SBB und Gewerkschaften haben sich über das neue Lohnsystem geeinigt – die Verhandlungsleiter ziehen Bilanz
«Der GAV bringt Stabilität bis 2014»
Die GAV-Verhandlungen über das neue Lohnsystem leitete seitens Gewerkschaften SEV-Vizepräsident Manuel Avallone und seitens SBB deren Leiter Human Resources, Markus Jordi. Nach der Einigung in der Nacht auf den 26. November gaben sie kontakt.sev und der SBB-Zeitung gemeinsam ein Interview.
kontakt.sev: Mit welchem Gefühl haben Sie in dieser Nacht die GAV-Verhandlungen abgeschlossen?
Markus Jordi: Mit Genugtuung, Erleichterung und einer gewissen Zufriedenheit. Es ist uns nach langen und zuweilen harten Verhandlungen gelungen, eine Einigung zu erzielen, hinter der beide stehen können.
Manuel Avallone: Auch ich habe grundsätzlich ein gutes Gefühl. Beide Seiten konnten das nötige Verständnis aufbringen für doch sehr verschiedene Anliegen. Was mich besonders beeindruckte ist, dass wir sehr stark von unserer Mitgliedschaft unterstützt wurden: zuerst bei einer Petition, die wir Markus Jordi mit 8000 Unterschriften übergeben konnten, dann bei einer Kartenaktion und am letzten Verhandlungstag mit einer Mahnwache vor Ort bis 2 Uhr morgens.
Welche Vorteile bringt das neue Lohnsystem dem Personal?
Avallone: Es wird ein einziges System für alle Mitarbeitenden geben, die dem GAV unterstellt sind. Die Branchendiskussion ist vom Tisch. Es ist zudem positiv, dass Mitarbeitende, deren heutiger Lohn über dem künftigen Lohnmaximum liegt, dennoch von Lohnerhöhungen profitieren können. Und dass es gelungen ist, die Tiefstwerte anzuheben. Eine gute Sache ist auch die neue Klarheit bei den Einstiegslöhnen, die nicht mehr unter den Basiswerten (Mindestlöhnen) liegen dürfen.
Wie profitiert das Unternehmen?
Jordi: Ein anforderungs-, markt- und leistungsgerechtes Vergütungssystem war aus unternehmerischer Sicht längst fällig. Die SBB muss konkurrenzfähige Anstellungsbedingungen gewähren können. Mit dem neuen Lohnsystem stellen wir zudem sicher, dass wir unternehmensweit nach gleichen Prinzipien und nach einem gleichen Verständnis über den Wert von Funktionen reden. Zudem können wir gute Leistungen besser fördern und belohnen, gute Mitarbeitende für die SBB gewinnen und im Unternehmen halten.
Welche Zugeständnisse musste die SBB machen?
Jordi: Wir haben auf eine Branchendifferenzierung verzichtet. Zugeständnisse haben wir auch im Bereich der Mindestlöhne und der Überführung gemacht. Es wäre wünschbar gewesen, dass das neue Lohnsystem seine Wirkung schneller entfaltet, doch die Abfederung ist aus personalpolitischer Sicht sinnvoll.
Wie lange dauert denn die Überführung?
Jordi: Sicher länger als fünf Jahre. Das hängt aber auch von der Fluktuation und der Lohn- und Teuerungsentwicklung ab.
Und welche Kompromisse ging der SEV ein?
Avallone: Wir mussten Verständnis aufbringen für die Annäherung der Löhne an ein Marktniveau. Zudem mussten wir akzeptieren, dass die Entwicklung der Löhne weiterhin von der Lohnsumme abhängt, die man hineingibt.
Damit ist der so genannte Erfahrungsanstieg angesprochen, der neu 20 Jahre dauert statt 12 Jahre wie bisher. Stösst das dem SEV sauer auf?
Avallone: Die Anzahl Jahre für die Aufstiege muss man stark relativieren. Die im bisherigen GAV verankerten 12 Jahre sind theoretisch und werden durch die Lohnsummensteuerung beeinflusst. Damit die Mitarbeitenden in 12 Jahren am Maximum des Erfahrungsteils ankommen, hätte die SBB jährlich 1,2 % bis 1,4 % der Lohnsumme in diesen Teil speisen müssen. Das war bis anhin nie der Fall und deshalb Theorie. Die Geschwindigkeit der Entwicklung der Aufstiege hängt einzig von der dafür bereitgestellten Lohnsumme ab. Künftig sollen das jedes Jahr mindestens 0,5 % sein. Es dient auch der Unternehmung, wenn die Mitarbeitenden in der Lohnentwicklung nicht stehen bleiben, denn sonst leidet die Motivation.
