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Interview mit der Psychologin Liala Cattaneo, Spezialistin für psychosoziale Beschwerden am Arbeitsplatz

Wenn die Arbeit zum Leiden wird

Zahlreiche nationale und europäische Studien bestätigen es: Am Arbeitsplatz kommt es zu immer schwereren gesundheitlichen Beschwerden, als Folge von Stress, Burnout, Konflikten und psychologischen Belastungen.

Eine Studie des Seco, die am 21. Juni erschienen ist, bestätigt die Ernsthaftigkeit von psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz. Was sehen Sie in Ihrem beruflichen Alltag?

Aufgrund der Studie des Seco und anderer Untersuchungen, die in den letzten Jahren in der Schweiz und ganz Europa durchgeführt wurden, kann ich nur bestätigen, dass sich auch in unseren Breitengraden immer stärker psychosomatische Beschwerden zeigen, die auf Stress, Burnout, Konflikte und psychologische Belastungen zurückzuführen sind. Die psychische und physische Gesundheit hängt von vielen persönlichen und sozialen Kriterien ab. Die Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil unseres Alltags hinsichtlich der persönlichen Entwicklung, der Selbstverwirklichung und der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Allerdings hat eine Reihe von wichtigen Veränderungen im sozio-ökonomischen Bereich in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass gewisse Arbeitsumstände unser Wohlbefinden und die Gesundheit belasten. Übertriebene Arbeitsbelastung, hoher Rhythmus, Arbeitsplatzunsicherheit, variable Einsatzzeiten, wenig persönlicher Spielraum und Konflikte sind nur einige der Faktoren, denen Arbeiterinnen und Arbeiter täglich begegnen. Wenn die persönlichen und sozialen Ressourcen nicht genügen, um die Anforderungen zu bewältigen, können sich längerfristig negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit ergeben. Die Schwierigkeit, mit diesen Umständen umzugehen, kann eine Person schliesslich dazu bringen, dass sie sich Verhalten aneignet, die der eigenen Gesundheit schaden, wie beispielsweise erhöhter Konsum von Alkohol, Medikamenten oder psychoaktiven Substanzen, schlechte Ernährung oder Bewegungsmangel, was einen bereits gefährdeten oder angegriffenen Zustand verschlimmert.

Wer nutzt am meisten die Dienste des Laboratoriums für psychische Belastungen am Arbeitsplatz? Welche Anliegen stehen im Vordergrund?

Das Laboratorium für psychische Belastungen am Arbeitsplatz ist ein Dienst, der allen offen steht, die im sozialen, familiären, wirtschaftlichen oder rechtlichen Bereich Probleme oder Störungen haben, deren Ursache eine schwierige oder problematische Arbeitssituation ist, wie etwa Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Konflikte am Arbeitsplatz, Mobbing/Belästigung, Burnout, Stress und Kündigung. Wir bieten persönliche Sprechstunden auf der Basis des Gesprächs sowie medizinische, psychologische und soziale Unterstützung, indem wir versuchen, einen Weg zu konkreten Lösungen aufzuzeigen und die Hilfsmittel zu bieten, die nötig sind, um die persönlichen Fähigkeiten auszuschöpfen oder besser mit schwierigen Entscheiden umzugehen. In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass sich mehr Personen beim Dienst gemeldet haben wegen Beschwerden, die durch Konflikte am Arbeitsplatz ausgelöst wurden. In diesem Sinn können wir bestätigen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz einen der grössten Risikofaktoren für die Gesundheit ausmachen. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Problem in den Beziehungsschwierigkeiten liegt, vielmehr … man muss immer den Zusammenhang sehen, in welchem sich die Personen befinden, und oft zeigt die Analyse, dass die Organisation und Führung der Arbeit ungeeignet sind und damit den Boden ebnen, auf dem Konflikte und allenfalls auch Mobbing wachsen. Es ist also einerseits wichtig, dass sich die einzelnen Personen bewusst sind, wie sie sich in Auseinandersetzungen mit andern hineinbegeben, andererseits kann und muss auch das Unternehmen viel tun, um Arbeitsbedingungen zu schaffen, die das Risiko von Konflikten und Belästigungen weitestgehend minimieren. In diesem Sinn steht das Laboratorium den lokalen Unternehmen mit dem Projekt «Labor für die Unternehmen» zur Verfügung. Dieses Projekt wurde mit dem Ziel gestartet, auch auf unternehmerischer Ebene tätig zu sein und aktiv zu werden, bevor eine kritische Situation in eine Auseinandersetzung oder einen offenen Konflikt mündet. Wir bieten deshalb eine Beratung für den Umgang mit schwierigen Situationen am Arbeitsplatz, also Konflikte oder stressige Teamsituationen an, ebenso Ausbildungs- und Präventionsmassnahmen zu bestimmten Themen wie Kommunikation, Vermeidung und Bewältigung von Konflikten, Stressbewältigung. Diese Angebote werden je nach Situation auf die einzelnen Personen angepasst, mit einem besonderen Augenmerk aufs Wohlbefinden am Arbeitsplatz, auf die Verbesserung des Betriebsklimas und den Einfluss auf die Steigerung der Produktivität und der Arbeitsqualität.

