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Zwei Aufrufe

Für eine menschliche, solidarische Schweiz

In diesen düsteren Momenten der Pandemie Covid-19, wo viele Menschen einen Freund oder Bekannte verloren haben, hat sich ein Teil der Gesellschaft den Werten der Solidarität, der Achtsamkeit und der gegenseitigen Aufmerksamkeit zugewandt. Die Unsicherheit um unser Leben hat uns mit einer Reihe von teils tief gehenden Fragen konfrontiert. Einige haben sich gefragt, ob wir aus dieser Krise etwas lernen werden. Viele hoffen es, andere sind zynisch überzeugt, dass sich nichts ändern wird. Vielleicht sind wir danach sogar schlechter und individualistischer als zuvor. Aber wie der grosse Schriftsteller Eduardo Galeano sagte, müssen wir daran glauben, dass eine bessere Welt möglich ist: «Die Utopie steht am Horizont. Ich gehe zwei Schritte auf sie zu, sie entfernt sich zwei Schritte, und der Horizont geht zehn weitere Schritte zurück. Wozu denn die Utopie? Ganz einfach: damit wir weitergehen.» Gehen, weitergehen, um andere Wege zu entdecken, ist das Ziel von zwei Aufrufen, die seither erfolgt sind: Der «Aufruf vom 4. Mai» und «Solidarisch aus der Krise».

Beginnen wir mit dem ersten: Der Aufruf vom 4. Mai – dessen Name die Aktion mit dem Beginn der ausserordentlichen Session der eidgenössischen Räte in Verbindung bringen will – verlangt den Aufbau einer anderen Zukunft, menschlicher und nachhaltiger. Im Aufruf steht: «Seit Beginn der Quarantänemassnahmen haben sich unser Leben und unsere Gewohnheiten drastisch verändert. Wir alle haben ungewöhnliche Erfahrungen gemacht, die unsere Lebensweise und unsere Werte in Frage stellen, manchmal mit Schmerzen, aber auch mit Freude über die Wiederentdeckung der sozialen Beziehungen und der Natur.»

Viele von uns wollen einen Neuanfang, eine Veränderung gegenüber der Zeit vor der Pandemie mit einer Welt, bedroht von der Klimakrise, geprägt durch die Ausbreitung von Diskriminierung und Armut. Schlichtweg eine Welt ohne Nachhaltigkeit. Krisen sind zwangsläufig Schlüsselmomente, die neuen Möglichkeiten Raum bieten, betonen die Autorinnen und Autoren des Aufrufs.

Sind wir dazu fähig, genügend Druck aufzubauen, damit das Wirtschaftssystem die Richtung ändert und vom Grundsatz des «business as usual» abweicht, wie es der Aufruf fordert? «Wir alle haben erfahren, was wesentlich und was überflüssig ist. Wir alle haben gesehen, dass unser Überleben von vielen Berufen in den Bereichen Gesundheit und Ernährung abhängt, Berufe, die oft unterbewertet werden. Wir alle haben erkannt, dass der Überfluss an Nahrungsmitteln unbeständig ist. Die globalisierte Produktion der Nahrungsmittel – unterstützt von unseren Regierungen – geschieht oft auf Kosten der Natur und Umwelt. Jede und jeder hat die Bedeutung der Stellung der Frau in unserer Gesellschaft erfahren.» Aus allen diesen Gründen fordert der Aufruf eine sozialere Schweiz: eine Schweiz, die die Berufe aufwertet, die sich in den Krisenzeiten als unentbehrlich gezeigt haben; die die Bedeutung der Hausarbeit anerkennt, die meist von Frauen erledigt wird; eine ökologischere Schweiz, die eine nachhaltige Wirtschaft unterstützt und die Abhängigkeit vom Ausland reduziert.

Vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB kommt der Aufruf «Solidarisch aus der Krise». Er stellt den Erhalt der Kaufkraft der betroffenen Personen in den Mittelpunkt. Der SGB erinnert im Aufruf daran, dass der Bund den Unternehmen 60 Milliarden Franken garantiert, um die Krise zu bewältigen, die durch die Corona-Pandemie verursacht wurde. Dennoch steigt die Arbeitslosigkeit stark an. Das darf nicht sein. «Die Unternehmen erhalten Unterstützung, damit sie Arbeitsplätze erhalten und Löhne weiterzahlen, statt Dividenden an die Firmenbesitzer auszahlen. Darum darf es keine Corona-Entlassungen geben!», heisst es im Aufruf.

