"Negativzinsen durchziehen und Importpreise senken"
Rudolf Strahm zum starken Franken
«Ich warte immer noch auf eine ökonomische Begründung der Freigabe des Euro-Mindestkurses», sagt Ex-Preisüberwacher Rudolf Strahm im Interview mit kontakt.sev. Doch er bezweifelt, dass die aktuelle Nationalbankleitung jetzt noch glaubwürdig einen neuen Mindestkurs verteidigen könnte, und fordert vor allem Negativzinsen sowie tiefere Importpreise.
Seit die Schweizerische Nationalbank (SNB) am 15. Januar den Euro-Mindestkurs überraschend aufgehoben hat, haben vor allem die Exportindustrie, der Tourismus und international tätige Transportunternehmen grosse Probleme. Die betroffenen Arbeitnehmenden stehen unter hohem Druck und die politische Rechte nutzt die Krise, um Deregulierung, tiefere Steuern und Staatsabbau zu fordern. Am 18. März gab es im Nationalrat eine grosse Frankendebatte, doch tags darauf erklärte die Nationalbank, an ihrer Geldpolitik nichts zu ändern (siehe Box).
Darauf reagierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund prompt: «Die Euro-Kurse um 1.05 bis 1.07 Franken haben zu einem starken Druck auf die Löhne und Arbeitsplätze in der Schweiz geführt. Es ist erschreckend, wie viele Firmen innert kurzer Zeit Entlassungen, Auslagerungen, Arbeitszeitverlängerungen, Euro-Löhne oder Lohnsenkungen beschlossen haben. Ausser der Schweiz verzeichnet zurzeit kaum ein Industrieland steigende Arbeitslosenzahlen.» Der SGB fordert von der SNB, dass sie den Franken wieder auf ein tragbares Niveau bringt, wie sie es von 1978 bis 2009 «zunächst gegenüber der DM explizit und später gegenüber dem Euro implizit gemacht hat. Wirksamstes Instrument ist ein expliziter Mindestkurs oder ein ausdrückliches Kursziel.»
Doch Rudolf Strahm, Ex-Preisüberwacher, Volkswirtschafter und ehemaliger SP-Nationalrat, fordert vor allem, dass die Nationalbank die Negativzinsen weiter durchzieht, sowie eine konsequente Senkung der Importpreise.
kontakt.sev: Unter dem Titel «War diese Schocktherapie nötig?» haben Sie am 3. Februar in «Tages-Anzeiger» und «Bund» die SNB kritisiert. Kann man inzwischen sagen, dass der Schock nur ein «Schöckli» sei, wie dies die SNB tut?
Rudolf Strahm: Die SNB produzierte einen richtiggehenden Währungsschock. Dieser trifft nicht alle Firmen gleich stark. Aber heute ist es bei den Notenbanken verpönt, solche Schocks zu inszenieren. Die heutige Regel der Kunst heisst: «Forward Guidance», das heisst, die Märkte werden psychologisch vorbereitet und dann werden in kleinen und kleinsten Schrittchen die Rahmenbedingungen verändert.
SNB-Chef Thomas Jordan sagt: Die Beibehaltung des Mindestkurses hätte die Volkswirtschaft zu viel gekostet im Vergleich zu dessen Nutzen. Trifft das zu?
Das ist eine unbewiesene Behauptung! Ich halte sie angesichts der Erfahrungen, die wir kurz nach dem 15. Januar gemacht haben, sogar für unredlich: Denn weder die Ankündigung der EZB, sie werde die Märkte mit Euro fluten, noch die Griechenland-Wahlen haben einen Währungsschock ausgelöst. Weltweit blieb alles stabil! Weil eben vorher eine Forward Guidance, eine sanfte psychologische Einstimmung der Finanzmärkte, stattgefunden hatte.
In der Nationalratsdebatte vom 18. März zum starken Franken sagten Bürgerliche, der 2011 eingeführte Mindestkurs sei eine temporäre Notlösung gewesen, die eh einmal habe beendet werden müssen. Stimmt das?
Solches wird jetzt im Nachhinein behauptet. Aber ich erinnere daran, dass die Nationalbank unzählige Male gerade das Gegenteil verkündete, nämlich sie werde «mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln» den Frankenkurs verteidigen. Ich warte immer noch auf eine ökonomische Begründung der Kursfreigabe.
Braucht es wieder einen expliziten Euro-Mindestkurs?