Wie reagieren Frauen und Männer angesichts schwieriger Situationen?

Das lässt sich so nicht beantworten. Jeder reagiert anders auf eine bestimmte Situation. Es gibt Menschen, die die Situation aushalten und hoffen, dass es vorübergeht oder dass sich andere Arbeitsmöglichkeiten ergeben. Andere hingegen leiden unter der Situation und entwickeln ängstlich-depressive Anzeichen oder Anpassungsschwierigkeiten und suchen Hilfe, um die Schwierigkeiten zu bewältigen. Oft wenden sich die Leute zuerst an den Hausarzt oder an die Gewerkschaften, die sie dann an die Spezialisten weiterleiten. Die Personen, die sich an uns wenden, wurden von Ärzten oder andern Personen vor Ort beraten. Die Erfahrung zeigt, dass die Beratung umso mehr hilft, je früher die Personen sich an uns wenden, wenn sie erfassen, dass sie sich in einer schwierigen Situation befinden. Umgekehrt: wenn die heikle Situation schon länger besteht, erst recht mit einer längeren Arbeitsunfähigkeit, wird es schwierig, eine positive Lösung zu finden. In einzelnen Fällen kommt es zum Verlust der Arbeitsmarktfähigkeit.

Gibt es nach Ihrer Erfahrung immer mehr Konflikte am Arbeitsplatz?

Ja, wie ich gesagt habe, wenden sich die Leute vor allem wegen Spannungen und Konflikten am Arbeitsplatz an uns. Die Ursachen, die zum Konflikt geführt haben, sind sehr verschieden und hängen von vielen Faktoren ab. Es können persönliche Faktoren sein oder zwischenmenschliche Beziehungen, die aus verschiedenen Gründen gestört sind, aber nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der betrieblichen Ursachen (Führungsstil, Arbeitsverteilung, Kommunikation und Informationsvermittlung) und auch das sozio- ökonomische Klima des Betriebs (Wettbewerbsfähigkeit, schlechte Wirtschaftslage des Betriebs, Fehlerkultur). Alle diese Faktoren können eine Konfliktdynamik auslösen, weil ein Klima der Spannung und der Probleme herrscht und den Arbeitsalltag belastet. Die aktuelle schwache Wirtschaftslage hilft nicht: Die Leute wissen, dass es nicht einfach ist, eine andere Stelle zu finden, und viele geben alles, um die Stelle zu behalten, und ertragen deshalb Druck und Schikanen dafür.

Was können die Unternehmen tun, um die zwischenmenschlichen Beziehungen im Betrieb zu pflegen?

Wenn man auf Spannungen oder Konflikte trifft, muss man wissen, dass die Zeit diese nicht löst, sondern sie weiter anfacht. Wenn man einen Konflikt konstruktiv lösen will, muss man sofort und konkret handeln. Das gilt sowohl für Einzelpersonen als auch besonders für den Betrieb als Ganzes, der eine Vertrauens- und Dialogkultur pflegen sollte, um die Bedürfnisse der Beteiligten wahrzunehmen, deren Wünsche und Erwartungen, sowohl im persönlichen als im beruflichen Bereich. Man tendiert oft dazu, Konfliktsituationen zu entgehen oder sie zu vermeiden, da diese viel Zeit, Aufwand und Energie brauchen. Aber es ist wichtig, sie anzugehen, denn es ist ein Lern- und Wachstumsprozess, der es nicht nur ermöglicht, den Konflikt zu bewältigen, sondern auch Kommunikation und Beziehungen im Betrieb zu festigen und ein Klima des Wohlbefindens am Arbeitsplatz zu schaffen. Es gilt allerdings festzuhalten, dass manchmal Konflikte nicht selbst gelöst werden können und der Beizug einer neutralen dritten Person nötig ist, um eine Mediation durchzuführen.

