Positionspapiere Verkehrspolitik und Europa

Lokführer stehen im Regen – SEV spannt Schirme auf

Die Delegierten ziehen Pelerinen an und spannen Schirme auf, während der BAV-Direktor auf die Tribüne steigt – aus Protest, weil er das Personal im Regen stehen lässt.

Die Kongressdelegierten machten Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr, klar, dass die SEV-Basis fest entschlossen ist, sich gegen die vom BAV zugelassene oder gar mitverursachte Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen zu wehren. Das Verkehrspersonal ist wütend über den Entscheid des BAV zu den Dumpinglöhnen der Crossrail-Lokführer und über die BAV-Strategie «Öffentlicher Verkehr 2030». Peter Füglistaler wollte sachlich bleiben, konnte aber seinen Ärger nicht verbergen.

[ Zurück zur Übersicht Kongress 2015 ]

Als Peter Füglistaler am SEV-Kongress das Podium bestieg, begann es in der Kursaalarena zu rascheln: Rund 250 Delegierte zogen SEV-Pelerinen an und spannten Schirme auf. Die Botschaft an den BAV-Direktor war klar: «Sie lassen das Verkehrspersonal im Regen stehen und machen uns mit Ihren Entscheiden und Strategien das Leben schwer!»

Füglistaler begann so: «Ich freue mich, hier bei Ihnen zu sein, denn im Vorfeld zu diesem Kongress wurde doch einiges an Stimmung gegen das BAV gemacht. Ich bin froh, Ihnen einmal direkt meine Sicht darzulegen.» Er verteidigte die Strategie 2030 und sagte zur Liberalisierung: «Ich weiss, nur schon das Wort bringt sie dazu, in einem warmen Saal eine Regenjacke anzuziehen.» Doch Liberalisierung sei «wertfrei» und einfach ein Mittel, das man einsetze, wenn es etwas bringe, und das man sonst lasse. «Wenn man 1999 nicht eine Öffnung der Netze gemacht hätte, sodass heute Güterzüge aller Bahnen durch die Schweiz fahren können, hätten wir heute wesentlich weniger Güterverkehr auf der Schiene. Die Staatsbahnen hätten es nicht geschafft. Also, Liberalisieren kann auch sein Gutes haben.»

Finanzierungsprobleme

Füglistaler kritisierte die Bahnen dafür, dass sie Ende 2015 auf Tariferhöhungen verzichten wollen. «Wenn ich Mehrkosten zu finanzieren habe, gibt es drei Möglichkeiten: Der Kunde zahlt mehr. Der Steuerzahler zahlt mehr. Oder ich spare es ein. Jetzt haben wir grösste Probleme, die Finanzierung sicherzustellen.» Daher müsse man sich fragen: «Ist es nur ein Finanzierungsproblem oder haben wir ein Steuerungspro- blem?» Statt über Jahresbudgets müsse der öV langfristiger finanziert werden. Der Bund müsse sich aus dem Bestellprozess der Regionen zurückziehen, «aber nicht finanziell. Der Fernverkehr muss enger – und stärker durch den Bund – gestaltet werden, und man muss mehr Verkehr in die Kompetenz der Regionen geben.»

Der Fall Crossrail

Zu den Löhnen der Crossrail-Lokführer in Brig, die der SEV als nicht branchenüblich einklagte und die das BAV dann als korrekt erklärte, sagte Füglistaler: «Es ist eine Tatsache, dass die Löhne in der Schweiz bedeutend höher sind als im Ausland. Es gibt verschiedene Gesetze, die den Schweizer Binnenmarkt mit dem hohen Lohnniveau schützen. Wenn aber eine Leistung über die Grenze geht, trifft das eine Lohnniveau auf das andere. Dann wirds schwierig. Es gibt auch Gesetze, die sagen: Die Züge sollen über die Grenze fahren. Im konkreten Fall sind die Löhne korrekt. Es geht um 20 Lokführer, die neu von Brig nach Domodossola fahren statt umgekehrt und mehr verdienen als vorher. Ich bin gespannt, was die Gerichte sagen.»

SEV fordert Lohnschutz

«Unsere Mitglieder sind sauer und haben Angst um ihre Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen», sagte Giorgio Tuti. «Sich für diese zu wehren ist legitim.»

