So erleben SEV-Mitglieder die Coronakrise
Michele Jurietti (63), Chef Kundenbegleitung SBB
frg/ela Menschen über 60 Jahre gelten in gewisser Hinsicht als gefährdet. Michele Jurietti, Chef Kundenbegleitung, hat nie aufgehört zu arbeiten. “Schon zu Beginn der Pandemie, als die Tessiner Regierung bereits die ersten Restriktionen erlassen und das BAG die Verhaltensregeln empfohlen hatte, war ich besorgt. Mein Arbeitgeber schien tatenlos zu bleiben – abgesehen von den üblichen Empfehlungen zur korrekten Handhygiene. Meine Arbeit», erzählt er, «wurde beeinträchtigt, weil ich sehen konnte, wie die Situation im Tessin immer ernster wurde. Und als ich die Züge fast täglich bis nördlich der Alpen begleitete, schien es so, als würde man jenseits des Gotthards nicht merken, dass die Situation immer schlimmer wurde.» Die Besorgnis verbreitete sich verständlicherweise unter allen Mitarbeitern: «Da ich der als gefährdet geltenden Altersgruppe sehr nahe bin (ich wurde 1957 geboren), liess mich die Angst, die Arbeit mit dem gleichen Rhythmus und den gleichen Systemen fortzusetzen, nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich überlegte, die Fahrausweiskontrolle auf die Sichtkontrolle oder das Scannen zu beschränken. Während einer Schicht erhielt ich dann die neuen SBB-Richtlinien: Sie befreiten uns mit sofortiger Wirkung von der Kontrolle. Von diesem Tag an verrichteten wir nur noch die fahrdienstlichen Aufgaben und begleiteten die Passagiere.» Klar, hinterlässt die Coronakrise Spuren in der täglichen Arbeit: «Ich werde im Umgang mit der Person neben mir vorsichtiger sein müssen. Zu ihrer und zu meiner eigenen Sicherheit.»
Wir bewegen uns nun auch im öffentlichen Verkehr auf eine allmähliche Wiedereröffnung zu, mit welchen Bedenken? «Ich bin gespannt», sagt der Tessiner Kundenbegleiter, «wie sich die Unternehmen unter Einhaltung aller Regeln optimal für den Transport der Reisenden organisieren werden. Ich hoffe auf mehr Klarheit, um meine Sicherheit und die aller Reisenden gewährleisten zu können. Allerdings – und das beunruhigt mich – wird es unmöglich sein, das «Social Distancing» einzuhalten, insbesondere zu Stosszeiten. Das wird eine grosse Herausforderung für die SBB werden.» Maskenpflicht während der Reise für die Kunden und das Personal? «Das hoffe ich nicht», so Michele Jurietti, «aber für den Moment sehe ich es als die einzig mögliche Lösung, wenn man wieder in grosser Zahl und mit persönlicher Sicherheit reisen will.»
Mathias Gay-Crosier (49), CGN-Schiffsführer und Sektionspräsident VPT Lac Léman
ysa/Fi «Nach anderthalb Monaten halbem Ausgehverbot freuten sich die meisten von uns Mitarbeitenden der CGN (Genfersee-Schifffahrtsgesellschaft) darauf, die Arbeit in der Werft wieder aufzunehmen und uns wiederzusehen. In den Wochen des Lockdowns war die Stimmung auf den Schiffen, die weiterfuhren, gelassen. Die CGN setzte rasch Schutzmassnahmen um und ging auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden ein. Besondere Rücksicht erfuhren gesundheitlich gefährdete Personen und Kolleg/innen, die zur Betreuung ihrer Kinder zu Hause bleiben mussten. Schutzmaterial und hydroalkoholisches Gel stand auf jedem Schiff rasch zur Verfügung. Der Sektionsvorstand informierte auch ausführlich über die von der Leitung getroffenen Massnahmen, was zu einem Klima des Vertrauens beitrug.
Zu Beginn der Pandemie befürchteten die Kolleg/innen vor allem, sich beim engen Kontakt mit den Fahrgästen bei der Fahrausweiskontrolle oder beim Verkauf anzustecken. Beruhigend war es zu wissen, dass jede/r beim ersten Auftreten von Krankheitssymptomen sofort ersetzt würde, um eine Ansteckung unter Kolleg/innen zu vermeiden.