Wird bei der Prävention genug getan? Wie und wo sollte man intervenieren?

Im Vergleich zu früher sind die Unternehmen heute aufmerksamer für psychosoziale Gefahren, dank der wichtigen Arbeit des Seco und des kantonalen Arbeitsinspektorats; dieses arbeitet in diesem Punkt eng mit unserem Laboratorium zusammen und auch mit andern privaten Anbietern von Ausbildungen und Begleitmassnahmen für Fälle von Beeinträchtigungen durch Stress und Konflikte. Es gibt Firmen, die aufmerksamer sind und sich vorausschauend spezifische Ausbildungen und Supervisionen holen, andere melden sich erst, wenn ein Problem auftaucht, andere versuchen, die Situation ohne Hilfe zu lösen. Man müsste die Präventionsmassnahmen besonders auf Betriebe ausrichten, die wenig für die Problematik sensibilisiert sind, denn häufig sind es diese, von denen die deutlichsten Signale kommen. Es braucht die Bemühungen aller Beteiligten, und diese müssen verstärkt werden.

Das Seco erklärt, dass Kontrollen sich positiv darauf auswirken, wie die Unternehmen mit dem Thema der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz umgehen. Können Sie das bestätigen?

Ich habe nicht genügend Unterlagen, um diese Frage zu beantworten. Aber ich bin sicher, dass jeder Beitrag zur Sensibilisierung und Prävention etwas bewirkt. Aber ich denke, dass die Kontrollen der letzten Jahre etwas bewirkt haben. Ich bin auch überzeugt, dass Arbeitgeber, die Strategien entwickeln, um psychosoziale Risiken zu mindern, auf kurze oder mittlere Frist positive Auswirkungen feststellen bei Arbeitsausfällen, Produktivitätssteigerung und Ertrag. Sie werden damit ermuntert, mit diesen Massnahmen weiterzufahren, um das Wohlbefinden weiter zu steigern, was den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenso Vorteile bringt wie dem Unternehmen insgesamt.

Françoise Gehring/pmo


BIO

Liala Cattaneo hat in Freiburg in Politik- und Sozialwissenschaften abgeschlossen. Sie ist Koordinatorin des Laboratoriums für psychische Belastungen am Arbeitsplatz der psychosozialen Dienste des Kantons Tessin sowie Sozialberaterin und Casemanagerin bei Swisscom.

Wenn die Arbeit krank macht

«Wenn Arbeit krank macht – was tun?»: So heisst die Publikation des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) in Deutsch und Französisch. Sie ist auf 28 Seiten in 7 Kapitel unterteilt und wurde von der SGB-Gesundheits- und Humanisierungskommission in Auftrag gegeben. Sie erklärt, wie man auf Probleme eingeht, bevor es zu spät ist.

Zur Sprache kommen die Gefahren für die Gesundheit am Arbeitsplatz, die Verantwortung der Mitarbeitenden und der Arbeitgebenden, der Umgang mit Gesundheitsgefährdungen, die Rolle der Vertrauenspersonen und der Gewerkschaften. Luca Cirigliano, SGB-Zentralsekretär, erinnert daran, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowohl auf physischer Ebene Gefahren ausgesetzt sind (oft, aber nicht immer wegen schwerer und belastender Arbeit), aber auch auf psychosozialer Ebene. Dies ist eher eine neue Erscheinung, aber auch das Seco nimmt sie sehr ernst. Eine schlechte Arbeitsorganisation, Missachtung der Regeln über Arbeitszeit und -dauer, Stress, Schichtarbeit und hohes Arbeitstempo können sehr stark auf die Gesundheit einwirken. Auch die zunehmende Digitalisierung, welche starke Flexibilität und Arbeitsplatzunsicherheit mit sich bringt, trägt zu diesen Problemen bei.

Cirigliano weist darauf hin, dass in der Schweiz weder das Wissen noch die gesetzlichen Mittel für den Gesundheitsschutz fehlen. Das Problem ist ein anderes: «Das Problem besteht darin, dass Wissen und Vorschriften am Arbeitsplatz nicht ausreichend umgesetzt sind», schreibt er im Vorwort. Mit dieser Publikation, die praktische Anleitungen enthält, will der SGB verstärkt auf die Rechte zu Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz aufmerksam machen. Besonders wird auch auf die Mitwirkungsmöglichkeiten hingewiesen.

frg/pmo