SEV-Präsident Giorgio Tuti antwortete: «Im grenzüberschreitenden Verkehr versucht das grosse Deutschland, seinen gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen. Warum kann das nicht auch die Schweiz?» Zu den Crossrail-Lokführern ergänzte er, was Füglistaler ausgeblendet hatte: Solange sie bei der italienischen Crossrail-Tochter arbeiteten, waren sie durch den (Ende 2014 von der Regierung Renzi geänderten) Artikel 18 des Statuto dei Lavoratori vor Entlassung geschützt. Bei Crossrail Schweiz haben sie nicht mal einen Firmen-GAV (diese will keinen). Und sie fahren nicht mehr zu zweit wie bei Crossrail Italia. Vor allem aber ist ihr Lohn von 3600 Franken viel tiefer als die über 5300 Franken, die Schweizer Bahnen ihren Lokführern bezahlen.

Tuti erinnerte auch an das Eisenbahngesetz, das branchenübliche Löhne verlangt, und fragte: «Wenn ein Schweizer Gesetz auf Bahnunternehmen mit Sitz in der Schweiz nicht anwendbar ist, für wen ist es dann gemacht worden?» Der SEV habe den BAV-Entscheid schon ans Bundesverwaltungsgericht weitergezogen. «Und wir werden auch mit politischen und gewerkschaftlichen Mitteln dagegen kämpfen, dass Lokführer aus Schweizer Depots zu Dumpinglöhnen auf unserem Netz herumfahren.» Tosender Beifall und Standing Ovation.

Zum Thema Liberalisierung rief Tuti die vier Eisenbahnpakete in Erinnerung, die die EU Schlag auf Schlag geschnürt hat, ohne je zu fragen, was sie gebracht haben. «Und die Schweiz ist bei ihrer Umsetzung europäischer als manches EU-Land! Die Strategie 2030 geht komplett in die falsche Richtung.»

Noch schärfer als Tuti gingen sechs Delegierte mit der Politik des BAV und seinem Entscheid zu den Crossrail-Löhnen ins Gericht (siehe Box unten). Peter Füglistaler erklärte danach in einer kurzen Stellungnahme, warum er das Geschenk des LPV-Zentralpräsidenten ablehnte: Es sei respektlos gegenüber den 300 Mitarbeitenden des BAV.

Giorgio Tuti verteidigte die Delegierten: «Unsere Mitglieder sind sauer und haben Angst um ihre Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen. Gewisse Worte waren hart, aber möglicherweise nötig.»

Positionspapiere: Schweizer öV in Gefahr

Daniela Lehmann, Koordinatorin Verkehrspolitik SEV, kommentierte die Positionspapiere «Verkehrspolitik» und «Europa», die der Kongress einstimmig annahm. Für Lehmann fehlen in der BAV-Strategie «öV 2030» Perspektiven für das Personal und ein Bekenntnis zum Service public. Die Strategie will vor allem mehr Wettbewerb, auch gegen aussen, und mehr Marktanteil für private, gewinnorientierte Unternehmen im Personen- und Güterverkehr, besonders auf Kosten der SBB. Das wäre kontraproduktiv für die Grundversorgung, denn Private würden sich auf rentable Strecken konzentrieren und Gewinne abschöpfen, die bisher der Staat für den Betrieb unrentabler Strecken einsetzen konnte. Für diese müssten Bund und Kantone bzw. die Steuerzahler künftig mehr bezahlen, und manche Strecke wäre gefährdet.
Statt vorauseilend das von der EU geplante 4. Eisenbahnpaket umzusetzen, das den Personenverkehr komplett öffnen will, sollte die Schweiz in Brüssel für ihr bewährtes öV-System werben. Auch der SEV muss die EU-Politik via ETF stärker beeinflussen.

Vivian Bologna / Fi

Peter Füglistaler verweigert Händedruck: Pfiffe!

Sechs Delegierte sagten dem BAV-Direktor klipp und klar, was sie von seiner Politik halten: «Ich bin Zugbegleiter bei der SBB, die heute als vorbildlich gilt, nachdem sie europaweit als Bahn mit dem höchsten Anteil an Geisterzügen ohne Begleitpersonal lange einen schlechten Ruf genoss», hielt Pascal Fiscalini (ZPV) fest. Der Entscheid zu den Crossrail-Löhnen sei «absurd, denn in der EU ist man sich einig, dass Personal, das grenzüberschreitend eingesetzt wird, Referenzlöhne des durchfahrenen Landes erhalten muss. Ihre neoliberale Politik werden die Lokführer als erste ausbaden müssen, dann das Zugpersonal und alle anderen Angestellten. Ich garantiere Ihnen, dass wir dem nicht einfach zusehen werden. Sie foutieren sich um die Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen in der Schweiz. Schämen Sie sich!»

