Langzeitkrankheit
Prekarisierung vermeiden
Immer öfter erklären die Vertrauensärzte der Erwerbsausfallversicherungen krankgeschriebene Vollzeitbeschäftigte als arbeitsfähig, jedoch in einer anderen Position. Die Betroffenen dürfen dann entlassen werden, wenn der Arbeitgeber sie intern nicht weiterbeschäftigen kann oder will. Ein Teufelskreis beginnt.
Patrick* ist seit vielen Jahren Busfahrer in einem Westschweizer öV-Betrieb. Im Lauf der Zeit bekommt er anhaltende Rückenschmerzen – er muss aufhören zu arbeiten. Während er krankgeschrieben ist, erklärt ihn der Vertrauensarzt der Ausgleichskasse für arbeitsfähig, aber nicht mehr fahrtauglich. Das Unternehmen versucht nicht, intern eine neue Stelle für ihn zu finden, sondern zieht es vor, ihn zu entlassen. Eine Abwärtsspirale treibt ihn in Armut und Prekarität. Als Alleinstehender ist das für ihn besonders einschneidend, denn er muss für seine Tochter aufkommen und möchte ihr eine Zukunft bieten können. Für die Invalidenversicherung (IV) ist er nicht krank genug, um eine Rente zu erhalten. Nachdem er sein Recht auf Arbeitslosigkeit ausgeschöpft hat, erhält er Sozialhilfe von 1526 Franken monatlich für sich und seine Tochter. Da er beim Bezug von Sozialhilfe kein Vermögen haben darf, verliert er sein Haus und muss sein Sparkonto leeren. Die Früchte seiner langjährigen Arbeit lösen sich in Luft auf. «Die Situation bringt mich fast zum Weinen, es ist so unfair», gesteht SEV-Gewerkschaftssekretär Jean-Pierre Etique, der sich um den Kollegen gekümmert hat.
Chauffeur – ein riskanter Beruf
In den letzten Monaten sind ähnliche Fälle bei Busfahrern in der Romandie, aber auch in anderen Berufen wie der Reinigung aufgetreten, auch in der Deutschschweiz. Nicht alle landen in der Sozialhilfe, aber immer mehr Menschen, die krank werden, werden kurzerhand entlassen.
Dies kann in vielen Berufen passieren, aber Busfahrer/innen scheinen häufiger krank zu werden. Im März 2019 führte der SEV eine interne Umfrage durch. Daraus entstand ein besorgniserregender Bericht über den Beruf: Es wurde eine offensichtliche Zunahme von Schlaf- und Appetit- bzw. Verdauungsstörungen festgestellt. Fast 50 % der Busfahrer/innen geben an, sie hätten der Arbeit aus gesundheitlichen Gründen schon einmal fernbleiben müssen, ein Drittel ist von einer arbeitsbedingten Krankheit betroffen. 54 % leiden unter Rückenschmerzen. Die Gründe: unregelmässige Arbeits- und Essenszeiten, langes Sitzen, Druck, den Fahrplan einzuhalten sowie aggressives Verhalten anderer Verkehrsteilnehmenden. Im Falle einer Entlassung kann sich die Situation für Busfahrer/innen schnell zu einem Albtraum entwickeln, denn es ist weiterhin ein Monopolberuf. Mit 50 Jahren und einem Führerschein für jede Kategorie, aber ohne EFZ, sind die Möglichkeiten sehr begrenzt, einen anderen Job zu finden.
Intervention der medizinischen Beratung
Mit Ausnahme der SBB und der Genfer Verkehrsbetriebe (TPG) haben die meisten Verkehrsbetriebe eine kollektive Erwerbsersatz- versicherung abgeschlossen. Bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit garantiert dies mindestens 80 % des Gehalts für 720 bis 730 Tage. Laut SEV ist dies eine angemessene Zeit. Sowohl bei der SBB als auch den TPG und einigen anderen Unternehmen, die nicht rückversichert sind, kann die Erwerbsersatzordnung (EO) nicht in den Prozess eingreifen und kranke Mitarbeitende können während zwei Jahren nicht ent-lassen werden. Für diese Unternehmen bleibt das Problem jedoch das gleiche: Was tun bei Monopolberufen mit niedrigen Qualifikationen, bei denen es zu Berufsunfähigkeit kommen kann?
In vielen konzessionierten Transportunternehmen stellt sich diese Frage immer häufiger schon vor Ablauf der zweijährigen Frist. In der Tat scheinen einige Erwerbsersatzzversicherungen nicht bereit zu sein, zwei Jahre lang zu zahlen, wenn die Arbeitsunfähigkeit verlängert wird. Oft stellt der Versicherungsberater ohne Rücksprache mit der kranken Person anhand deren Krankengeschichte fest, dass sie arbeitsfähig ist, aber nicht mehr fahren kann.
«Sobald der von der EO bezahlte medizini- sche Berater seine Entscheidung getroffen hat», so Jean-Pierre Etique, «scheinen bestimmte Arbeitgeber nicht immer den grossen Wunsch zu haben, einen internen Platz zu finden». Das Management versteckt sich hinter der Entscheidung des medizinischen Beraters der EO und beteuert sein Bedauern, die Person entlassen zu müssen. Das Eingreifen des Vertrauensarztes ist entscheidend, da in bestimmten GAV in einem Artikel festgelegt ist, dass eine berufliche Neueinstufung innert eines angemessenen Zeitraums unmöglich ist. Mit der Zeit kann der Arbeitsvertrag folglich wegen Berufsunfähigkeit gekündigt werden. Dies beunruhigt Vincent Brodard vom SEV-Rechtsdienst: «Es gibt einen Widerspruch zwischen zwei Artikeln, von denen einer von einem Recht auf Gehalt für 720 oder 730 Tage spricht und der andere die Tür offen lässt, die Frist durch diesen Trick der unmöglichen Neueinstufung zu verkürzen.»
