Europäischer Gerichtshof
Urteil legitimiert Lohndumping im Zug
Die Revision der Entsenderichtlinie Mitte 2018 liess hoffen, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei Entsendungen eine arbeitnehmerfreundlichere Wendung bekommen könnte. Doch das Urteil vom 19. Dezember 2019 zum ungarischen Bahnrestaurateur «Henry am Zug» zeigt, dass der EuGH weiterhin tendenziell gegen den Lohnschutz und für die «Dienstleistungsfreiheit» von Firmen urteilt.
Konkret geht es um die Verpflegung in den Zügen der Österreichischen Bundesbahnen. Die ÖBB lagerten die Restauration im Jahr 2012 an eine österreichische Firma (Do & Co) aus. Diese wiederum vergab einen Teil der Aufträge an eine ungarische Tochter (Henry am Zug Hungary). Diese erbrachte die Dienstleistungen von 2012 bis 2016 in ÖBB-Zügen, die Salzburg (Österreich) bzw. München (Deutschland) mit Budapest (Ungarn) als Ausgangs- oder Endbahnhof verbanden. Die dafür eingesetzten Arbeitskräfte waren grösstenteils von einer ungarischen Leiharbeitsfirma ausgeliehen, die übrigen waren unmittelbar bei Henry am Zug Hungary beschäftigt. «Sämtliche (...) Arbeitskräfte waren in Ungarn wohnhaft und sozialversichert und hatten dort ihren Lebensmittelpunkt», heisst es im EuGH-Urteil. «Ausserdem hatten sie auch ihren Dienst in Ungarn anzutreten und dort zu beenden. In Budapest mussten sie die dort gelagerten Waren, nämlich Speisen und Getränke, ausfassen und in die Züge bringen. Ebenfalls in Budapest hatten sie die Kontrollen des Warenstands und die Abrechnungen der Umsätze durchzuführen. Somit wurden alle (...) Arbeitsleistungen mit Ausnahme jener, die in den Zügen durchzuführen waren, in Ungarn erbracht.»
Demgegenüber hält die Gewerkschaft Vida fest, dass es Dienstantritte nicht nur in Budapest gab, sondern auch etwa in Salzburg oder München, und Beladetätigkeiten auch in Wien und Salzburg. Laut Vida machte die Tätigkeit in Ungarn (Beladen/Entladen und Fahrt zwischen Budapest und Grenze) nur einen kleinen Teil (ca. 2 Stunden) der Gesamtarbeitszeit auf einer Zugfahrt aus. Auf manchen Fahrten wurde bis zu 72 Stunden ausserhalb des ungarischen Staatsgebiets in Österreich und Deutschland gearbeitet.
2016 wurden bei Lohnkontrollen am Hauptbahnhof Wien verschiedene Verstösse festgestellt. Laut Vida zahlte Henry am Zug Nettolöhne von 500 statt 1500 Euro im Monat. Der Firmenbesitzer erhielt Verwaltungsstrafen auferlegt, die das Verwaltungsgericht Wien bestätigte. Als zweite Rekursinstanz bat das höchste österreichische Verwaltungsgericht den EuGH um ein Gutachten.
Österreichisches Urteil kassiert
Der EuGH erklärte das erste Urteil für ungültig. Henry am Zug dürfe nicht gezwungen werden, österreichische Lohnvorschriften einzuhalten. Denn die Firma erbringe nur einen kleinen Teil ihrer Dienstleistungen in Österreich. Von der Entsenderichtlinie seien Dienstleistungen wie Bordservice, Reinigungsleistungen oder die Verpflegung der Fahrgäste in internationalen Zügen nicht erfasst, wenn die Arbeitnehmenden einen wesentlichen Teil der damit verbundenen Arbeit in dem Staat leisten, von dem aus sie entsandt werden, und wenn sie dort ihren Dienst antreten und beenden. Mit dieser Begründung schloss sich der EuGH der Sicht des Generalanwalts an, es liege kein Fall von Entsendung vor. Der Generalanwalt argumentierte, dass hier «hochmobile» Arbeitnehmende «in das Hoheitsgebiet des Zuges entsandt» würden und nicht nach Österreich. Es sei völlig unbeachtlich, wo sich der Zug gerade aufhalte. Der Arbeitnehmer beginne und beende seine Arbeit in Ungarn und habe dort seinen Lebensmittelpunkt. In solchen Fällen fehle die Verbindung zum österreichischen Hoheitsgebiet, und es sei daher unzulässig, den freien Dienstleistungsverkehr durch österreichische Vorschriften gegen Lohn- und Sozialdumping einzuschränken.
Eklatantes Fehlurteil
Das Urteil verkennt den Sachverhalt gründlich und zeigt, wie ideologisch gefärbt der EuGH und der Generalanwalt auch nach der Revision der Entsenderichtlinie die Arbeitgeberinteressen über den Schutz entsandter Arbeitnehmer/innen stellen. Das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» würde verlangen, dass im Service in Zügen der ÖBB österreichische Löhne bezahlt werden, spätestens sobald die österreichische Grenze passiert ist. Dass Waren teilweise in Budapest eingeladen und abgerechnet wurden, spielt keine Rolle, die entscheidende Dienstleistung wurde in Österreich erbracht. Der Entscheid zeigt einmal mehr: Der EuGH spricht sich tendenziell gegen den Lohnschutz und für die «Dienstleistungsfreiheit» für Firmen aus. Und er verneint nun in gewissen Fällen sogar das Bestehen einer Entsendung. Diese Rechtsprechung könnte sehr gravierende Folgen haben, da so die Entsenderichtlinie ganz umgangen werden kann, je nach Firmenkonstrukt und Arbeitsorganisation – auch bei anderen Verkehrsbeschäftigten und in anderen Branchen.
Da gegen das EuGH-Urteil nicht berufen werden kann, will die Gewerkschaft Vida nun zusammen mit ihren Dachverbänden Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) und Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) und deren Mitgliedorganisationen bei den Ministerien der EU-Staaten und den EU-Parlamentarier/innen dafür lobbyieren, dass die Entsenderichtlinie auf EU-Ebene repariert wird. Diese Kampagne wird auch der SEV unterstützen.
Text von Luca Cirigliano und Daniel Lampart, SGB; Kürzungen und Ergänzungen: Fi
Kommentare
Stettler Johann 26/02/2020 07:26:47
das sagt mir ganz klar, das mir gegen das Rahmenabkommen mit der EU und vor allem für die Begrenzungs-Initiative stimmen müssen.
Sonst gute Nacht Schweiz
Anmerkung Redaktion SEV:
Ja, das Rahmenabkommen in der vorliegenden Form gefährdet den Schweizer Lohnschutz, wenn ihn der EuGH aushebeln kann, und ist daher zu überarbeiten.
Jedoch zur Begrenzungs- bzw. Kündigungs-Initiative (sie fordert ja die Kündigung der Personenfreizügigkeit und stellt damit die Bilateralen Verträge in Frage) empfiehlt die SEV-Leitung wie der Schweizerische Gewerkschaftsbund ein Nein, denn sie schafft den wirksamen Lohnschutz der Flankierenden Massnahmen ab und führt zu erheblichen Problemen vor allem auch wirtschaftlicher Art.