«Es geht nicht nur um die SBB, sondern um alle Bahnen», sagte VPT-Zentralpräsident Gilbert D’Alessandro. «Die Strategie 2030 ist wie eine Sintflut. Für unsere Arbeitsbedingungen wird sie verheerend sein wie ein Tsunami. Wie kann man so zerstörerische Ideen haben für den öffentlichen Verkehr? Wir haben eines der besten Systeme der Welt: Will das BAV sein Totengräber sein?» Auch wenn er nicht gläubig sei, sei für ihn die Arche Noah ein gutes Bild. «Wir müssen auch eine Arche bauen und diese ultraliberalen Ideen bekämpfen!»

Für AS-Vizezentralpräsident Roland Schwager «entspricht es nicht dem Volkswillen, dergestalt am Service public herumzuschrauben, dass primär durch künstliche Konkurrenz die Wirtschaftlichkeit gesichert ist und das Volk das Nachsehen hat. Und auch nicht, an der Stellschraube des Lohngefüges so zu schrauben, dass die Arbeit ihren Wert verliert. Das ist nicht moralisch. (…) In einem Land kommt das Volk immer vor der Wirtschaft, diese hat ihm zu dienen.»

«Ich bin auch ein BAV!» sagte LPV-Zentralpräsident Hans-Ruedi Schürch, «ein Besorgter Angestellter eines Verkehrsunternehmens, ein Bemühter Anwender Ihrer Vorschriften, vielleicht nur ein Bahn-Affiner Verträumter oder ein Besonders Ausgekochter Vorlauter. Ich sehe rot, wenn ich zur Kenntnis nehmen muss, dass das BAV sich seiner Verantwortung entzieht und uns ‹Einheimische› im Regen stehen lässt!», fuhr der in Rot Gekleidete fort. «Sehen wir Lokführer rot, dann halten wir schnellstmöglich an.» Dann habe man Zeit zum Nachdenken. Der Entscheid, im Alpentransit andere (europäische) Arbeitsbedingungen zuzulassen als im Binnenverkehr, sei «staatlich gefördertes Lohndumping» und bedrohe neben den Lokführern etwa auch das Personal der technischen Wageninstandhaltung und überhaupt die Existenz der Schweizer Bahnen gegenüber der ausländischen Konkurrenz, die billiger produzieren kann. «In Österreich hat das Sozialministerium auf eine Anfrage aus Slowenien geantwortet, dass entsandten Lokführern mindestens der Branchenlohn des befahrenen Landes zu bezahlen ist. Ich erwarte vom BAV, dass es sich für unser Land und die Eisenbahner/innen in der Schweiz einsetzt, und nicht eine Branche mit exzellentem Weltruf ins Ausland verscherbelt.» Wenn dem BAV aber das Liberalisieren so wichtig sei, könne man auch bei ihm anfangen und es nach Indien auslagern. «Als Erinnerung» wollte er Peter Füglistaler rote Espadrillen geben, doch der verweigerte nicht nur das Geschenk, sondern gar den Händedruck. Dies löste Empörung und Pfiffe aus.

«Herr Füglistaler, hören Sie auf die Leute an der Front. Dienen Sie nicht nur den Mächtigen in Politik und Unternehmen. Ziehen Sie bei der Liberalisierung die Notbremse!», bat ihn Thomas Giedemann (LPV). «Die Deregulierung gefährdet die Sicherheit der Bahn. Am letzten Kongress sagte uns Ihre Chefin, die Schweiz kontrolliere mehr als jedes andere Land. Ja, aber sie tut noch zu wenig, denn die Unregelmässigkeiten nehmen nicht ab. Neulich war bei einem Zug aus Luino die Bremse bei der Hälfte der Wagen unwirksam. In Göschenen hatte ein Zug einen überzähligen Wagen, der in den Zugpapieren fehlte, mit gefährlicher Ladung! Mängel gibts auch bei der Ausbildung: Neulich übernahm ich in Bellinzona einen Zug, den ein Kollege eines dieser neuen EVU mit sechs Hemmschuhen gesichert hatte – an einem Wagen! Zu Ihrem Crossrail-Entscheid: Finden Sie, dass wir Lokführer zuviel verdienen? Wir tragen grosse Verantwortung. Bei Unglücken kommen wir vor Gericht und nicht die Verantwortlichen der Infrastruktur und des BAV.»

«Ein Präjudiz bei Crossrail kann auch im Infrastruktur-Unterhalt Schule machen», warnte BAU- Zentralpräsident Christian Suter. «Wir sind enttäuscht vom BAV und fühlen uns im Regen gelassen.» Seinen SEV-Schirm nahm Peter Füglistaler an.

vbo / Fi