Das kann man jetzt nicht mehr fordern. Denn mit dieser Nationalbank-Leitung ist doch ein Festhalten an irgendeiner Kursgrenze bei den Finanzmärkten und in der Spekulantenszene nicht mehr glaubwürdig. Im Gegenteil, heute erwarten die Finanzmarkt-Akteure, dass die SNB ihre Bilanz nicht mehr massiv ausdehnen will. Ich halte die SGB-Forderung nach einer neuen Kursfixierung momentan für unrealistisch. Sie wird von niemandem geglaubt. Was jetzt aber nötig bleibt, ist das Durchziehen der Negativzinsen, allenfalls sogar noch eine weitere Senkung bei ausländischen Anlagen, koste es was es wolle. Der grösste volkswirtschaftliche Schaden kommt von der Frankenaufwertung.
Gemäss Thomas Jordan müssen Negativzinsen für alle gelten, um zu wirken: Sind wirklich keine Ausnahmen möglich, zum Beispiel für Pensionskassen und Schweizer Anleger?
Ich denke, man könnte solche Ausnahmen machen, zumal die
institutionellen Schweizer Anleger (Pensionskassen, Versicherungen) ja nicht primär den Wechselkurs beeinflussen, denn ihre Devisen-Repatriierung hält sich in engen Grenzen. Mit dem Negativzins sollte man die ausländischen Anlagen verteuern und abwehren. Ich vermisse auch dazu eine ökonomische Begründung der SNB zu ihrer Politik.
Wegen dem starken Franken sollten die Preise von Importprodukten sinken. Funktioniert dies korrekt?
Nur sehr begrenzt. Konkrete Erfahrung: Von Dezember 2010 bis Dezember 2014 hätten die Importpreise durch die Frankenaufwertung um rund 20 % sinken müssen. Doch gemäss dem Importpreisindex, der alle Importe gewichtet berücksichtigt, sind sie nur um 6 % gesunken, also dreimal weniger als nach Lehrbuch. Für mich ist unverständlich, dass die Gewerkschaftsvertreter die Verschärfung des Kartellgesetzes ablehnen, mit der man die schädlichen Hochpreislieferungen aus dem Ausland korrigieren will. Als ehemaliger Preisüberwacher muss ich feststellen: In dieser speziellen Frage politisieren die Gewerkschafter Daniel Lampart und Corrado Pardini gegen die Interessen ihrer Basis. Denn dieser Zuschlag Schweiz nützt nur den ausländischen Lieferanten und gar niemandem in der Schweiz. Die Gewerkschaftsbasis stimmt einfach mit den Füssen resp. Rädern ab, indem sie im Ausland einkaufen geht.
Industrie und Gewerbe fordern jetzt tiefere Steuern, weniger Staat und Deregulierung. Und Unternehmen haben längere Arbeitszeiten und tiefere Löhne eingeführt. Wie weit sind solche Massnahmen gerechtfertigt, wie weit übertrieben?
Jeder fordert jetzt jene Therapie, die er schon immer in seinem politischen Repertoire gewollt hatte. Das Deregulierungsgeschwurbel kennen wir doch seit Jahren! Kurzfristig und zeitlich begrenzt können längere Arbeitszeiten im Rahmen des Krisenartikels und von Kurzarbeit (finanziert durch die Arbeitslosenversicherung) schon sinnvoll sein. Aber die Firmen müssten dies begründen und ihre Bücher offenlegen.
Was müsste man für den Werkplatz Schweiz aus Ihrer Sicht vor allem tun?
Die wichtigste, breitenwirksamste und schmerzloseste Massnahme ist die Senkung der Importpreise, wie bereits erwähnt. Dies nützt nicht nur den Konsumenten, sondern entlastet auch die KMU. Im Weiteren muss der Druck auf die SNB weitergehen, damit sie die Negativzinsen aufrechterhält. Denn aus Anlegerkreisen wird jetzt auch der Negativzins infrage gestellt.
Inwiefern nützt ein starker Franken der Finanzbranche?
Ich glaube, die Finanzbranche hat sich selber in den Finger geschnitten: Gewisse Anlegerkreise hatten ums Neujahr lautstark nach einer Preisgabe des Wechselkurses geschrien, weil sie eine Frankenaufwertung herbeiwünschten. Doch mit dem Negativzins (den sie wohl nicht erwartet hatten) sind sie jetzt schlechter bedient und verlieren mehr als mit dem vorherigen Status.
Gab es gar Druck auf die SNB für die Aufhebung des Mindestkurses, weil man
in einer Frankenschockkrise Deregulierungen sowie Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen besser durchbringt?
