GAV-Serie: Interview Giorgio Tuti
Giorgio Tuti: «Der Contrat social ist eine Meisterleistung des SEV»
SEV-Zeitung: Du bist 1997 von der GBI aus dem Tessin zum SEV gekommen. Weshalb?
Giorgio Tuti: Absolut unerwartet erhielt ich im Tessin einen Brief von Ernst Leuenberger, dem damaligen Präsidenten des SEV. Es war nur ein kurzer Text, drei Sätze, sinngemäss: «Wir brauchen jemanden, der einen GAV macht, falls Interesse, melde dich!». Mir war es eigentlich wohl im Tessin, ich hatte einen interessanten Job als Regionalsekretär für Bereiche der GTCP (Chemie, Textil, Papier), die neu zu der fusionierten GBI gestossen waren, aber dieser Brief im Zusammenhang mit Beamtengesetz, Bundespersonalgesetz, GAV hat mich gleich gereizt.
Wie war die Beziehung des SEV zur SBB, bevor es den Gesamtarbeitsvertrag gab?
Die Anstellungsbedingungen waren vorab gesetzlich geregelt, dann in Verordnungen, weiter gab es so genannte AZ – Arbeitszirkulare, und noch vieles mehr. Als ich neu in dieses Haus gekommen bin, war der Ausgangspunkt: was gilt heute, und was gilt morgen? Ich ging in die Registratur und fragte: «Wo finde ich das Regelwerk der Anstellungsbedingungen bei der SBB?» Der Sekretär hat mir dann einen zweitürigen Metallschrank geöffnet, der komplett voll war mit Papier. Ich habe ihn gefragt, was genau, und er sagte: Der ganze Schrank.
Wie hast du reagiert?
Das war die grosse Herausforderung: Wie kommt man von einem zweitürigen Metallschrank zu einem kleinen Büchlein?
Du hattest auf Seiten der Personalverbände den Titel Projektleiter GAV.
Ich hatte das Glück, mit Kolleginnen und Kollegen zusammenzuarbeiten, die absolut profunde Kenner waren von allem, was bei der SBB galt. Ich brachte das an Knowhow hinein, was hier nicht vorhanden war, das es aber bis dahin auch nicht brauchte.
Was musstest du beim SEV anpacken, mit Blick auf die GAV-Verhandlungen?
Es galt, die Basis zu befragen. Wir mussten mit den Leuten zusammen die Schwerpunkte und Prioritäten zusammenstellen, daraus entstand der Forderungskatalog. Dann mussten wir die Delegation zusammenstellen und unsere Strategie und Verhandlungstaktik und die GAV-Struktur festlegen. Am Schluss mussten wir das Resultat zu den Leuten zurückbringen. Dazu mussten wir die so genannte GAV-Konferenz aufbauen und daraus einen GAV-Ausschuss, und dann begannen wir, mit ihnen zu arbeiten.
Welche Ziele setzte sich der SEV für den ersten GAV?
Das erste Ziel war, überhaupt einen Gesamtarbeitsvertrag zu haben, das zweite, die Bedingungen nicht zu verschlechtern, sondern einen «Niveauübergang» mit punktuellen Verbesserungen zu erreichen. Das war die Ausgangssituation.
Wie begann die Arbeit konkret?
Da gab es eine Folie, die ziemlich entscheidend war: die Folie mit Konfliktpotenzial und Komplexität der Verhandlungsthemen. Wir haben einen ganzen Tag im Löwenberg an einem Workshop mit der SBB gestritten, wie schwierig ein Thema ist und wie konfliktbeladen, und das gab so eine Wolke von Themen, von links unten: nicht spektakulär und nicht konfliktbeladen, bis zu rechts oben: ziemlich konfliktbeladen und sehr, sehr kompliziert in der Ausgestaltung. So war es dann möglich, sogenannte Verhandlungspapiere zu erstellen und in einen Verhandlungsprozess einzusteigen. Ein Verhandlungsprozess mit 22 Verhandlungstagen, immer wieder mit Unterbrechungen, mit Themendiskussionen, mit laufender Verhandlungsplanung. Wir waren gut aufgestellt, weil wir die profunden Kenner der Materie hatten, die wirklich sehr grosses Sachwissen hatten.
Und dann mussten die Mitglieder entscheiden?
Weil es der erste GAV war und auch ein historischer Schritt weg von einer Gesetzessituation hin zu einer Vertragssituation, führten wir unter allen Mitgliedern, die bei der SBB arbeiteten, eine Gesamtabstimmung durch. Das Resultat ist bekannt: sehr hohe Stimmbeteiligung und ein überdeutliches Ja zum Verhandlungsresultat.
