Officine Bellinzona
Es fehlen noch 150 Arbeitsplätze
Vom 7. März bis zum 8. April 2008 fand in Bellinzona der grösste Streik seit Jahrzehnten statt. Während 31 Tagen legten die 400 Mitarbeitenden des SBB-Werks Bellinzona (Officine) ihre Arbeit nieder und wurden dabei praktisch von der ganzen italienischen Schweiz unterstützt. Der Widerstand war nicht improvisiert, denn schon Jahre zuvor hatten Mitarbeitende begonnen, die Verteidigung der guten Arbeitsplätze zu organisieren. Der Streik hat gezeigt, wie stark eine geschlossene Belegschaft sein kann, und seine Früchte können bis heute geerntet werden – auch wenn die SBB die Erinnerung daran anscheinend auslöschen will, indem sie Anfang Juni die Vereinbarung zur Dialogplattform (Piattaforma) einseitig gekündigt hat. Wir sprachen darüber mit SEV-Gewerkschaftssekretär Thomas Giedemann, der für das SBB-Werk Bellinzona zuständig ist.
Im Jahr 2000 wurde das SBB-Werk in Bellinzona im Zuge der Divisionalisierung der SBB dem Güterverkehr (SBB Cargo) zugeordnet: Dies bedeutete den Verlust bestimmter Berufe, die mit dem Personenverkehr zusammenhängen (z. B. Sattler). Der Verlust dieser Berufe führte zu einer gewissen Unzufriedenheit unter den Beschäftigten, die sich Sorgen um ihre Zukunft machten – und zwar zurecht. Denn SBB Cargo versprach 2007, ins Werk Bellinzona zu investieren, kündigte dann aber Anfang 2008 dessen Schliessung an. Der Unterhalt der Lokomotiven sollte nach Yverdon verlegt und jener der Güterwagen an Privatfirmen ausgelagert werden. Deshalb legten die Mitarbeitenden die Arbeit am 7. März 2008 nieder.
Während dem Streik wurde ein Runder Tisch eingerichtet, an dem die wichtigsten Akteure zusammensassen, um nach Lösungen zu suchen. Dieser Runde Tisch bestand auch nach dem Streik weiter und wurde 2014 in die Piattaforma, die Dialogplattform umgewandelt, welche die SBB nun per Ende Jahr einseitig aufgelöst hat mit der Begründung, die Ziele seien erreicht.
SEV-Zeitung: Warum gefällt dieser Schritt dem Personal und dessen Vertretung nicht?
Thomas Giedemann: Wenn ein Dialogkanal, der noch immer seine Daseinsberechtigung hat, einseitig abgeschafft wird, ist das nie ein gutes Signal und zeugt nicht von Transparenz. Die Piattaforma ermöglichte einen paritätischen Austausch, und die Ziele sind eindeutig noch nicht erreicht. Ich denke zum Beispiel an die Stärkung der Position des Werks innerhalb der SBB, an die Förderung der Beschäftigung mit besonderem Augenmerk auf der Entwicklung qualifizierter Arbeitsplätze oder an den Erhalt und die Weiterentwicklung von Fachkompetenzen. Das sind bereits drei der fünf gesetzten Ziele, die noch nicht erreicht sind. Die dringlichste Frage ist nun der Erhalt der Arbeitsplätze im neuen Werk, das in Castione gebaut werden soll (siehe Foto): Nachdem die SBB mit dem Kanton und der Stadt Bellinzona eine Vereinbarung für das Projekt abgeschlossen hatte, garantierte sie 220 Arbeitsplätze. Weil im bisherigen Werk in Bellinzona und in der Serviceanlage an der Via Pedemonte, die ebenfalls nach Castione verschoben wird, insgesamt 510 Arbeitsplätze bestehen, haben wir als Gewerkschaft immer wieder mehr Arbeitsplätze gefordert. Im Dezember 2022 sprach die SBB von mindestens 400 künftigen Arbeitsplätzen und dann wieder nur von 360. Es gibt keine schriftliche Vereinbarung, die diese Stellen garantiert.
Wird es in Castione weniger Arbeitsplätze geben, weil es an Arbeit fehlt?
Ganz und gar nicht! Es gibt genug Arbeit für das Werk, das inzwischen für die Güterwagen, sondern für das Rollmaterial des Personenverkehrs zuständig ist. Die Nachfrage steigt, das Angebot auch, und das führt zu mehr Zügen, mehr Rollmaterial und so zu mehr Unterhalt. In diesem Bereich nimmt die Anzahl Arbeitsplätze bei der SBB gesamtschweizerisch zu. Also kann man legitimerweise davon ausgehen, dass ihre Zahl auch im Tessin nicht abnimmt.
Ist es vernünftig zu glauben, dass ohne Piattaforma ein ebenso guter Dialog möglich ist?
Das Vertrauen in die SBB ist im Moment gering, weil sie mit ihrer Haltung weder Transparenz noch Dialogbereitschaft zeigt. Und dass sie die im Dezember 2022 kommunizierte Zahl von 400 Stellen wieder auf 360 gesenkt hat, ist auch kein gutes Zeichen. Zudem hat sie uns nie einen Geschäftsplan vorgelegt, aus dem hervorgeht, wie viele Arbeitsplätze es in Castione geben wird. Und in den Sitzungen projiziert sie Daten und Diagramme, die sie dann nicht an uns weitergibt. Als Personalvertretung haben wir uns stets konstruktiv gezeigt und der SBB immer wieder Lösungsvorschläge unterbreitet, doch sie ist gelinde gesagt stets zurückhaltend geblieben. So hat sie behauptet, dass weder die Flirt- noch die Astoro-Züge in dem Werk unterhalten werden könnten, doch es konnten dann durchaus Lösungen dafür gefunden werden. Solche Beispiele gibt es viele. Wir fordern nun, dass die derzeitigen 510 Arbeitsplätze auch mit dem neuen Werk in Castione erhalten bleiben.