Jordi: Das bisherige System sah innerhalb von 12 Jahren einen Lohnanstieg von 30% vor. Oft konnten wir aber für den systemmässigen Aufstieg nicht die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Statistisch gesehen gelangte man doch in 14 Jahren nach oben. Mit einem so hohen Anstieg in derart kurzer Zeit produzieren Sie unerwünschte Effekte. Erstens: Wir haben sehr viele Mitarbeitende, die jung anfangen, mit 32 Jahren bereits an die Lohnobergrenze stossen und danach keine Lohnentwicklung mehr gewärtigen können. Zweitens: Die Lohnentwicklung verläuft unabhängig von der Unternehmenssituation, von der Wirtschaftslage und der individuellen Leistung. Das ist nicht gut. Deshalb haben wir das tatsächliche Lohnwachstum, das wir in der Vergangenheit hatten, als Basis genommen und den Anstieg auf rund 20 Jahre ausgedehnt.
Das neue Modell zur Einreihung der Funktionen wertet das Kriterium «Beanspruchungen und Arbeitsbedingungen» nur zu 12 % – weniger als die anderen vier Kriterien Fachkompetenz, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz sowie Führungs- und Beratungskompetenz. Der SEV hat vergeblich 20 % gefordert. Wie erklären Sie den Wert von 12 % einem Rangierer oder Gleisbauer, Herr Jordi?
Jordi: Ich muss zuerst einmal festhalten, dass die Arbeitserschwernis bis dato gar nirgends im Lohnsystem berücksichtigt wurde. Mit dem neuen Lohnsystem decken wir dieses Kriterium nun erstmals systematisch ab. Das hat übrigens auch dazu geführt, dass recht viele Funktionen aufgrund von Lärm, Staub, Hitze etc. höher eingestuft werden. Als Grundlage für die Gewichtung haben wir den «Kompetenzenkreis» gewählt, der heute in Grossfirmen üblich ist und damit auch die Vergleichbarkeit sicherstellt. Firmen, die ähnlich gelagert sind wie wir, gewichten Arbeitserschwernis auch mit 12 %, das ist der heute übliche Wert. Mit 20 % hätten wir sie gegenüber den anderen Kompetenzen übergewichtet. Das ist heute im Arbeitsmarkt nicht üblich. Das einem Rangierer zu erklären ist schwierig, das gebe ich zu.
Warum hat der SEV dem Einreihungsmodell doch zugestimmt?
Avallone: Wir sind zum Schluss gekommen, dass es weniger auf diese Prozentzahlen ankommt als auf die Löhne, die aus dem Lohnsystem effektiv resultieren. Mit den bisherigen Bewertungsinstrumenten wie Kriterien- und Merkmalkataloge wurden die Beanspruchungen und Arbeitsbedingungen berücksichtigt, gerade bei Monopolberufen. Indem man die «Arbeitserschwernis» nur zu 12 % bewertet, schneidet körperliche Arbeit schlechter ab als geistige Arbeit. Weil wir in einer Wissensgesellschaft leben, baut man die Lohnsysteme entsprechend, das ist der Trend. Das können wir nicht mit der SBB alleine lösen – und sie wollte uns da nicht entgegenkommen. Folglich forderten wir eine Anhebung der Lohnkurve im unteren Bereich, um das auszugleichen. Und wir fordern von der SBB, dass sie diese Mitarbeitenden qualifiziert, damit sie auch Teil haben können an der Wissensgesellschaft.
Die Lohnkurve war bis zuletzt umstritten, weil sie bei den tieferen Löhnen unter der bisherigen Lohnkurve lag, im oberen Bereich dagegen darüber. Ist das soweit korrigiert worden, dass der SEV damit leben kann?
Avallone: Das war in der Tat ein Knackpunkt für uns, und es ist uns gelungen, die Lohnkurve nach oben zu korrigieren. Im unteren Lohnbereich sind die Mindestlöhne sogar höher als bisher.
