Zug- und Lokpersonal
«Weiterentwicklung Abfahrerlaubnis»: ein inakzeptables Projekt
Am 21. Juni 2023 hat die SBB den Gewerkschaften an der Infositzung Bahnproduktion ihre Studie bzw. ihr Projekt zur Weiterentwicklung der Abfahrerlaubnis bei SBB Personenverkehr vorgestellt («Kundenorientierter Abfahrtsprozess» KOA). Das Projekt ist für die betroffenen SEV-Unterverbände des Zug- und Lokpersonals völlig inakzeptabel.
Zum Projekt liegen bereits konkrete Pläne vor, wie dies zukünftig umgesetzt werden soll: Grundsätzlich soll die generelle Selbstabfahrt durch die Lokführerin/den Lokführer auch im Fernverkehr der SBB eingeführt werden. Davon ausgenommen wären lediglich Züge, welche mit Wagenmaterial wie Einheitswagen IV (EW IV), Eurocity-Wagen (Apm61 und Bpm61), IC2000/IC2020 formiert sind, sowie die lokbespannten Nachtzüge. Bei diesen genannten Zügen würde der bisherige angepasste Abfahrtsprozess beibehalten. Die Aussage der SBB, dass das Zugpersonal nach wie vor in den Abfahrtsprozess eingebunden ist, gilt es zu relativieren. In diesem neuen Abfahrtsprozess könnte das Zugpersonal über ein elektronisches Tool (App) noch ein «Veto» einlegen und so die Abfahrt hinauszögern. Erfolgt dieses «Veto» nicht, fährt die Lokführerin/der Lokführer von sich aus ab, sofern die betrieblichen und technischen Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Eine technische Abfahrverhinderung durch das eingelegte «Veto» erfolgt nicht, ebenfalls ist nicht sichergestellt, dass das elektronische «Veto» in jedem Fall rechtzeitig den Führerstand erreicht. Beim SMS dauert es bekanntlich bis zu 60 Sekunden, bis dieses, wenn überhaupt, den Führerstand erreicht (Beispiel Bahnhof Bern).
Diese Art von Prozess ist im ganzen Eisenbahnsystem völlig neu: Heute muss immer eine Aktion (Abfahrerlaubnis) ausgeführt werden, damit eine Reaktion (Abfahrt des Zuges) erfolgt. Neu müsste eine Aktion getätigt werden, damit KEINE Reaktion (Zug fährt nicht ab) erfolgt. Diese Umstellung steht damit völlig quer in der ganzen Prozesslandschaft.
Der seit dem Unfall vom 4. August 2019 in Baden (AG) eingeführte Abfahrtsprozess stellt auch sicher, dass sich das Zugpersonal wirklich im Zug befindet und handlungsfähig ist. Mit dem neuen Prozess ist dies so nicht mehr sichergestellt. Eine Handlungsunfähigkeit des Zugpersonals im oder ausserhalb des Zuges wird mit dem neuen Abfahrtsprozess nicht mehr detektiert. Der Zug würde immer wieder weiterfahren, da in einem solchen Fall kein «Veto» den Führerstand je erreichen wird. Beim heutigen Prozess würde der Zug in einem solchen Fall gar nicht abfahren und es würde ziemlich rasch nach den Ursachen dafür geforscht werden. Dieser heutige Abfahrtsprozess ist somit auch eine Art «Lebensversicherung» für das Zugpersonal.
Die SEV-Unterverbände des Zug- und Lokpersonals haben es an ihren Sitzungen vom 22. und 27. Juni 2023 einstimmig abgelehnt, dieses völlig inakzeptable Projekt in irgendeiner Form durch Einsitznahme in einem Soundingboard zu unterstützen bzw. sich daran zu beteiligen. Die SBB wurde aufgefordert, dieses Projekt umgehend einzustellen.
Argumente des LPV
Der Unterverband des Lokpersonals lehnt das Projekt auch aus folgenden Gründen ab:
• Der nach dem Unfall von Baden eingeführte Abfahrprozess wird vom Zugpersonal sehr konsequent eingehalten, ist klar strukturiert und bietet somit allen Beteiligten die grösstmögliche Sicherheit.
• Das Lokpersonal folgt einem eigenen etablierten Abfahrtsprozess. In diesen eine weitere, hochrisikobehaftete Kommunikationskomponente einzubauen wäre klar ein Rückschritt in der Sicherheit. Auch muss das Lokpersonal diesen Prozess unterbruchsfrei durchführen und diesen, wenn er durch äussere Einflüsse unterbrochen wird, neu starten.
• Die Abfahrt wird auch durch technische Unzulänglichkeiten verzögert. So vergehen z. B. beim FV-Dosto vom UIC-Schliessbefehl des Zugpersonals bis zum Erlöschen der Türverriegelungsanzeige im Führerstand (Aufhebung der Fahrsperre) bis zu 25 Sekunden. Darum ist der heutige sichere Abfahrtsprozess genügend früh einzuleiten, um eine Abfahrt «auf Zeigerschlag» zu ermöglichen.