Leuthard-Bilanz
Das Uvek muss zum Service public stehen
Am 5. Dezember wählt das Parlament die Nachfolger/innen von Doris Leuthard und Johann Schneider-Ammann, die Ende Jahr aus dem Bundesrat austreten. Den SEV als Verkehrsgewerkschaft interessiert besonders, wer Leuthards Departement übernimmt. Wie sieht die Leuthard-Bilanz aus SEV-Sicht aus? Und was erwartet der SEV von der künftigen Nummer 1 im Uvek?
Doris Leuthard erntete nach der Rücktrittsankündigung am 27. September viel Lob für ihr Wirken als Volkswirtschaftsministerin vom August 2006 bis Ende Oktober 2010, wie auch als Chefin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation. In allen vier Bereichen, für die es in anderen Ländern vier oder mehr Minister gibt, habe sich «Super-Doris» gut und charmant geschlagen, lautet der Tenor. Im Parlament wie vor der Kamera habe sie überzeugt. Hervorgehoben wurde in den Bilanzen, dass sie nach der Katastrophe in Fukushima im März 2011 sofort die Rahmenbewilligungsverfahren für neue Atomkraftwerke sistierte und wenige Wochen später den Verzicht auf neue AKW verkündete. Diese Kehrtwende der Aargauerin, die der Atomindustrie nahe stand, kam gut an, war aber auch einfach pragmatisch, da neue AKW vor dem Volk nach Fukushima kaum noch eine Chance haben.
Das Machbare im Blick
«Aus Sicht der Kritiker blieb Leuthard dann allerdings auf halbem Weg stehen», schrieb die Nachrichtenagentur SDA. «Ein fixes Abschaltdatum für die bestehenden AKW lehnte sie ebenso ab wie einschneidende Massnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs. Leuthard richtete die Energiestrategie 2050 von Beginn weg auf das politisch Machbare aus, für das sie stets ein gutes Gespür hatte, und brachte das umfangreiche Gesetzespaket so durch das Parlament und durch die Volksabstimmung.»
Auch in der Umwelt- und Verkehrspolitik sei Leuthard «darum bemüht gewesen, niemanden vor den Kopf zu stossen: Strasse und Schiene dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, betonte sie stets. Versprechen an die Strassenverbände ermöglichten den Ausbau des Bahnnetzes und einen neuen Bahnfonds. Später folgte der Strassenfonds.»
«Die Sicherung der Bahninfrastrukturfinanzierung rechnet ihr der SEV hoch an», sagt Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik im SEV. «Doch ihre Kehrtwende beim zweiten Gotthard-Strassentunnel, nur wenige Monate bevor sie den längsten Bahntunnel der Welt eröffnete, war für den SEV unverständlich. Und die Idee, vier Spuren zu bauen und nur zwei zu nutzen, ein ‹Bubentrickli›!». Von ihren 18 Abstimmungskämpfen als Bundesrätin gewann Leuthard 16, darunter jene für das Raumplanungsgesetz und in diesem Frühjahr gegen die No-Billag-Initiative. Verloren hat sie nur ihre Kämpfe für eine teurere Autobahnvignette und gegen die Zweitwohnungsinitiative. Ein Misserfolg war für sie als Bundespräsidentin Ende 2017 der Besuch von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junker, da die EU die Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung nur befristet anerkannte.
Beim Service public auf Abwegen
Dann kam die Postauto-Affäre. Obwohl Leuthard sofortige lückenlose Aufklärung forderte, konnte sie damit nicht verhindern, dass ihre Politik zu den Service-public-Unternehmen in den letzten Monaten grundsätzlich infrage gestellt wurde. Die Affäre zeigt, wohin halbprivatwirtschaftliches Management bei den bundesnahen Betrieben führen kann. «In der Ära Leuthard kamen Manager an Schlüsselstellen, die sich dem Markt, dem Unternehmensgewinn und teilweise ihrem Bonus mehr verpflichtet sahen als dem Gemeinwohl», sagt SEV-Gewerkschaftssekretär und Nationalrat Philipp Hadorn. «Eine rein betriebswirtschaftliche Sichtweise trat an die Stelle von langfristigem volkswirtschaftlichem und gemeinnützigem Denken. Führung an der langen Leine liess Fehlentwicklungen zu. Der Eigner Bund verlor in der Ära Leuthard an Gestaltungskraft bei den eigenen Betrieben.» Hadorn erwartet von der neuen Uvek-Spitze «ein anderes Verständnis von Service public und Grundversorgung im Interesse von Mensch, Natur und Wirtschaft».
