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Verhandlungen Schweiz-EU

Der öffentliche Verkehr der Schweiz darf nicht unter die Räder der EU kommen

Matthias Hartwich (rechts) an der Medienkonferenz.

Die Bundesverwaltung hat ihre Sondierungen bei EU-Vertretern zu den geplanten Verhandlungen Schweiz–EU abgeschlossen. Dabei hat sie dem Abbau des Lohnschutzes, der Liberalisierung des Strommarktes und der Öffnung des internationalen Schienenpersonenverkehrs zugestimmt – zum Entsetzen von Gewerkschaftsbund und Travail.Suisse. Diese haben heute an einer Medienkonferenz in Bern die weitreichenden Folgen dieser Konzessionen für die Arbeitnehmenden und den Service public aufgezeigt. SEV-Präsident Matthias Hartwich analysierte die Gefahren für den öffentlichen Verkehr.

Siehe unten Video und Redetext des Beitrags von SEV-Präsident Matthias Hartwich an der Medienkonferenz von SGB und Travail.Suisse vom 6. November in Bern (Link auf SGB-Webseite mit allen Redetexten).

8. November 2023: SEV-Medienmitteilung zum Bundesratsentscheid für ein Verhandlungsmandat

8. November 2023: SGB-Medienmitteilung zum Bundesratsentscheid für ein Verhandlungsmandat

8. November 2023: Medienmitteilung des Bundesrats zur Erarbeitung eines Verhandlungsmandats

8. November 2023: Radio SRF, Sendung "Echo der Zeit", Beitrag "EU-Schweiz: Bundesrat lässt Verhandlungsmandat ausarbeiten"

6. November 2023: Verhandlungen Schweiz–EU im Bereich Bahn – Wissensstand nach der Medienkonferenz von SGB und Travail.Suisse:

Sind die Verhandlungen schon gelaufen?

Was der SEV befürchtet hat, könnte eintreffen, wenn der Bundesrat nicht massiv Gegensteuer gibt: Bei den Verhandlungen Schweiz-EU soll das Kooperationsmodell im internationalen Schienenpersonenverkehr (IPV) geopfert werden – unter anderem, um von der EU angedrohte Retorsionsmassnahmen bei der Zulassung von Schienenfahrzeugen zu verhindern und um in Brüssel gutes Wetter zu machen für Zugeständnisse gegenüber der Schweiz in anderen Bereichen. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hat in den Sondierungsgesprächen die Öffnung des IPV für den Wettbewerb als mögliches Zugeständnis der Schweiz ins Spiel gebracht und redet die Gefahren und Nachteile klein. Dieses schwerwiegende Zugeständnis soll nun der Bundesrat am kommenden Mittwoch ohne vorangehende fundierte innenpolitische Diskussion in sein Verhandlungsmandat übernehmen und im Voraus bereits als Teilergebnis der Verhandlungen mit der EU akzeptieren, statt sich gegenüber der EU dagegen zu wehren, wie es das Bahnpersonal von ihm erwartet. Dafür hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund von der Bundesverwaltung eindeutige Signale erhalten. In diesem Punkt sollen die Verhandlungen also schon gelaufen sein – auf subalterner Ebene.

Dabei hat der Bundesrat gar nicht die Kompetenz für ein solch gravierendes Zugeständnis. Denn das Parlament hat ihm im Frühling 2019 durch Annahme der Motion 18.4105 "Kooperationsmodell anstelle der Öffnung des internationalen Schienenpersonenverkehrs" ausdrücklich den Auftrag erteilt, eine allfällige Öffnung des IPV nicht in eigener Kompetenz zu beschliessen, sondern vorgängig dem Parlament vorzulegen. Dies, nachdem derselbe wettbewerbsverliebte BAV-Direktor schon damals die Öffnung des IPV am Parlament vorbei durchsetzen wollte, wie er es heute wieder versucht. Der Bundesrat kam dann im Juni 2021 in seinem Bericht zur zukünftigen Marktordnung im Fernverkehr zum Schluss, dass die Schweiz im IPV weiter auf die bewährte Kooperation setzen soll, und nannte dafür gute Gründe: "Qualitätsrisiken beim Zugang von europäischen EVU, Zunahme der Trassenkonflikte, Durchsetzung der Sozialstandards bei durchgehendem Personaleinsatz, geringe Wirkung aufgrund der weiterhin vorherrschenden Kooperation (Erfahrung aus der Öffnung innerhalb der EU), Kabotage als Gefährdung für den nationalen Eisenbahnverkehr". Dieser Bericht ist für die Schweizer Position in Sachen IPV bis heute verbindlich. Und nun soll diese Position plötzlich ohne innenpolitische Diskussion über Bord geworfen werden, weil die EU-Kommission Druck macht für die Durchsetzung ihrer Wettbewerbsideologie? Und weil diese Ideen von der BAV-Spitze geteilt werden? 

Für den SEV ist klar: Das ist nicht nur von der Form her (Respektierung demokratischer Entscheide) inakzeptabel, sondern vor allem auch in der Sache, weil schädlich für das gut funktionierende öV-System der Schweiz und das öV-Personal.

