Der SEV im 2. Weltkrieg
Gegen Hitler, aber nicht gegen Transit
Dass die Schweiz im 2. Weltkrieg nicht angegriffen wurde, verdankt sie wesentlich ihren Dienstleistungen für die Achsenmächte. Dazu gehörte der Bahntransit. Der SEV opponierte nicht dagegen, weil er sich damit politisch isoliert hätte und weil die finanziell angeschlagene SBB davon profitierte.
Deutschland lieferte Italien ab 1940 vor allem Kohle, aber auch Eisen, Stahl und Getreide. Nach der Besetzung Italiens durch Deutschland 1943 stieg der Süd-Nord-Verkehr. Auf Druck der Alliierten kontingentierte die Schweiz den Transit zunehmend, unterbrach ihn aber erst im März 1945, wie Urban Tscharland in seiner Lizentiatsarbeit «Die Eisenbahnergewerkschaften und der Transit der Achsenmächte» (2002) schreibt. Auch als immer mehr Wagen defekt bzw. sabotiert an der Grenze ankamen, beförderte die SBB sie wenn immer möglich weiter, ohne politische Skrupel. Transporte von Truppen und Deportierten sind keine nachgewiesen, und auch nicht von eigentlichen Waffen und Munition, wobei letztere nicht ganz auszuschliessen sind, weil die Wagen selten kontrolliert wurden. 1941–1943 fuhren ca. 600 Spezialzüge mit italienischen Arbeitern durch die Schweiz, zuerst Richtung Norden und ab Herbst 1942 zurück. Darin waren 1941 vielleicht Soldaten in Zivil.
Tscharland stellt fest, dass der SEV nie grundsätzlich gegen den Tansit opponierte, obwohl der damalige einflussreiche SEV-Generalsekretär Robert Bratschi (1891–1981) «jederzeit der nationalsozialistischen Diktatur gegenüber kritisch eingestellt war», wie der Historiker klarstellt. «Im SEV und im Föderativverband war die Machtposition Bratschis derart stark, dass die politische Haltung dieser Verbände mit der politischen Haltung von Bratschi gleichgesetzt werden kann.» In der Tat war Bratschi 1919 einer der Baumeister der SEV-Gründung (als vollamtlicher Sekretär des VSEA ab Anfang 1918) und trat im Oktober 1920 die Nachfolge des im Juli verstorbenen ersten SEV-Generalsekretärs Emil Düby an. 1921 wurde Bratschi SBB-Verwaltungsrat, 1922 Präsident des Föderativverbandes des Personals öffentlicher Verwaltungen und Betriebe und 1934 SGB-Präsident. Daneben war er ab 1922 auch Nationalrat (SP/BE) und ab 1932 bernischer Grossrat.
Als Beispiel für Bratschis antifaschistische Haltung nennt Tscharland seine Briefe von 1933 und 1934 an die SBB-Generaldirektion und an den damaligen Chef des Eidg. Post- und Eisenbahndepartements, Marcel Pilet-Golaz. Bratschi forderte, dass das in den Personalzimmern der SBB geltende Verbot kommunistischer Zeitungen (wofür der SEV Verständnis hatte) auch für das Blatt der faschistischen «Nationalen Front» gelten müsse, weil diese Organisation ebenso staatsfeindlich sei wie die Kommunisten. Doch SBB und Bundesrat wollten davon nichts wissen, was ihre autoritär-rechtslastige Haltung zeigte. Ab 1937 verlangte Bratschi von der SBB auch mehrmals die Absetzung ihres Vertrauensarztes in Schaffhausen, eines politisch aktiven Nationalsozialisten, über den sich SEV-Mitglieder beklagten. Er blieb aber mindestens bis Anfang 1946 im Amt. Der SEV half auch untergetauchten Eisenbahnern im Ausland und hatte Kontakte zum Widerstand.
SEV unter Druck
Druck kam ab 1939 auch vom neoliberalen «Bund der Subventionslosen», der die Staatsbetriebe reprivatisieren wollte: Er ergriff das Referendum gegen das Bundesgesetz für eine Verminderung des Lohnabbaus von 1936 für das Bundespersonal und für die Sanierung der Pensionskasse der SBB. Seine Hetze gegen die «privilegierten Beamten» und gegen die Sanierungskosten von angeblich einer Milliarde Franken führte bei der Abstimmung vom 2./3. Dezember 1939 zu einem klaren Nein (62,2%).
Das war für den SEV ein Schock. Er schloss daraus, dass das Ansehen der Eisenbahner in der Bevölkerung verbessert werden musste. Auch deshalb unterstrich der SEV immer wieder die volle Leistungsbereitschaft der Eisenbahner für Volk und Land und wehrte sich nicht dagegen, dass ab April 1940 die dienstpflichtigen Eisenbahner jeweils zweimonatige Einsätze in der Armee leisten mussten, trotz dem akuten Personalmangel bei der SBB wegen der Verkehrszunahme. Auch sonst hielt sich der SEV politisch zurück, um den rechten Kreisen, die die Gewerkschaften beim Bundespersonal einschränken oder gar verbieten wollten, weniger Angriffsfläche zu bieten und um seine Kernaufgabe nicht zu gefährden.Opposition gegen den Transit hätte den SEV wohl politisch isoliert und zum Konflikt mit der SBB geführt. Denn diese stand 1939 finanziell schlecht da und brauchte die Gewinne aus dem Transit dringend für den Schuldenabbau und die Amortisation von Investitionen wie der Elektrifizierung. Auch daher opponierte der SEV nicht und grenzte sich von den Sabotageaufrufen der Kommunisten (ab dem deutschen Angriff auf Russland im Sommer 1941) und der Internationalen Transportarbeiter-Föderation ab. Sabotage von Schweizer Eisenbahnern gab es laut Tscharland kaum, auch weil sie mit sehr harten Strafen rechnen mussten, denn sie unterstanden dem Militärrecht.
Konzentration auf die Verteidigung des Personals
Für seine Mitglieder tat der SEV weiter sein Bestes. So forderte er von der SBB schon im November 1939 mehr Personal, weil die Überzeit aus dem Ruder lief und viele Ruhetage nicht mehr bezogen werden konnten. Bratschi warnte vor Gesundheitsproblemen und schätzte das Manko auf «3000 Mann geschulte Kräfte». Die SBB lenkte ein und erhöhte ihre Mitarbeiterzahl von 1939 bis 1943 von rund 28700 auf über 33000. Im Budget 1945 waren 72% aller betrieblichen Ausgaben Personalkosten.
Auch bei den Löhnen liess der SEV nicht locker, weil der Krieg die Teuerung anheizte, und erreichte im Dezember 1940 eine Familien- und Kinderzulage. Letztlich konnten SEV und Föderativverband den Reallohnverlust im Krieg bei verheirateten Mitarbeitern mit tiefen Löhnen auf 1,7% begrenzen. Mittlere und höhere Einkommen sanken viel stärker, z.B. bei 7000 Franken im Jahr um 16,7%.
Der SEV erreichte auch, dass ab März 1942 Überzeit offiziell wieder mit Zeit und Geld kompensiert wurde, was aber bis 1944 nicht überall umgesetzt wurde. Ab 1943 gleisten Föderativverband und SBB eine neue Vorlage für die Sanierung der SBB auf, die im Frühjahr 1945 in der Referendumsabstimmung durchkam.
Markus Fischer