Interview mit dem Tessiner Historiker Mauro Stanga, der seine Lizentiatsarbeit der 68er-Bewegung widmete

Was bleibt heute von der Rebellion von 1968?

Die 68er-Bewegung hat mit ihrer Triebkraft zum Auslösen von Veränderungen ganze Generationen geprägt. «Die Fantasie an die Macht!» tönte es auf den Pariser Strassen. Ein Aufruf zum Brechen mit alten Mustern und Regeln und zum Besetzen des öffentlichen Raums. Und die Frauen nahmen sich endlich das Recht heraus, zu rebellieren, über sich selber zu bestimmen und ihr Bedürfnis nach Freiheit kundzutun. In der Schweiz waren die Proteste weniger spektakulär als anderswo, aber trotzdem eine wichtige Erfahrung.

Mauro Stanga (1973) studierte Neuere Geschichte an der Universität Fribourg (bis 2001). In seiner Lizentiatsarbeit behandelte er die Schülerproteste von 1968 an den Tessiner Sekundarschulen. Er gilt als grosser Kenner der 1968er-Bewegung in der Schweiz. Hauptberuflich ist er heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Amt für Statistik des Kantons Tessin tätig.

«Seid realistisch: fordert das Unmögliche!» Vor 50 Jahren war dies einer der Slogans, die überall auf der Welt zu sehen und zu hören waren. Was ist das Besondere der 68er-Bewegung im Vergleich zu anderen Revolten und Protestbewegungen der Menschheitsgeschichte?

Mauro Stanga: Die eigentliche Besonderheit der 68er-Bewegung liegt wohl in diesem «überall auf der Welt»: Fast gleichzeitig kam es in vielen Ländern zu komplett verschiedenen Protesten, die sich aber gegenseitig beeinflussten. Auch zeichnete sich die Bewegung meistens durch grosse Spontaneität aus, denn im Gegensatz zur «traditionelleren» Politik wollte sie Strukturen und Hierarchien möglichst vermeiden. Der ausgeprägte Wille der 68er, sich nicht «einspannen» oder «katalogisieren» zu lassen, macht es auch 50 Jahre später schwierig, sie genau zu definieren, ohne in Vereinfachungen zu verfallen.

Welche Formen nahmen die Proteste in der Schweiz an? Waren sie anders als in Frankreich oder anderen Ländern?

Ausstellung «Revolution» in der Fabbrica del Vapore in Milano.

Die Protestaktionen waren weniger eklatant, gingen aber von sehr ähnlichen Forderungen und Bewusstwerdungsprozessen aus. Die kulturellen und politischen Bezüge sind grösstenteils die gleichen, wenn auch in anderen Zusammenhängen. Auch die Mittel und Wege, wie man sich Gehör verschaffte und zu Aktionen schritt, waren ähnlich. Im Zentrum standen Teilnahme und Austausch: Die Jungen lasen, versammelten sich, diskutierten und nahmen Stellung: indem sie schrieben, Flugblätter und Zeitungen produzierten und verteilten und verschiedene Arten von Veranstaltungen organisierten, um sich zum Beispiel mit Entwicklungsländern zu solidarisieren oder gegen Autoritäten und dominierende politische Kräfte zu protestieren.

Was waren die Hauptforderungen der 68er?

Sie wollten die Gesellschaft in verschiedener Hinsicht verjüngen, forderten mehr Freiheiten und mehr Rücksicht auf jene, die von der Fortschrittsdynamik benachteiligt wurden. Die Bewegung wurde vor allem von Student/innen getragen. Viele Forderungen betrafen denn auch die Bildung, z.B. die Modernisierung der Schulprogramme oder die Anerkennung von Studentenversammlungen.

In der Schweiz hatten die Frauen im Gegensatz zu den andern Europäerinnen noch kein Stimm- und Wahlrecht, unverheiratete Paare durften nicht zusammen leben und vieles war der Zensur und Vorurteilen unterworfen. Hat die 68er-Bewegung die Emanzipation der Frauen entscheidend vorangebracht?

Am Eingang der Fabbrica del Vapore, Milano.

Die Forderung nach dem Frauenstimmrecht war damals sowieso reif. 1959 war bereits auf Bundesebene darüber abgestimmt worden, und es wäre 1971 wohl auch ohne 68er-Bewegung angenommen worden. Wichtig aber ist, dass sich die jungen Frauen daran besonders beteiligten. Bevor sie abstimmen und wählen durften, mobilisierten sie sich in dieser Bewegung und ergriffen das Wort. Teilnahme und Austausch waren sicher auch der Frauenbewegung dienlich. Die jungen Frauen begannen über ihre Situation und Rolle in der Gesellschaft zu diskutieren. Das förderte den kollektiven Bewusstwerdungsprozess.