Während dem Lockdown war das Verhältnis zu den Reisenden gut. Sie respektierten unsere Anweisungen wie z.B. die Aufforderung, nur jeden zweiten Sitz zu benutzen. Ich denke, dass die Massnahmen zur Begrenzung der Fahrgastzahl auf den Schiffen dazu beitrugen, den Umgang zwischen Personal und Fahrgästen zu entspannen.
Seit dem 11. Mai gilt nun wieder der normale Fahrplan, und die Beschränkung der Fahrgastzahl auf den Schiffen ist gelockert worden. Wir befürchten, dass wir uns an Bord bald mit allzu vielen Menschen wiederfinden werden, welche die Abstandsregeln nicht mehr einhalten können, sodass das Tragen von Masken sehr zu empfehlen sein wird. Zur Fahrausweiskontrolle mischen wir vom Personal uns auch noch unter die Fahrgäste. Eine solche Atmosphäre könnte rasch Angst machen. Wie werden die Leute darauf reagieren? Wir von der Gewerkschaft werden die Entwicklung der Situation sehr aufmerksam verfolgen und rasch intervenieren, wenn wir der Ansicht sind, dass die Unternehmensleitung zusätzliche Massnahmen zum Schutz des Personals ergreifen muss.»
Fritz Haenni (57), Buschauffeur TPF und Sektionspräsident SEV-VPT TPF
ysa/chf «Ich arbeite zu 100 Prozent als Buschauffeur in Freiburg. Es ist nicht angenehm, in dieser Krise zu arbeiten. Vor allem die Nachtdienste sind sehr speziell. Manchmal, wenn ich spätabends durch die verlassene Stadt Freiburg fahre, fühle ich mich wie in einem Zombiefilm. Es ist wirklich absurd. Ich bin froh, dass die vorderste Türe geschlossen und die erste Sitzreihe hinter mir leer bleibt. Die Sicherheitsmassnahmen sind ausreichend für mich: Derzeit sind meistens nur fünf bis zehn Fahrgäste im Bus. Vor jedem Fahrerwechsel wird der fürs Fahrpersonal reservierte Bereich nach Ankunft des Busses im Bahnhof oder in den grossen Depots desinfiziert. Das ist eine gute Sache. Trotzdem desinfiziere ich das Lenkrad und meine Hände jeweils noch einmal zu Beginn meiner Schicht. Vorbeugen ist besser als heilen. Seit langem bleiben die Fahrer, die einer Risikogruppe angehören, zu Hause. Glücklicherweise erhalten sie weiterhin 100 Prozent ihres Lohnes.
Als Gewerkschafter und Präsident der TPF-Sektion ist es unglaublich hart – ich habe sehr viel mehr Arbeit als gewöhnlich. Ich bin die erste Anlaufstelle für Fahrer, die Fragen haben. Viele haben Angst. Dabei geht es nicht primär um das Coronavirus. Sie bangen mehr um ihre Existenz. Vor allem Teilzeitangestellte und Ersatzfahrer haben Angst, ihre Stelle zu verlieren. Ich halte mich über die Entwicklungen bezüglich des Virus stets auf dem Laufenden. Aber manchmal muss ich mich abgrenzen, sonst wird es ungesund.
Es ist noch etwas unklar, wie es nun auch mit der Wiederaufnahme der Schulen und fast normalen Busfahrplänen weitergehen wird. Sicher ist, dass wir ein Schutzglas für die Fahrer fordern werden, falls wir wieder Fahrkarten im Bus verkaufen müssen. Ohne ein solches werden wir die vordere Türe nicht öffnen. Wir sind im Gespräch mit der Geschäftsleitung, die Verständnis für diese Frage zeigt und uns bereits Prototypen präsentiert hat.»
Simon Stieger (34), Lokführer RhB
ela «Für das Lokpersonal hat sich der Arbeitsalltag in den letzten Wochen gar nicht so fest verändert: Wir haben uns öfter und länger die Hände gewaschen und den Führerstand bei jeder Dienstübergabe desinfiziert. Es war allerdings schon seltsam, ohne Zugpersonal und mit so wenig Passagieren unterwegs zu sein.
Die meisten Diskussionen gab es für das Lokpersonal um die Ausbildung in den Führerständen. Im Moment werden bei uns drei Klassen ausgebildet: zwei normale und eine Umschulerklasse. Mit Beginn der Massnahmen wurde der Ausbildungsbetrieb sofort eingestellt, da der Mindestabstand von zwei Metern im Führerstand nicht eingehalten werden kann.