Veronica Galster
Vier Forderungen
Die Officine in Bellinzona sind eine historische Werkstätte, seit Jahrzehnten ein wichtiger Arbeitgeber in der Region und ein Symbol für industrielle Kompetenz. Die geplante Verlagerung nach Castione bietet zwar Chancen, aber auch Herausforderungen. Die Forderungen der Mitarbeitenden zur Zukunft des Werks sind klar:
1. Die Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben – auf aktuellem Niveau.
2. Der Dialog muss fortgeführt werden – die Piattaforma hat gezeigt, dass sie als Mittel für den Dialog funktioniert.
3. Die SBB soll Züge in den eigenen Werken unterhalten – Aufträge nach Halberstadt D (Bundesland Sachsen-Anhalt) oder nach Villeneuve VD (Alstom) auszulagern, schwächt die Positionierung der eigenen Werke.
4. Fachkompetenzen müssen innerhalb der SBB erhalten und ausgebaut werden – die Geschichte zeigt auch hier, wie wichtig es ist, industrielle Kompetenzen in der SBB und grundsätzlich in der Schweiz zu sichern und zu fördern.
Nach dem Streik in Bellinzona beschloss die Belegschaft am 7. April 2008, die Arbeit wieder auf-zunehmen. Das Ziel ist immer noch, alle Arbeitsplätze zu sichern. An diesem Ziel halten wir fest.
Patrick Kummer, Vizepräsident SEV
Piattaforma Officine und das kurze Gedächtnis der SBB
Die Mitarbeitenden des SBB-Werks Bellinzona (Officine) haben ein gutes Gedächtnis und trauen daher der SBB nicht. Den Kolleginnen und Kollegen, die zahlreich an einer von der Personalkommission einberufenen Versammlung teilnahmen, gefiel die Auflösung der Piattaforma (Dialogplattform für das SBB-Werk) überhaupt nicht. Obwohl der Streik von 2008 eine Weile her ist, haben sie ihn nicht vergessen. Wer nach dem Streik in die Officine eingetreten ist, findet vielerorts immer noch die roten «Giù le mani dalle Officine»-Fahnen und stets jemanden, der erklärt, was dieses «Hände weg von den Werkstätten» bedeutet hat und bedeutet. Allerdings ist vielen nicht nur das Jahr 2008 unauslöschlich in Erinnerung geblieben, sondern auch der März 2007.
Ein Jahr vor dem Streik informierte die damalige Geschäftsleitung von SBB Cargo das Personal, die Gewerkschaften und die Tessiner Politik über eine Grossinvestition von 30 Millionen Franken zur Modernisierung des SBB-Werks in Bellinzona. Zugleich kündigte sie einen Abbau von 70 Arbeitsplätzen innerhalb von drei Jahren an, der hauptsächlich durch natürliche Fluktuation und Pensionierungen erfolgen sollte. 25 Personen wurden in der SBB zur «Beruflichen Neuorientierung» versetzt. All dies bekräftigte die strategische Rolle der Officine Bellinzona für das Unternehmen. Es war ein Versprechen einer sicheren Zukunft, das nicht nur die Politik täuschte, sondern auch die Gewerkschaften, die versuchten, den Schaden zu begrenzen, indem sie den betroffenen Kollegen bei der Suche nach neuen Jobs halfen.
Als junger Gewerkschaftssekretär traf ich seinerzeit Daniel Nordmann, den damaligen Cargo-Direktor, auf einem Perron im Berner Bahnhof. Ich sagte ihm, dass ein Stellenabbau nicht gut sei für ein Unternehmen, das an seine Zukunft glaubt. Nordmann geriet in Rage, griff mich verbal an und warf mir vor, die guten Absichten des Unternehmens nicht zu verstehen. Diese guten Absichten des Unternehmens wurden ein Jahr später entlarvt, als die SBB das Ende der Officine in Bellinzona bekanntgab. Was war aus den Versprechungen einer gesicherten Zukunft geworden? Der Rest ist Geschichte: Ein ganzer Kanton tobte und mobilisierte zur Verteidigung der Werkstätten. Das Tessin hatte es satt, von den Chefs der ehemaligen Bundesbetriebe (SBB, Post und Militär) betrogen zu werden: Zu viele Arbeitsplätze waren im Tessin schon verloren gegangen.
Die Officine zu schliessen ging aber zu weit, denn dort waren der Widerstandsgeist und die Eisenbahnergewerkschaft geboren worden, als im Tessin im 19. Jahrhundert das Bahnzeitalter begann. Den Beschluss fasste ein neuer SBB-CEO, der zuvor in Deutschland gearbeitet hatte, von dieser Geschichte keine Ahnung hatte und zu seinem Pech von niemandem aufgeklärt wurde. Die prompte Antwort darauf war der lange Streik, der dem Personal zu seinem Recht verhalf und zur Gründung des Runden Tisches und der Piattaforma führte. Diese Dialogplattform war für die Konfliktaustragung und Lösungsfindung sehr wichtig und ging weit über die Sozialpartnerschaft hinaus. Die SBB hat sie nun mit einem Federstrich einfach aufgelöst, obwohl viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen und der Bau des Werks in Castione noch nicht mal begonnen hat. Nein, diese Dialogplattform darf auf keinen Fall abgeschafft werden!
Angelo Stroppini