Matthias Hartwich
Zuhören um zu handeln
Wer ist Matthias Hartwich? Am 27. Oktober wird der SEV-Kongress über die Nachfolge von Giorgio Tuti als Präsident unserer Gewerkschaft entscheiden. Der 55-Jährige deutsch-schweizerische Doppelbürger wird dann vielleicht die Welt des öffentlichen Verkehrs betreten, die er erst wenig kennt. Eine Herausforderung, die ihn nicht schreckt.
Der gewerkschaftliche Werdegang von Matthias Hartwich hat während seines Studiums der Politikwissenschaft in Deutschland begonnen. Er unterrichtete junge Arbeiterinnen und Arbeiter in gewerkschaftlicher Tätigkeit. Diese erste Erfahrung öffnete ihm den Zugang zur Gewerkschaft IG BAU (in den Bereichen Bau, Landwirtschaft und Umwelt aktiv). «Anfangs der neunziger Jahre fing ich als Seminarleiter an. Ich hatte auch neue Mitglieder zu werben. Nach zwei Jahren dann begann ich eine Ausbildung zum Gewerkschaftssekretär und wurde anschliessend als Gewerkschaftssekretär gewählt. Anschliessend war ich als Geschäftsführer für die Region Schwaben in Bayern zuständig. Danach wechselte ich zum Bundesvorstand, wo ich unter anderem Kampagnen für die Betriebsratswahlen durchführte, die bundesweit alle vier Jahre stattfinden».
Zwei spezielle Ereignisse haben ihn als Gewerkschafter geprägt, zwei Streiks: Der erste im Jahr 2002 war bundesweit. «Dies war mein erster grosser Arbeitskampf. Der Streik dauerte zwei Wochen. Die Arbeitgeber wollten den Bundesrahmentarifvertrag des Baugewerbes zerschlagen, der die gleiche Bedeutung hat wie der Bau-GAV in der Schweiz. Der zweite Streik im Jahr 2007 betraf nur Norddeutschland, wo die Bauarbeitgeber den Gesamt-Arbeitgeberverband verlassen wollten. Dies hätte Auswirkungen auf den Bundesrahmentarifvertrag auf nationaler Ebene gehabt.»
Seit 2008 bei Unia
2008 brachte einen Kurswechsel – es war Schluss mit dem Leben in Deutschland. Matthias Hartwich wechselte in die Zentrale der Unia in Bern, wo er sich vor allem um die Koordination der verschiedenen Gesamtarbeitsverträge und ihre Verhandlungen kümmerte. Die Koordination und Betreuung der Europäischen Betriebsräte sowie eines Teils der flankierenden Massnahmen gehörten ebenfalls zu seinen Aufgaben.
Fünf Jahre später wechselte er zu IndustriALL Global Union, nach Genf. Zunächst als Direktor für die Sektoren Werkstoffe und Maschinenbau, wobei er später die Branche Werkstoffe abgab, um die der Basismetalle zu übernehmen. « IndustriALL ist in 140 Ländern präsent und organisiert 600 Gewerkschaften. Der Direktor eines Sektors koordiniert gemeinsam mit dem Co-Präsidium – zwei der 600 Gewerkschaften – die Kampagnen und die Kurse sowie Trainingsmassnahmen, erhebt Beschwerden (z. B. vor der OECD) und hält Konferenzen ab. Er verhandelt auch Globale Rahmenabkommen mit multinationalen Konzernen. Im Sektor Werkstoffe habe ich unter anderem eine Beschwerde bei der OECD gegen Holcim erhoben und die Verhandlungen vor der OECD geführt. Sehr oft geht es bei solchen Klagen um die Verletzung des Rechts auf gewerkschaftliche Organisationsfreiheit. Die multinationalen Konzerne sind oft einigermassen korrekt gegenüber ihren europäischen Angestellten, aber anderswo, wie beispielsweise in Indien, verhalten sie sich völlig anders.»
Warum das SEV-Präsidium?
Weshalb will Matthias Hartwich eine internationale Organisation zugunsten einer Gewerkschaft wie dem SEV verlassen, der hauptsächlich auf nationaler Ebene aktiv ist? « Als ich die Ausschreibung sah, habe ich gespürt, dass ich wieder in einer Organisation arbeiten möchte, die den direkten Kontakt mit den Mitgliedern pflegt. Diese sind es, die den SEV ausmachen und die die nachhaltige Mobilität von morgen schaffen. Diese Nähe zu den Mitgliedern, die die Gewerkschaft ausmachen, ist wunderbar.»
Sollte Matthias Hartwich am 27. Oktober gewählt werden, hat er vor, zunächst einmal gut zuzuhören. «Ich werde zuerst die Bedürfnisse der Mitglieder zu verstehen suchen. Als deren Repräsentant werde ich gerne für ihre Entscheidungen in der Öffentlichkeit einstehen.» Was die Sprache angeht, so spricht er nicht Schweizerdeutsch, das er zwar gut versteht, aber selbst nicht gesprochen verballhornen möchte. «Ich könnte es sprechen, aber das wäre eine schlechte Imitation. Das Wichtigste für mich ist, dass ich die Mitglieder verstehe und von ihnen verstanden werde.»
Welche Visionen hat er?
Matthias Hartwich gibt gerne zu, dass er mit der Welt des öffentlichen Verkehrs noch nicht sehr vertraut ist, aber er glaubt, dass es am wichtigsten ist, den Mitgliedern, den Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmern zuzuhören. «Sie haben das Wissen, sie sind es, die den Sektor und die Betriebe voranbringen. Es ist sowieso nicht möglich, alles zu wissen. Die Frage ist: Bin ich fähig, zuzuhören? Ich werde nie einen Zug oder Bus fahren können, aber ich werde in der Lage sein, zu verstehen, welches die Herausforderungen sind und welchen Handlungsbedarf wir haben.»
Eine seiner Prioritäten ist sein Wunsch, den SEV als Gewerkschaft von Männern und Frauen zu positionieren, die im Bereich der nachhaltigen Mobilität arbeiten, der Mobilität der Zukunft. Eine Mobilität, die sich weiter entwickeln muss. «Ich glaube, dass unser Organisationsbereich die Zukunft der Mobilität in der Schweiz darstellt. Und ich werde stolz sein, dazu zu gehören.» Um dies zu erreichen, zählt er auf die Frauen und junge Menschen, bei denen er ein grosses Potenzial sieht. «Dazu müssen wir den SEV noch attraktiver für die Frauen und die Jungen machen. Um dies zu erreichen, müssen wir auch die Modernisierung des SEV vorantreiben. Zum Beispiel mit verbesserten Arbeitsbedingungen für Junge und Frauen im öffentlichen Verkehr. Und wenn man das sagt, darf man auch die Traditionen und die Pensionierten in diesem Prozess nicht vergessen, denn sie sind das Gedächtnis und die Wurzeln der Organisation.»
Privat ist Matthias Hartwich seit 25 Jahren mit derselben Frau zusammen, die seit 13 Jahren auch seine Ehefrau ist und wegen der er in die Schweiz kam. Zu seinen Hobbys gehören Literatur, Theater, Kochen, Ski- und Motorradfahren.
Und nun: kennst du Matthias Hartwich ein bisschen besser?
Vivian Bologna