Danach ist es seitens RhB kommunikativ leider sehr unglücklich gelaufen: Einerseits wollte man die Lokführerausbildung möglichst schnell wieder aufnehmen, denn im Sommer läuft die RhB im vollen Fahrplan, wir haben viele neue Triebfahrzeuge und zudem einen deutlichen personellen Unterbestand. Dieser verschärft sich natürlich, wenn die angehenden Lokführer nicht mit ihrer Ausbildung fertig werden. Leider hat man das Personal bei der Planung des weiteren Vorgehens bezüglich Ausbildungen aber nicht genügend miteinbezogen und von oben herab entschieden. Das führte zu einigem Unmut.
Nach einigem Hin und Her sind wir aber inzwischen zu einem gangbaren Kompromiss gekommen. Bei der Ausbildung tragen wir nun eine Schutzmaske und können wählen, ob wir mit einer chirurgischen oder einer FFP2-Maske arbeiten wollen.
Seit Anfang Mai bin ich selbst als “Junior-Praxisinstruktor” tätig. Den Einstand als Ausbildner habe ich mir natürlich anders vorgestellt, aber ich kann mich mit der Maske und der aktuellen Situation gut arrangieren. Wir gewöhnen uns auch an den Umgang mit der Maske, denn im Gegensatz zum Spital ist die korrekte Handhabung im Führerstand oder in der Pause nicht immer so einfach.»
Rita Blatecki (56), Reiseberaterin SBB
Fi Die 56-Jährige arbeitet seit 20 Jahren am SBB-Schalter Change/Finanzdienstleistungen im Hauptbahnhof Zürich, „unter dem Engel“. „Zuerst haben wir dieses Virus locker genommen“, sagt sie. Doch als es in Italien viele Tote gab, hätten alle gemerkt, dass es ernst gilt. Wer in ihrem Team zu einer Risikogruppe gehört, durfte zu Hause bleiben, sowie anfangs auch Angehörige von Risikopatienten. Letzteres traf auf Rita Blatecki zu, und so arbeitete auch sie eine Woche im Homeoffice, zum Teil für ihre Personalkommission, und machte z.B. auch Lernsequenzen zu neuen Tools. In der zweiten Woche hatte sie Ferien. „Das Virus war für die Peko DAS Thema. Gerade das Schalterpersonal fühlte sich zuerst im Stich gelassen, weil es noch lange ohne Plexiglasschutz mit Geld, Abos und Kundenhandys hantieren musste, während das Verwaltungspersonal ins Homeoffice durfte.“ Ab der dritten Woche rief die SBB die Angehörigen von Risikopatienten auf, wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Seither arbeitet Rita Blatecki wieder am Schalter, aber unter strikter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln, auch wenn sie für sich selber keine Angst hat. Die Glasabtrennung zur Kundschaft war hier nie entfernt worden, doch für das Social Distancing im Team wurde zwischen den Schaltern Plexiglas installiert. Glücklicherweise steht im Büro ein Lavabo zur Verfügung, das grundsätzlich rege benutzt wird. Zusätzlich wurde das Team nun ausreichend mit Desinfektionsmitteln ausgerüstet. Die Kundenzahl hat seit dem Lockdown massiv abgenommen, vor allem beim Geldwechsel, während die Western-Union-Kund/innen „gefühlt“ eher zunahmen. Letzteren erklärt Rita Blatecki nun noch aktiver, wie sie Überweisungen mit einer App an jedem SBB-Billettautomaten machen können. Viele sind dafür offen. „Damit werden wir nicht arbeitslos, weil wir weiterhin Support leisten“, ist Rita Blatecki überzeugt. Statt Handys von Kunden in die Hand zu nehmen, lässt sie diese die Eingaben selber machen. Und sie lobt ihre Einteiler/innen: „Sie haben einen Riesenjob gemacht, denn sie mussten alle Verstärkungen für die gewöhnlich arbeitsreichen Monate April und Mai umteilen. So erhielten einige von uns auch unübliche Arbeiten zugewiesen, wie Unterstützung des CC Brig, Selbstlernzeit oder spontane Freizeit. „Denn einfach Zeit absitzen, das geht nicht!“
Gurvinder Singh (36), Steward bei Elvetino