«Die Geschäftsleitungsmitglieder der neuen Generation scheinen nicht genügend Empathie aufbringen zu können, um interne Lösungen zu suchen und Entlassungen zu vermeiden», bemerkt Valérie Solano, die für die TPG verantwortliche SEV-Gewerkschaftssekretärin. SEV-Gewerkschaftssekretärin Patricia Alcaraz trifft auf ähnliche Fälle: «Die Versicherung spart Geld und das Management wird beeinträchtigte Arbeitnehmende günstig los. So sinkt die Zahl der krankheitsbedingten Ausfälle, ohne dass das Unternehmen hinterfragen muss, warum immer mehr Menschen krank werden.»
Gewerkschaftliche Massnahmen
Einige Unternehmen unterstützten eine Reintegration, sagt Jean-Pierre Etique: «Angestossen von der Gewerkschaft wurden interne Lösungen gefunden und Mitarbeitende beispielsweise im Hausdienst oder als Gebäudemanager eingesetzt. Eine Schalterangestellte erhielt eine Überbrückungsrente, damit sie würdevoll in den Ruhestand treten konnte.» Auf der anderen Seite schliessen Unternehmen durch das Auslagern bestimmter Dienstleistungen (Hausdienst oder Fahrzeugreinigung) die Tür für eine interne Reintegration. «Im Falle eines Misserfolgs», sagt Brodard, «können wir bei einer Kündigung, die uns missbräuchlich erscheint, einen Anwalt hinzuziehen».
Es braucht Lösungen für Menschen, die erschöpft am Ende ihrer Berufstätigkeit ankommen, auch ohne Intervention der EO. Es gilt aber auch zu verhindern, dass Mitarbeitende überhaupt krank werden. «Die Unternehmen sind dafür verantwortlich, das Wohlbefinden zu fördern», sagt Etique. Für den SEV muss das Thema Gesundheit am Arbeitsplatz von den Verkehrsbetrieben aktiv angegangen werden.
* Name der Redaktion bekannt.
Yves Sancey
Gegen körperliche Abnützung
Editorial von Christian Fankhauser, Vizepräsident SEV
Die Pandemie, die seit einem Jahr wütet, hat uns etwas klar gemacht: Nichts ist wichtiger, als von seinen Lieben unterstützt zu werden und gesund zu bleiben. Auch die Gewerkschaft kann in diesen Zeiten keine Wunder vollbringen. Aber sie bietet trotz «sozialer Distanz» Solidarität und Anschluss. Die Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen hatte für den SEV schon vor dem Coronavirus Priorität. Wir haben die Folgen für die Sicherheit und Gesundheit unserer Kolleg/innen angeprangert, die unterbesetzt im Rangierbetrieb und bei der Personaleinteilung arbeiten. Der SEV legt besonderes Augenmerk auf Berufe, die den Körper auf eine harte Probe stellen, so wie im Gleisbau bei SBB, SBB Cargo und den KTU. Auch Lokführer/innen sind davor nicht gefeit, da sie immer höheren Anforderungen an ihre körperliche und geistige Gesundheit ausgesetzt sind. Vor mehr als zehn Jahren führte der SEV eine erste Umfrage zur Gesundheit von Busfahrer/innen durch. Diese ermöglichte verschiedene gewerkschaftliche Kampagnen, wie beispielsweise «10 Stunden sind genug!», die zum Ziel hatte, die Länge des Arbeitstages zu verbessern und den Arbeitsumfang zu reduzieren. Die zweite Umfrage im Jahr 2019 zeigte, dass sich die Situation nicht verbessert hatte, im Gegenteil. Der innerliche Stress und die erschöpfende Arbeit führten zu einer Zunahme von Verdauungsbeschwerden und Schlafstörungen. Langes Sitzen, Nachtarbeit oder unregelmässige Einsätze wirken sich negativ auf den Schlaf aus und begünstigen Übergewicht und Gewichtszunahme. Unter diesen Umständen erstaunt es wenig, wenn der müde Körper wenige Jahre vor der Pensionierung krank wird. Und dauert die Krankheit an, werden die betroffenen Kolleginnen und Kollegen vermehrt rücksichtslos aus dem Betrieb gedrängt. Es stellt sich die Frage: Was ist für Kolleg/innen in Monopolberufen, die zu Berufsunfähigkeit führen können, zu tun? Die Art und Weise, wie die SBB eine Struktur für interne Umschulungen im Falle einer Langzeiterkrankung oder eines Unfalls, und für einen würdigen Ruhestand ohne Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe geschaffen hat, ist eine Reflexionsgrundlage, die für alle Unternehmen des öffentlichen Verkehrs von Interesse sein sollte. Die Sorge um die Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen, die auf Schiene, Strasse, See oder Asphalt arbeiten, wird den SEV auch in den nächsten Jahren begleiten. Körperliche Abnützungserscheinungen sind nicht unvermeidbar. Sie hängen stark von den Arbeitsbedingungen und dem Kampf der Gewerkschaften für deren Verbesserung ab.