Die Zahlen der Krise sind alarmierend. Über 1,5 Millionen Arbeitskräfte sind in Kurzarbeit und erhalten nur 80 Prozent ihres üblichen Lohns. Das bedeutet für viele von ihnen, dass sie ernsthaft Schwierigkeiten haben, den Alltag zu bewältigen. Deswegen fordert der SGB, dass Löhne bis 5000 Franken netto vollumfänglich ausgeglichen werden. Auf 20 Prozent des Lohns verzichten zu müssen, heisst in vielen Fällen, dass es nicht mehr reicht, um sich durchzuschlagen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Beschäftigten in Hotellerie und Gastronomie, deren Durchschnittslöhne bei Vollzeitbeschäftigung bei 4100 Franken liegen. Wenn 20 Prozent wegfallen, bleibt noch ein Lohn von gerade einmal 3300 Franken im Monat! «Rund die Hälfte der Personen in Kurzarbeit arbeitet in Branchen mit Tieflöhnen», hält der Aufruf fest.

Die Kaufkraft zu erhalten ist von zentraler Bedeutung, wie der SGB seit Jahren betont. «Dies gilt besonders für die Angestellten mit unteren und mittleren Einkommen, die mit den Problemen der Kinderbetreuung, der Unsicherheit am Arbeitsplatz und bei der Gesundheit nahestehender Personen schon genug Sorgen haben.» Allen ist klar, dass sich die dramatischen Folgen der Pandemie sowohl in sozialer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht erst im Jahr 2021 voll zeigen werden. Aber die Politik hat schon jetzt die Pflicht, sich umgehend darum zu kümmern, dass die Arbeitsplätze garantiert sind und die Krise nicht auf den Schultern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgetragen wird.

Françoise Gehring/Medienberichte;
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Übersetzung: Peter Moor

Aufruf vom 4. Mai: aufrufvom4mai.ch/
Für eine solidarische Schweiz: solidarisch-aus-der-krise.ch/

Kommentare

  • Cassie Weber

    Cassie Weber 28/05/2020 07:37:26

    Das entspricht nicht der Realität: In diesen düsteren Momenten der Pandemie Covid-19, wo viele Menschen einen Freund oder Bekannte verloren haben.... Ich arbeite beim Zugpersonal und ich kenne niemanden, der Sars Cov2 hatte, weder Infizierte, noch Kranke und schon gar keine Toten. In der Schweiz leben 8.5 Millionen Menschen und 1649 sind an bzw. mit Covid -19 gestorben. Das sind 0.019% .
    Hier werden Ängste beschworen, die in der Realität nicht existieren. Ich frage mich warum?

  • mfischer

    mfischer 28/05/2020 09:16:43

    Liebe Cassie, auch auf mich wirkt der von dir zitierte Satz etwas gar dramatisierend, erst recht jetzt, wo sich die sanitäre Lage weiter entspannt hat und der Bundesrat weitere Öffnungsschritte beschlossen hat. Doch inhaltlich ist er für mich persönlich nicht falsch: Sogar in dem kleinen Waadtländer Dorf, wo ich wohne, sind mehrere Leute an Covid-19 erkrankt, und zwar ein paar ziemlich schwer. Ein älterer Mitbürger ist daran gestorben, ohne dieses Virus würde er heute noch leben. Sicher ist, dass diese Coronakrise individuell sehr verschieden erlebt wurde und dass auch die wirtschaftlichen Folgen individuell sehr verschieden sind. Es gibt auch in der Schweiz viele, die jetzt mit grossen finanziellen Problemen kämpfen, weil sie ihr Einkommen teilweise oder ganz verloren haben, sei es als (Ex-)Angestellte, Gewerbler, Wirte oder sonstige Selbständigerwerbende. Im Kern meinen beide Aufrufe vor allem, dass wir einander in dieser Lage helfen sollen. Dass jede/r Einzelne von uns und jede Berufsgruppe erst mal vor allem für sich selber und die eigenen Angehörigen schauen muss, ist klar, doch jetzt ist wirklich auch Solidarität gefragt, im Interesse aller. So verstehe ich die Aufrufe grundsätzlich, über die Details der Umsetzung darf und muss man diskutieren.

    Markus Fischer, Kommunikation SEV