Fi Der 36-Jährige serviert seit 2011 in Speise- und Bistrowagen von Elvetino, der Bahngastronomietochter der SBB. Nach der Schliessung aller Wagen am 14. März wurde er noch an einem Tag an seinen Dienstort Zürich aufgeboten, um in Speisewagen Esswaren aus Trollys auszuräumen. Seither konnte er nicht mehr arbeiten, muss aber täglich von 8 bis 18 Uhr auf seinem Elvetino-Handy erreichbar sein und darauf regelmässig die Mitteilungen checken. Bis zum 4. Mai hatte er an vier Tagen eine rund zweistündige Tele-Ausbildung via Internet, gleichzeitig mit fünf bis sieben Kolleg/innen. Inhalte waren die Elvetino-App und Konversationstrainings auf Französisch und Italienisch. Den Lohn für seine 80%-Festanstellung erhält er vollständig weiter (2800 Franken netto pro Monat). Ein Pflichtbezug von Überzeit oder Urlaub ist nicht vorgesehen. Seinerseits hat er erst für August Ferien eingegeben. Elvetino will am 8. Juni die Speisewagen auf den Hauptlinien 1 und 8 wieder öffnen. Gurvinder Singh ist froh darüber, denn je länger der Lockdown dauert, desto mehr befürchtet er, dass Elvetino irgendwann Entlassungen und sonstige Sparmassnahmen ergreift. „Im Moment können wir nur warten und schauen“, sagt er mit spürbarer Sorge. Er hat aber auch Respekt vor dem Risiko einer Ansteckung, vor allem wegen der finanziellen Folgen: Selbstbehalt von 2500 Franken bei medizinischen Kosten und Wegfall seiner Einkünfte aus Umsatzbeteiligung (30 bis 100 Franken pro Monat) und Trinkgeldern (ca. 200 bis 300 Franken), wenn er nicht mehr arbeiten könnte. Diese Einkünfte fehlen ihm aber natürlich auch jetzt ...
Oliver Passaglia (37), Flugzeugschlepperfahrer bei Swissport
Fi Der 37-Jährige ist Pushbackfahrer bei Swissport am Flughafen Zürich, schleppt also Flugzeuge mit einem Traktor. Zudem ist er Instruktor und Mitglied der Personalkommission. Sein Team arbeitet in vier Schichten rund um die Uhr. Bis Anfang März standen bis 13 Leute gleichzeitig im Einsatz, nun genügen wegen der Coronakrise viel weniger. Im April haben er und seine Arbeitskollegen im Schnitt nur noch einen Tag pro Woche gearbeitet, im Mai sieht es gleich aus. Zum Glück müssen auch abgestellte Flugzeuge regelmässig unterhalten und bewegt werden, sonst wäre es noch schlimmer. „Zurzeit sind die Terminals menschenleer und auf dem Flugfeld hört man sogar den Wind pfeifen“, sagt Oliver Passaglia. Diese gespenstische Ruhe beunruhigt, alle machen sich Sorgen um die Zukunft des Unternehmens. „Obwohl wir daran glauben, dass es unsere Jobs weiterhin brauchen wird.“ Bis Ende Jahr hofft Swissport wieder auf 75% des normalen Umsatzes und bis Mitte 2021 auf eine Normalisierung. Wegen der chinesischen Besitzer und der internationalen Unternehmensstruktur erhält Swissport momentan keine Staatshilfe in der Schweiz. Immerhin haben zurzeit alle Mitarbeitenden Anspruch auf die Kurzarbeitsentschädigung von 80% des Lohns. Swissport bezahlt die fehlenden 20% bisher nicht, anders als etwa die Flughafen AG. Oliver Passaglia selbst erhält seit 1. April nur noch 80% von 80%, weil er sein Pensum, wie schon lange geplant, um 20% reduziert hat, um einem Kollegen gelegentlich in dessen Garage auszuhelfen. Automechaniker ist ja sein ursprünglicher Beruf. Zu Beginn der Krise rief Swissport zum Beziehen von Überzeit und Ferien auf, doch seit die Kurzarbeit bewilligt wurde, ist dies kein Thema mehr. Eingegebene Ferien müssen aber bezogen werden. Ob Oliver Passaglia diese Woche in seinem Urlaub Verwandte in Deutschland besuchen kann, ist fraglich. Die Umsetzung des Social Distancing (auch im Pausenraum) und sonstiger Massnahmen gegen die Ansteckung mit Sars-Covid-19 (z.B. Desinfektion von Steuerrad, Hebeln und Knöpfen am Traktor) ist bei den Pushbackfahrern einfacher als im Check-in. Für sich selber hat Oliver Passaglia keine Angst, unterstützt aber den Schutz von Risikogruppen voll und ganz.