal, Reinigungskräfte und Catering) betreffen: «Wir sind wie Vermittler zwischen allem, was fährt, und dem, was im Bahnhof ist. Der Zugchef ruft uns an und meldet das Problem. Wir benachrichtigen die Reinigungskräfte und den Rangierleiter, damit er den Zug mit einem Rangierlokführer auf ein Abstellgleis fährt, Wasser einfüllt oder die Toiletten leert. Sie haben rund 30 Minuten, bis sie ihn wieder ins Rollfeld stellen müssen, damit er weiterfahren kann. Mein Job ist es, alles Kurzfristige zu planen und Lösungen zu finden», fasst sie zusammen. «Gut, dass ihr gleich obenan seid», sagt der Kollege aus der Werkstatt. Denn seine Abteilung ist seit März von der Planung getrennt, die sich um alles Langfristige wie die Dienstpläne kümmert. Mit dem Umzug hat die GOP die Verwaltung verlassen, ist näher an die Instandhaltung gerückt und arbeitet mit der Zugleitung zusammen, was sehr praktisch ist. «Sobald es eine Störung gibt, wissen wir das und können uns organisieren und Verspätungen voraussehen. Unser Job ist es, im Notfall Lösungen zu finden, um den Lokführer zu ersetzen, wenn er nicht pünktlich kommt, und so den Zugausfall zu verhindern. In einer idealen Welt hätten wir Reservedienste. Ich schlage mich mit einem Lokführer im Rangierdienst durch. Manchmal ist es eine Zwickmühle!»

Im Büro der GOP angekommen, begrüsse ich ihre Kollegin und ihren Vorgesetzten, der nicht mit Lob spart: «Ich bin froh, Kassandra in meinem Team zu haben. Sie ist sehr dynamisch im Umgang mit Störungen.» Sie arbeitet mit nicht weniger als vier Bildschirmen, die ihr helfen, mit den verschiedenen Unwägbarkeiten umzugehen, die während des Tages auftreten. Sie erklärt mir das weitere Vorgehen: «Hier ist die Journal-Datei, da kommt alles rein. Wir sind die Zentrale für alles, was im Netz passiert. Wir tragen ein, dass der Spiegel der 252 versprayt wurde, und rufen den Reiniger an. Wenn uns jemand anruft, um uns mitzuteilen, dass er morgen nicht zur Arbeit kommen kann, wird dies notiert, zusammen mit der Massnahme, um die Person zu ersetzen.» Mitten in unserem Gespräch kommt ein Lokführerkollege vorbei und teilt mit, dass er die Tour des fehlenden Rangierleiters am 11. Juli übernehmen kann. «Super!», freut sich Kassandra, die eine Nachricht geschickt hatte, um den Einsatz zu organisieren.

Die Arbeit im GOP ist für Kassandra relativ neu. Bis März war sie zu 100 % Lokführerin. Sie begann bei der MBC, dem Verkehrsbetrieb, wo ihr Vater arbeitete und gewerkschaftlich im SEV aktiv war, bevor sie zur MOB wechselte. Bis sie schwanger wurde, arbeitete sie im gleichen Beruf wie ihr Partner, aber nicht in derselben Firma. Sie merkten, dass es sehr kompliziert werden würde, zu zweit mit unregelmässigen Arbeitszeiten und einem Baby. Wenige Wochen vor ihrer Entbindung im letzten Jahr erschien die Anzeige für eine Stelle bei der GOP. «Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Karriere als Lokführerin zugunsten einer Stelle opfern musste, die mit dem Familienleben vereinbar ist. Einmal mehr ist es die Frau, die ihre Karriere anpassen muss. Dennoch bereue ich nichts; ich mache diese Arbeit, die jeden Tag neue Herausforderungen mit sich bringt, gerne. Dafür ist es von Vorteil, vom Terrain zu kommen.»

Die Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub war für Kassandra schwierig: «Ich schätzte mich glücklich, nach viereinhalb Monaten Mutterschaftsurlaub wieder zu arbeiten, aber es war viel zu früh. Manche werden denken, dass das schon reiche. Man muss es aber selbst erlebt haben, um es zu verstehen.» Zudem wurde sie mit einer neuen Umgebung konfrontiert, mit neuen Kollegen und Gewohnheiten, die sich von jenen bei ihrer bisherigen Arbeit im Führerstand unterschieden.

Den SEV kennt sie seit ihrer Kindheit durch ihren Vater: «Ich bin eigentlich damit aufgewachsen! Bei der MBC war ich Sektionsaktuarin. Als ich hier anfing, wollte ich zuerst keine Gewerkschaftsarbeit übernehmen, aber ich habe mich trotzdem überzeugen lassen wieder einzusteigen – als Sekretärin der Sektion VPT-MOB.»

Warum ist es wichtig, in einer Gewerkschaft zu sein? «Ganz einfach, um unsere Rechte zu verteidigen. Eine Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen und der Gewerkschaft ist nötig, um diese Rechte zu garantieren, einen Rahmen zu schaffen und gute Beziehungen zwischen Management und Angestellten zu pflegen.»

Um ihr Gleichgewicht zu finden und neue Energie zu tanken, liest Kassandra gerne und wandert mit ihrem treuen Begleiter Billy auf den Jurakämmen, im Wallis oder in den Voralpen. So kann sie die Organisationsprobleme hinter sich lassen und das Panorama geniessen.

Yves Sancey