Verteilt die SBB die Löhne von unten nach oben um, Herr Jordi?
Jordi: Wir senken keinen einzigen Lohn. Aber einige Löhne werden sich künftig etwas moderater entwickeln. Dies wird zusammen mit der natürlichen Fluktuation nach einer gewissen Zeit einen Umverteilungseffekt herbeiführen – nicht von unten nach oben, sondern entsprechend den Stellenanforderungen, der individuellen Leistung und dem Markt. Die Mindestlöhne, die wir künftig in den tieferen Anforderungsniveaus garantieren, halten jedem Vergleich mit anderen Unternehmen stand.
Ursprünglich wollte die SBB für die Branchen Reinigung und Verkauf spezielle Lohnkurven. Warum war der SEV dagegen?
Avallone: Der Vergleich mit dem Markt hinkt, die SBB ist anders und als Gesamtsystem zu betrachten. Zudem ist in der Reinigungsbranche das Lohnniveau extrem tief. Es ist einer SBB nicht würdig, sich an solchen Werten zu orientieren und damit die Abwärtsspirale in diesen Branchen noch zu verstärken.
Jordi: Wir haben die Vergleiche sehr sorgfältig durchgeführt und Gleiches mit Gleichem verglichen. Dabei haben wir grosse Differenzen zwischen unseren Löhnen und denen ausserhalb der SBB festgestellt. Das bringt uns in eine schwierige Lage. Denn wir müssen, um unsere Investitionen finanzieren und unsere Pensionskasse sanieren zu können, zunehmend Geld verlangen vom Eigentümer, vom Steuerzahler, vom Kunden. Das können wir nur glaubwürdig tun, wenn wir unternehmerisch handeln und unsere Anstellungsbedingungen sich zunehmend am Markt orientieren.
Wird die SBB nun Reinigungsarbeiten oder Verkaufstätigkeiten auslagern?
Jordi: Der Druck, sich zu überlegen, wie die Kostenstruktur im Reinigungsbereich optimal gestaltet werden kann, nimmt sicher nicht ab. Beim Verkauf ist es etwas anderes. Er ist eine Kernkompetenz der SBB. Die Auslagerung wäre betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll.
Avallone: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SBB 400 Leute auslagert im Wissen, dass sie in prekären Anstellungsverhältnissen am Rand des Existenzminimums landen.
Wie viel Geld spart die SBB mit dem neuen Lohnsystem ein?
Jordi: Das ist keine Sparübung. Wir überführen ein wenig transparentes, uneinheitliches System in eine geordnete Lohnstruktur. Dabei entlasten wir mittel- bis langfristig das Personalbudget nachhaltig. Dies, ohne unseren heutigen Mitarbeitenden den Lohn zu kürzen, sondern indem wir künftigen Mitarbeitenden marktkonforme Löhne bezahlen. Es sei mit Nachdruck erwähnt, dass mit dem neuen Lohnsystem viele Mitarbeitende mehr verdienen werden!
Warum gibt es für die Lokführer und die Transportpolizei eine Sonderregelung?
Jordi: Die Transportpolizei haben wir nicht in unsere Lohnlandschaft integriert, weil in dieser Branche ganz eigene Hierarchie- und Entlöhnungsmechanismen vorherrschen. Die Löhne sind an Grade gebunden. Beim Lokpersonal wurde die Vergütung aufgrund von berufsspezifischen Bedingungen schon bisher gesondert geregelt. Im Gegenzug für die eigene Lohnkurve muss das Lokpersonal seine Produktivität massgeblich erhöhen und auf verschiedene finanzielle Leistungen verzichten. Dieses Paket von Geben und Nehmen ist sehr ausgewogen. Der Berufsstand der Lokführer wird nicht privilegierter behandelt als andere.
Hat der Einbruch der Personalzufriedenheit das Resultat beeinflusst, Herr Jordi?
Jordi: Nicht das Resultat. Aber es hat den Druck auf uns erhöht, beim GAV zu einem Abschluss zu kommen. Damit können wir eine stabile Situation für die nächsten dreieinhalb Jahre schaffen.
Avallone: Tatsächlich: Jetzt ist Stabilität wichtig, denn die SBB steht vor grossen Herausforderungen.
Interview: Markus Fischer