Auch SEV-Gewerkschaftsekretärin und Nationalrätin Edith Graf-Litscher, die zurzeit die nationalrätliche Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen präsidiert, will eine Kurskorrektur: «Doris Leuthard hat die Liberalisierungs- und Privatisierungspläne ihres Bundesamts für Verkehr (BAV) für den öffentlichen Verkehr zumindest mitgetragen. Hier erwarte ich von der neuen Uvek-Leitung Gegensteuer und strategische Zielvorgaben für SBB, Post und Swisscom, bei denen die Stärkung des Service public im Vordergrund steht, und nicht der Spardruck auf das Personal.»
Für Daniela Lehmann ist klar: «In der Verkehrspolitik hat es unter Doris Leuthard einen Richtungswechsel gegeben.» Diesen hat das BAV im Juli 2014 mit der Strategie «öV 2030» offen deklariert. Die Strategie will Liberalisierung und Wettbewerb, auch gegen aussen, und mehr Marktanteil für private, gewinnorientierte Unternehmen im Personen- und Güterverkehr, besonders auf Kosten der SBB. Ein Pilotversuch in dieser Richtung war die Ausschreibung des Fernverkehrs und der Zuschlag zweier Linien an die BLS. Daniela Lehmann erwartet von der neuen Uvek-Spitze, «dass sie wieder auf die bewährte Kooperation der öV-Unternehmen setzt und die öV-Strategie revidiert. Darin braucht es ein Bekenntnis zum Service public und zu einem öV, der auch in Zeiten der Digitalisierung weiterhin von Menschen für Menschen gemacht wird. Zudem braucht es darin Perspektiven fürs Personal.»
Markus Fischer
Uvek-Spitze, quo vadis?
Editorial von Giorgio Tuti, Präsident SEV
Bundesrätin Doris Leuthard geht. Sie hat das grosse und wichtige Departement Uvek während Jahren geführt und verkehrspolitisch durchaus Akzente gesetzt, die in die Zukunft wirken. An dieser Stelle sei die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels und die Sicherung der Finanzierung der Bahn- und Strasseninfrastruktur erwähnt, die über unsere Landesgrenzen hinaus positiv und zukunftsgerichtet bewertet wurden. Darauf können wir stolz sein.
Weniger stolz sind wir auf den eingeschlagenen Liberalisierungskurs. Während Jahrzehnten war das Rezept für das erfolgreiche Schweizer öV-System die Zusammenarbeit und nicht der Wettbewerb. In der EU taxiert man das Schweizer System, basierend auf Kooperation, noch heute als sehr gut. Dieses Erfolgsmodell hätte man gegen innen und aussen stärker vertreten müssen, aus Überzeugung. Stattdessen hat Doris Leuthard zugelassen, dass das Bundesamt für Verkehr die EU-Liberalisierungs- und Wettbewerbsideologie in seine öV-Strategie 2030 übernahm. Seither wird diese Ideologie bzw. Strategie in Schritten, aber sehr konsequent umgesetzt. Doris Leuthard hätte sie stoppen müssen, zum Wohle des öV-Systems Schweiz. Sie hätte klar Nein sagen müssen zur möglichen Umsetzung des dritten Eisenbahnpakets der EU und zur Öffnung des grenzüberschreitenden Personenverkehrs.
Sie hätte sich auch gegen die Ausschreibung einzelner Linien des Fernverkehrs, verbunden mit einem grossen administrativen, juristischen und Umsetzungsaufwand, einsetzen müssen. Sie hätte sich ebenso gegen die Konkurrenzierung der Eisenbahn durch die Einführung von Fernbussen stellen müssen, was sie leider nicht gemacht hat. Frau Bundesrätin Leuthard hat die Liberalisierungswelle im öV losgetreten, ohne dass sie das hätte tun müssen. Im Gegenteil, sie hätte diese verhindern sollen, aus Überzeugung und zum Erhalt des überall anerkannten, ausgezeichneten öV-Systems Schweiz. Von Doris Leuthards Nachfolgerin oder Nachfolger bzw. vom Uvek erwartet der SEV, dass es keine EU-Eisenbahnpakete mehr vorauseilend übernimmt und sich für das Prinzip von Schweizer Löhnen auf Schweizer Schienen und Strassen einsetzt.
Weiter verlangen wir, dass das Uvek die Fernbuskonkurrenz zur Bahn überdenkt und den internationalen, grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr in Kooperation belässt, statt ihn dem Wettbewerb zu überlassen. Wir hoffen auf die Einsicht, dass trotz digitalem Kundenservice, trotz Kameras überall und Zugfernsteuerung die Präsenz von Personal in Zügen und Bahnhöfen für einen attraktiven öV unverzichtbar bleibt. Wir fordern ganz grundsätzlich einen Marschhalt bei der eingeschlagenen Liberalisierungsstrategie und ein Zurück zum System des Mit- statt des Gegeneinanders. Und das zum Wohle des Schweizer öV-Systems, des Service public, der Bevölkerung und nicht zuletzt der Arbeitsplätze und Anstellungsbedingungen des Personals.