Markus Fischer
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Redebeitrag von Matthias Hartwich an der Medienkonferenz

Der öffentliche Verkehr der Schweiz darf nicht unter die Räder der EU kommen

Schriftlicher Redetext:

Das öV-System der Schweiz ist ein Erfolgsmodell. Tag für Tag nutzen Millionen Menschen in unserem Land den öV, um zur Arbeit zu gelangen, zum Einkaufen oder in der Freizeit. Gleichzeitig werden erfolgreich und umweltfreundlich massenhaft Güter im Binnen- und im Transitverkehr auf der Schiene befördert. Um dieses funktionierende und gute System beneiden uns unsere Nachbarn; anerkennend blickt ganz Europa auf den öV der Schweiz. Menschen und Güter gelangen zuverlässig, pünktlich und umweltfreundlich an ihre Ziele. Darauf können wir stolz sein. Es gibt also keinen Grund, dieses System infrage zu stellen, auch nicht anlässlich allfälliger Gespräche mit der EU-Kommission. Die wesentlichen Elemente, die das Schweizer System so erfolgreich machen, sind:

  • Tarifintegration und Taktfahrplan: Das bedeutet, dass Reisende zuverlässig und zeitlich abgestimmt mit einem für alle Systeme gültigen Fahrschein von A nach B gelangen. Und nur so funktioniert auch das GA. Das ermöglicht auch, dass wir mit der Alliance SwissPass ein gutes und bewährtes Steuerungsinstrument haben. Der Taktfahrplan verhindert zudem Streit um Trassennutzung. Das muss so bleiben.
  • Kooperation statt Konkurrenz: Die Liberalisierung, die in Teilen Europas im Bahnsektor erzwungen worden ist, hat in aller Regel zu schlechterem Angebot, schlechteren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten, Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit geführt. Wir wollen auch in Zukunft zuverlässige Bahnen in der Schweiz – für Menschen und Güter. Das ist notwendig, um Verkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen; in der EU geschieht gerade das Gegenteil. So sind SNCF in Frankreich und DB in Deutschland unter Beschuss wegen angeblich marktverzerrender Beihilfen für die Bahnen im Güterverkehr. Das Ergebnis ist, dass vermehrt Güterverkehr von der Schiene auf die Strasse wechselt.
  • In der Schweiz ist der öV Teil des Service public. Ob Menschen oder Güter, der öV verbindet die Schweiz und sorgt für einen funktionierenden Alltag. Dank des öV kann das Grossi aus einem Urner Bergdorf selbständig ihre Enkel in Zürich besuchen. Das ist eine Errungenschaft, die wir keinesfalls opfern dürfen. In vielen peripheren Gebieten der EU sind ehemalige staatliche oder staatlich subventionierte Angebote durch die Liberalisierungs- und Wettbewerbspolitik verschwunden und private Angebote mangels Gewinnmöglichkeiten nicht vorhanden. Dumpingwettbewerb auf gewinnbringenden Strecken zulasten der Staatsbahnen hat dazu geführt, dass Nebenlinien nicht mehr quersubventioniert werden können und geschlossen werden, wenn die öffentliche Hand nicht einspringt.
  • Ein funktionierender öV benötigt zwingend motiviertes und qualifiziertes Personal. Dafür braucht man GAV mit geregelten Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten der unterschiedlichen Unternehmen (insbesondere EVUs). Geregelte Verhältnisse mit GAV führen zu motivierten und qualifizierten Beschäftigten, geben Sicherheit und Verlässlichkeit. Solche Regeln stärken die Identifikation mit den Unternehmen. Das alles haben wir heute und dürfen es keinesfalls gefährden; die bisherigen EU-Regelungen reichen nicht aus, die Arbeitsbedingungen abzusichern. Insbesondere funktioniert der Lohnschutz der flankierenden Massnahmen in der öV-Branche nicht, da es keine allgemeinverbindlich erklärten GAV gibt. Schweizer Löhne auf Schweizer Schienen und in Schweizer Bussen und Bahnen, egal, woher das Personal kommt: Das muss der Grundsatz sein und bleiben. Das heisst: wir wollen und brauchen echten Lohnschutz, um qualifiziertes Personal im Sektor zu halten.  

Die Schweizer Stimmbevölkerung und das Parlament haben wiederholt klar gemacht, dass die Schweiz am bestehenden öV-System festhalten will. Die Menschen wollen keine Verhältnisse wie in Deutschland. Sie lehnen deshalb eine Liberalisierung im öV, wie sie von Teilen der EU-Kommission gefordert wird, ab. Sie wollen keinen Abbau des Service public. Die Zerstörung des funktionierenden Schweizer öV, um eine Einigung mit der EU-Kommission zu erzielen, kommt für den SEV nicht in Frage.

Für uns gilt: Wir sind nicht gegen Europa; wir sind für zuverlässige und leistungsfähige, funktionierende öV-Systeme, in der Schweiz und in Europa. Dazu bieten wir Hand. Aber wir bieten nicht Hand für unsinnige Liberalisierungen und Privatisierungen, für Schmutzkonkurrenz und Lohn- und Sozialdumping.

Der Schweizer öV ist vorbildhaft und muss es bleiben; auch innerhalb Europas.

Matthias Hartwich
Präsident SEV
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