GAV-Serie, Teil 4: Weiterentwicklungen
Mit Mobilisierung hohe Qualität gesichert
Seit Mai 2019 läuft der GAV SBB und SBB Cargo in seiner sechsten Auflage; vor kurzem wurde die Laufzeit wegen der Auswirkungen der Pandemie bis 2025 für die SBB und bis 2023 für SBB Cargo verlängert. Ab der dritten Auflage verschärfte sich der Ton zwischen den Vertragspartnern: Kundgebungen, Unterschriftensammlungen und 2006 gar die Drohung mit Kampfmassnahmen sorgten von Seiten des SEV für den Druck, der nötig war, um das hohe Niveau des Vertrags aufrechtzuerhalten.
Über alle die Jahre gesehen findet Manuel Avallone, als damaliger SEV-Vizepräsident mehrmals Leiter der Verhandlungsdelegation bei den GAV-Verhandlungen: « Ich würde behaupten, dass beide GAV SBB und SBB Cargo in den letzten Jahren unter dem Strich grundsätzlich verbessert wurden und die von den SBB angepeilten Verschlechterungen erfolgreich abgewehrt werden konnten.» Auch Jürg Hurni, der als ehemaliger Zentralpräsident des Zugpersonalverbands und danach als Gewerkschaftssekretär für die Division Personenverkehr an den Verhandlungen teilnahm, findet: «Er ist immer noch einer der besten Firmen-GAV in der Schweiz.» Als Begründung nennt er den Kündigungsschutz durch den Contrat social und die Regelungen bei Unfall und Krankheit.
Gewerkschaftssekretär Philipp Hadorn, zuständig für den Bereich Güterverkehr und als Lohnspezialist in die Verhandlungen einbezogen, sieht es etwas durchzogener. Er weist darauf hin, dass bei Abspaltungen, etwa SBB Cargo International, das GAV-Niveau des Stammhauses nicht gehalten werden konnte. Auch Urs Huber, zuständig für die Division Infrastruktur, weist auf eine Fehlentwicklung hin: «Bei der Einführung von Toco mit der Neueinreihung der Funktionen waren die Leute bei SBB Infrastruktur klar die Verlierer.»
Doch in den Jahren nach dem ersten Abschluss, bei der ersten Überarbeitung des Vertrags 2004, ging es noch ruhig zu und her. Die SBB konnte zwar eine minime Erhöhung der Arbeitszeit erreichen, zahlte dafür aber einen hohen Preis mit einer allgemeinen Lohngarantie und einer zusätzlichen Ferienwoche. Sie setzte im Gegenzug die kurze Laufzeit von zwei Jahren durch.
Es folgte ein einmaliger Vorgang: 2006 kündigte die SBB den GAV, um Druck auf die Verhandlungen zu machen. In allen andern Fällen wurden die Neuverhandlungen ohne Kündigung geführt.
2006: Drohung mit Warnstreik
Die Verhandlungen 2006 standen auch personell unter besonderen Vorzeichen: Benedikt Weibel hatte seinen Abgang bei der SBB angekündigt und wollte auf jeden Fall mit einer Einigung abtreten. Auf der Gegenseite sass jedoch nicht mehr sein Studienkollege Ernst Leuenberger, sondern dessen Nachfolger als SEV-Präsident Pierre-Alain Gentil, der ein eher französisches Gewerkschaftsverständnis pflegte und Konfrontationen nicht aus dem Weg ging. Auch als Verhandlungsleiter amtete ein Romand: SEV-Vizepräsident François Gatabin. Erstmals wurde der Konflikt öffentlich ausgetragen. Mitte November 2006 verteilten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in den Zügen Schokolade an die Reisenden, um sie auf die Auseinandersetzungen aufmerksam zu machen, und einen knappen Monat später kündigte der SEV für den 15. Januar 2007 einen «Aktionstag» an: «Wir planen Kampfmassnahmen, wobei ein Warnstreik nicht auszuschliessen ist», hiess es in einer Resolution. Nun, es kam nicht dazu: Nach einer durchhandelten Nacht erfolgte im Dezember eine Einigung, die alle Seiten das Gesicht wahren liess. Für die weitere Erhöhung der Arbeitszeit auf 41 Wochenstunden bekam das Personal eine Reallohnerhöhung und einen weiteren Ferientag.
2010 kämpfte der SEV in der Öffentlichkeit vor allem für eine korrekte Ausfinanzierung der Pensionskasse, die zur gleichen Zeit in den eidgenössischen Räten behandelt wurde. Aber unter den Mitgliedern brodelte es, da die SBB ultimativ ein neues Lohnsystem verlangte, das eine Abkehr von der früheren Systematik mit sich brachte. Es trug den Namen Toco und gilt heute noch bei vielen Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern als Schimpfwort. Klassische Bahnberufe wurden tendenziell schlechter bewertet, akademische Laufbahnen höher gestellt. Für den SEV war klar, dass eine Einführung von Toco nur unter der Bedingung erfolgen konnte, dass keine Löhne gekürzt würden. Die ursprünglich auf vier Jahre beschränkten Garantien wurden in den folgenden GAV-Verhandlungen jeweils praktisch unverändert verlängert. Toco brachte eine Sonderbehandlung der Lokomotivführer, deren Lohnkurve höher angesetzt wurde als für das übrige Personal. Für Gewerkschaftssekretär Jürg Hurni ist klar: «Ohne die Garantien wäre der GAV 2011 nie angenommen worden.»
Vier Jahre später kam es zu einem klassischen Kompromiss: Die SBB konnte erstmals eine Einschränkung beim Contrat social durchsetzen, im Gegenzug wurden neue Pensionierungsmodelle geschaffen, die vor allem für Personen mit schwerer körperlicher Arbeit eine vorzeitige Pensionierung ohne grössere Einbussen ermöglicht. Zudem musste die SBB allen temporären Mitarbeitenden nach vier Jahren eine Festanstellung anbieten, was für langjährige Temporäre nützlich war, in der Folge jedoch dadurch unterlaufen wurde, dass Temporärverträge aufgelöst wurden, bevor die Frist erreicht wurde.
2018: Kommunikation per Luftballon
Die bisher letzten GAV-Verhandlungen 2018 brachten eine heftige Auseinandersetzung mit sich, stieg die SBB doch mit einem langen Forderungskatalog ein, der einen Abbau bei Ferien, Sozialleistungen, Löhnen und Kündigungsschutz umfasste. Öffentlichkeitswirksam wandte sich das Bahnpersonal mit einer Ballonaktion an die SBB-Spitze: Luftballons überbrachten die gewerkschaftlichen Botschaften an SBB-Chef Andreas Meyer, der sich ausgerechnet in der Phase der GAV-Verhandlungen eine Auszeit geleistet hatte. Der Abschluss war dann aber beidseits tragbar: Das Personal muss neu an die Krankentaggelder bezahlen, behält aber den Kündigungsschutz und die Treueprämien.
Allerdings musste der SEV die Bereitschaft eingestehen, während der Laufzeit ein neues Lohnsystem zu verhandeln und eigenständige GAV-Verhandlungen für den in der Zwischenzeit teilprivatisierten Bereich SBB Cargo aufzunehmen. Der zuständige Gewerkschaftssekretär Philipp Hadorn findet: «Die Durchlässigkeit von Laufbahnen, die innerbetriebliche Übernahme von Mitarbeitenden wird ernsthaft gefährdet – und dies in einem Moment, wo aufgrund demographischer Entwicklungen Rekrutierungsprobleme absehbar sind.»
(Letzter Teil in der nächsten SEV-Zeitung)
Peter Moor