Ja, sicher. Aber die stärkste Verunsicherung kam von der Nationalbank-Leitung selber: Sie hatte kurz vor Weihnachten die Einführung eines Negativzinses von – 0,25 % angekündigt, diesen aber nicht etwa über Nacht eingeführt, sondern zum Voraus das Einführungsdatum vom 22. Januar 2015 angekündigt. Von da an waren die Finanzmärkte verunsichert, und von da weg glaubte ein Teil der Akteure nicht mehr an die Standfestigkeit der SNB. Hinzu kam, dass nach Neujahr die rechtskonservative Anlegerszene (Jansen, Schildknecht, Geiger, Hummler) unisono nach einer Wechselkursfreigabe rief. Das derzeitige SNB-Direktorium ist eben auch vom Mainstream abhängig.
Wie unabhängig kann und muss die Nationalbank sein? Und muss sie anders strukturiert werden, um für alle glaubwürdig zu sein?
Die Nationalbank muss unabhängig sein, indem sie die Entscheide nicht zum Voraus ankündigt oder gar zur Genehmigung vorlegt. Aber die Rechenschaftspflicht des SNB-Direktoriums ist heute zu schwach. Und zudem ist das Dreiergremium zu klein. Je kleiner ein Entscheidgremium, desto grösser ist das Risiko von Fehlentscheiden. In keiner anderen Notenbank ist das Policy-Gremium so klein. In der Schweiz braucht es, wenn einmal die heutige Polarisierung ein bisschen überwunden sein wird, eine Governance-Reform der SNB: Mehr formale Rechenschaftspflicht (ex post) gegenüber den Behörden, ein erweitertes Entscheidgremium und vor allem ein Pluralismus von Sichtweisen innerhalb der SNB-Behörde. Die Geld- und Währungspolitik ist nämlich immer auch weltanschaulich belastet, von Interessen abhängig und vom politischen Mainstream beeinflusst.
Das Interview wurde schriftlich geführt; Fragen: Markus Fischer
Nationalbank relativiert Krise und hält an ihrem geldpolitischen Kurs fest
Am 19. März hat Thomas Jordan, Chef der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die Aufhebung des Euro-Mindestkurses von 1 Franken 20 verteidigt: Wie erwartet habe die Euro-Schwemme der Europäischen Zentralbank den Euro geschwächt, sodass die SNB Hunderte Milliarden Euro hätte kaufen müssen, um den Mindestkurs zu halten. Diese Kosten wären in keinem Verhältnis zum volkswirtschaftlichen Nutzen einer Weiterführung der Euro-Untergrenze gestanden, ist Jordan überzeugt.
Zudem legte er Prognosen vor, wonach die Schweizer Wirtschaft 2015 immerhin noch halb so stark wachsen werde wie 2014, nämlich um rund 1%. Denn die Weltwirtschaft sei robust, in den USA gebe es einen Aufschwung und in Europa eine Aufhellung. Jordan gab zu, dass die Arbeitslosigkeit «leicht steigen» werde. Denn die schlagartige Aufwertung habe die Schweizer Produkte im Ausland verteuert, ebenso wie Ferien in der Schweiz für ausländische Tourist/innen. Hinzu komme, dass Güter aus dem Ausland in der Schweiz billiger geworden sind, was den Schweizer Herstellerfirmen schadet. Dennoch rechnet Jordan nicht mit einer Rezession und denkt, dass ab 2017 die Preise wieder steigen werden. Der Franken werde sich wieder abschwächen, da er mit aktuell rund 1.06 «immer noch deutlich überbewertet» sei. Falls aber erneut eine Geldwelle auf die Schweiz zurolle, werde die SNB eine Frankenaufwertung auch wieder mit Devisenkäufen bekämpfen.
Jordan: «Negativzinsen müssen für alle gelten»
Den Anfang Jahr eingeführten negativen SNB-Leitzins von –1,25% bis –0,25% auf dem Dreimonats- Libor sowie den Negativzins von 0,75% auf Bankdepots bei der SNB (ab einem Freibetrag) erachtet Jordan weiterhin für nötig, um Finanzanlagen in der Schweiz unattraktiv zu machen und so eine weitere Frankenaufwertung zu bekämpfen: «Im aktuellen Umfeld gibt es dazu keine Alternativen.»
Die Auswirkungen der Negativzinsen auf die Sparer/innen und Pensionskassen hält Jordan für vertretbar, da mit dem Franken auch die Sparguthaben an Wert zugelegt hätten. Statt alle Pensionskassen von den Negativzinsen auszunehmen wie von der Branche gefordert, will Jordan im Gegenteil prüfen, ob die bisher gewährten Ausnahmen für Konten der öffentlichen Hand (wie z. B. der Publica-Pensionskasse) aufgehoben werden sollen. «Damit dieses Instrument wirkt, muss es für alle gelten», sagte Jordan.