War 1968 eine Revolution oder eher ein revolutionärer Moment?

Es war vor allem ein Generationenwechsel. Die Generation, die diese Vorgänge erlebte, war radikal anders als die vorangegangenen Generationen: Der Umstand, dass sie auf einen relativen Wohlstand zählen konnte, führte dazu, dass sich ihr Augenmerk von den materiellen Bedürfnissen auf weiter entlegene, weniger konkrete Ideale und Situationen verschob: Solidarität, Freiheit, Gleichberechtigung. Dies führte weltweit dazu, dass Gleichgewichte, die sich zuvor während Jahrzehnten in verschiedenen Ländern herausgebildet hatten, infrage gestellt und Autoritäten klar abgelehnt wurden. Insofern war die 68er-Bewegung zweifellos revolutionär, oder zumindest waren es die Absichten ihrer Akteure.

Was bleibt heute vom Geist jener Jahre, ihren Friedensutopien und Träumen von einer besseren Gesellschaft, ihrem kreativen Schub und ihrem Wunsch nach einer Gegenkultur übrig?

Es hat zweifellos Veränderungen gegeben, was die «Sitten und Gebräuche», die Mentalität, die Ideen und den Kulturbereich betrifft. Es hat auch Reformen gegeben, zum Beispiel im Bildungswesen, sowie Fortschritte in weiteren Bereichen, die man unter dem Begriff «Demokratisierung» zusammenfassen kann. Die Jungen und die Frauen zum Beispiel haben an Selbstbewusstsein gewonnen und spielen heute aktivere Rollen in der Gesellschaft.

Ein – völlig subjektiver – Blick auf die heutige Gesellschaft ergibt ein durchzogenes Bild: Ähnlich wie damals führen auch heute neue technische Möglichkeiten zu Veränderungen: Wir kommen einfacher zu Informationen; neue Mittel und Kanäle erleichtern Kommunikation und Austausch und schaffen neue Möglichkeiten, um sich auszudrücken und sich Gehör zu verschaffen… Doch findet dieser Wandel heute unter andern Vorzeichen statt: Damals wurde der Wegfall von Filtern und Vermittlern genutzt, um die Mächtigen anzugreifen und anzufechten. Heute nutzt man die neuen Mittel immer mehr, um die Schwächsten und Minderheiten (vor allem ausländische) anzugreifen. Die Geschichte hält aber immer Überraschungen bereit. Man denke beispielsweise an die grosse Solidarität der Tessiner Bevölkerung mit dem Streik in den Officine von Bellinzona 2008. Dieses Ereignis steht einerseits in der Tradition gewerkschaftlicher Arbeitskämpfe, doch die Parteinahme und Mobilisierung der Bevölkerung zugunsten der Arbeiter des SBB-Werks erinnern auch an die Vorgänge von 1968.

Françoise Gehring/Fi

1968 im Bernischen Historischen Museum

Für die Kuratoren der Ausstellung «1968 Schweiz» war die 68er-Revolte ein Phänomen mit tausend Facetten: von Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg über die Betonung des gemeinschaftlichen Lebens bis zur Geburt der Blumenkinder, von der Entdeckung der Rock- und Popmusik über das Ausprobieren der freien Liebe und der sexuellen Freiheit bis zum «Flower Power», von psychedelischen Träumen über die Solidarität, die menschliche Beziehungen knüpft, bis zum Protest gegen jede Form von Gewalt. Nicht zu vergessen der VW-Bus als Ikone einer Epoche und Symbol der Entdeckungsreisen und der kollektiven Bewegungsfreiheit.

Die Ausstellung dauert noch bis zum 17. Juni und ist ein wahres Feuerwerk an Farben und Energie. Sie erklärt auf klare und kohärente Weise, dass 1968 viel mehr als nur ein historisches Datum ist. Es ist das Symbol eines umfassenden sozialen und kulturellen Umbruchs zwischen 1960 und 1970, der im täglichen Leben, in der Kultur und in der Politik tiefe Spuren hinterliess. Die Ausstellung lässt 16 Zeitzeugen und Protagonist/innen dieser sozialen Bewegung aus 50-jähriger Distanz «ihr» 1968 erzählen. Und sie regt zum kritischen Nachdenken über die Aktionen und das damit Erreichte an.

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