Matthias Hartwich
100 Tage im Amt: «Ohne Reibung keine Funken »
Anfang Jahr hat Matthias Hartwich sein Amt als Präsident des SEV angetreten. Am 1. Mai wird er in Weinfelden zum ersten Mal in dieser Funktion eine Rede zum Tag der Arbeit halten. Ein Interview über seine ersten Erfahrungen als SEV-Präsident.
Wie fühlst du dich nach 100 Tagen als Präsident des SEV?
Ich bin immer noch aufgeregt, immer noch neugierig, hochmotiviert und voller Feuer. Ich freue mich, mit allen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam für die Sache, für den SEV, arbeiten zu dürfen. Ich habe das gute Gefühl, jetzt schon in der Organisation angekommen zu sein, und dafür danke ich allen Kolleginnen und Kollegen, die dazu beigetragen haben.
Was waren deine schönsten Erlebnisse?
Einmal natürlich die Wahl selbst am 27. Oktober 2022. Das ist ein Datum, das ich nicht mehr vergessen werde. Besonders schön auch, wie ich von unseren Kolleginnen und Kollegen, vor allem von der Zentralpräsidentin und den Zentralpräsidenten, von allen Vorstandskolleginnen und -kollegen so herzlich aufgenommen worden bin. Auch die Geduld, wenn es darum geht, mir die Dinge zu erklären, die ich nicht oder noch nicht verstehe … Ich bin ja kein «Bähnler». Ganz besonders aber berührt mich die positive Energie, die ich in der Organisation spüre, und der Wille, gemeinsam zu gestalten. Ganz persönlich ist es für mich in den letzten drei Monaten am spannendsten gewesen, unsere Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz zu treffen. So durfte ich schon mit unserer «obersten Lokführerin», Hanny Weissmüller, auf dem Führerstand stehen und ihr über die Schulter schauen. Da ging ein «Bubentraum» von mir in Erfüllung. Ein anderes «Highlight» war der Besuch der Werkstätten der BLS, wo ich in einem funkelnagelneuen Triebzug stehen durfte. Ebenso spannend war der Blick hinter die Kulissen am Flughafen Zürich.
Was war deine bisher grösste Herausforderung?
Für mich war es am herausforderndsten, mich nach zehn Jahren internationaler Arbeit wieder im sozialen Dialog in der Schweiz zurechtzufinden, denn unser System ist sehr besonders und unterscheidet sich von den meisten Systemen der Welt. Auch ist es für mich immer noch herausfordernd, die sehr komplexen Strukturen unserer Gewerkschaft zu verstehen und allen Kolleginnen und Kollegen gerecht zu werden. Ich will alle treffen, habe aber auch nur 24 Stunden am Tag, und so muss ich manchmal Kolleginnen oder Kollegen vertrösten. Das belastet mich. Da muss ich diejenigen, zu denen ich es noch nicht geschafft habe, um ein wenig Geduld bitten.
Wo siehst du die Herausforderungen für den SEV, für den öV und die Gewerkschaftsarbeit ganz generell?
Wir müssen als SEV sehr genau darauf schauen, unseren verschiedenen Mitgliedergruppen gerecht zu werden. Einerseits ist es mein erklärtes Ziel, die Arbeit für und mit Frauen zu fördern. Und ich möchte ein besonderes Augenmerk unserer Jugend, also unseren jungen Kolleginnen und Kollegen schenken. Denn hier liegt eine wichtige Zukunftsaufgabe für uns. Gleichzeitig dürfen wir die Kolleginnen und Kollegen nicht vergessen, die zum Teil seit Jahrzehnten dem SEV treu sind: Den aktiven Kolleginnen und Kollegen in unseren diversen Unterverbänden, aber auch unseren Pensionierten. Da gilt es, eine ausgewogene Balance zu schaffen. Wir müssen – wie auch unsere vielen Sozialpartner – den anstehenden Generationenwechsel sauber und ordentlich bewerkstelligen, neue Beschäftigte – und für uns Mitglieder – gewinnen. Darüber hinaus ist es wichtig, herauszufinden, wo wir gemeinsame Interessen haben und wo wir mit unseren GAV-Partnern in die Auseinandersetzung gehen wollen und müssen.
Gemeinsame Interessen haben wir sicherlich, wenn es darum geht, das bewährte Schweizer Mobilitätssystem zu bewahren und auszubauen. Alle unsere Nachbarn beneiden uns darum. Das müssen wir gegen Angriffe aus der Politik schützen. Und da ziehen wir oft am selben Strick wie unsere Sozialpartner. Natürlich gibt es auch unterschiedliche Interessen, und hier kommt es darauf an, klar und deutlich zu sein und Position zu beziehen. Wir müssen den Konflikt beherrschen und die Auseinandersetzung, auch wenn wir zunächst immer den Dialog suchen. Reibung tut not, um Funken daraus zu erzeugen.
Was sagst du zu unseren Kolleginnen und Kollegen am 1. Mai, wenn du deine erste 1. Mai-Ansprache als SEV-Präsident hältst?
Das ist natürlich noch «geheim»; die Kolleginnen und Kollegen sollen ja noch zu den 1. Mai-Veranstaltungen gehen. Ich persönlich werde in Weinfelden mit den Kolleginnen und Kollegen den 1. Mai dort begehen. Auf jeden Fall müssen wir uns in diesem Jahr über das krasse Missverhältnis von Hilfsbereitschaft in der Politik unterhalten: Viel Hilfsbereitschaft und Nothilfe für die CS, aber keine Hilfe für und keine Solidarität mit den Rentnerinnen und Rentnern in der Schweiz. Das muss sich ändern. Ausserdem müssen wir die Angriffe auf den Service public stoppen. Das gilt insbesondere für den öffentlichen Personen- und Güterverkehr. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser auf Kosten von Liberalisierungsgelüsten verschlechtert wird. Stattdessen müssen wir dafür kämpfen, dass der öffentliche Verkehr noch attraktiver wird. Und dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen und angemessene Löhne. Wir als SEV sind das Sprachrohr der Männer und Frauen, die eine umwelt- und klimafreundliche und eine insgesamt sinnvolle Mobilität in der Schweiz liefern – und das an jedem Tag und bei jedem Wetter.
Michael Spahr