Hat es eine Rolle gespielt, dass das Duo Weibel/Leuenberger gut miteinander sprechen konnte und der Personalchef Nordmann von den Gewerkschaften gekommen ist?
Es hat sicher nicht geschadet. Ernst Leuenberger und Benedikt Weibel haben sich schon lange gekannt. Neu dazu gestossen sind SBB-Personalchef Daniel Nordmann, der vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund gekommen war, und ich von der GBI Tessin. Wir hatten zwar wenig miteinander zu tun gehabt und uns auch nicht besonders gut gekannt, aber die Herkunft hat sicher einiges erleichtert. Aber es wäre ein Irrtum zu meinen, da seien vier Personen zusammengekommen, die sich kennen und quasi im stillen Kämmerchen einen GAV machten: Das war überhaupt nicht der Fall.
Noch vor dem GAV trat bei der SBB die 39-Stunden-Woche in Kraft, die man damals für einen epochalen Durchbruch hielt. Was ging danach schief?
Es ging eigentlich nichts schief. Am Schluss war die Diskussion in der GAV-Konferenz: eine Stunde mehr arbeiten und dafür eine Woche mehr Ferien bekommen oder auf den 39 Stunden bleiben mit den bestehenden Ferien. Es war klar, dass es auf keinen Fall eine Arbeitszeiterhöhung geben darf.
Was würdest du aus heutiger Sicht anders machen?
Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Es wird sicher das eine oder andere geben, das man hätte besser machen können. Aber ein so ambitioniertes Projekt schliesslich mit diesem Resultat abschliessen und unterzeichnen zu können, zeigt wohl, dass wir die wichtigen Sachen richtig gemacht haben.
Was waren die Schlüsselelemente?
Die Basis so einbeziehen, dass sie sagen kann, was sie will, und am Schluss entscheidet, ob das Resultat auch gut genug ist. Weiter ging es darum, das Haus, die Sekretärinnen und Sekretäre, so zu organisieren, dass klar ist, wo unsere Stärken sind. Als Drittes kommt die Kommunikation hinzu. Mit einer schlechten Kommunikation bringt man in einer Gesamtabstimmung nicht ein solches Resultat hin.
Hat es dir eigentlich weh getan, dass du am Schluss bei der grossen Zeremonie nicht mit unterschrieben hast?
(lacht) Es war einfach ein bisschen komisch. Ich habe ja gewusst, was ich für eine Funktion habe: von Ende 97 an habe ich fast ausschliesslich für diesen GAV gearbeitet – von den Verhandlungen und dem Zusammenhalten der Verhandlungsgemeinschaft bis zur Gesamtabstimmung und der Kommunikation, und wenn es dann ans Unterschreiben geht, sitzen andere am Tisch. Aber ich habe das gewusst und ich habe es auch entsprechend so akzeptieren müssen.
Wie ging es für dich weiter?
Irgendwann kommt der Moment, wo die Arbeit gemacht ist. Ich habe das eigentlich immer verdrängt, weil das Ziel war, den GAV zur Unterschrift zu bringen, und eigentlich erst an diesem 27. Juni habe ich realisiert: Das wars, game over. Der GAV ist gemacht, ich kann wieder gehen. Möglicherweise haben sich Leute von andern Gewerkschaften diese Überlegung auch gemacht, denn nach dem Sommer bekam ich plötzlich Telefone von gewissen Kolleginnen und Kollegen, die fragten, ob ich nicht zu ihnen kommen wolle. Da hat der SEV gefunden, man müsse mir irgendeine Perspektive geben, denn offenbar wollte man mich behalten. Und so bin ich geblieben und immer noch da.
Gibt es Sachen, etwa den Contrat social, für die das Personal einen zu hohen Preis bezahlt hat?
Ich glaube nicht, dass das Personal einen zu hohen Preis bezahlt hat. In einer Unternehmung, die sich seit den 90er Jahren laufend verändert, eine Gewähr zu haben, dass aus Reorganisationen heraus niemand die Arbeit verliert, ist den Leuten etwas wert. Die SBB produziert Mobilität, mit ganz eigenen Berufsprofilen. Rangierer braucht es nur in einem Eisenbahnunternehmen. Daraus kam dieser Wille zu sagen, Veränderungen sind nicht per se schlecht, aber dann müssen wir Gewähr haben, dass diese Veränderungen nicht gegen die Leute gehen, sondern mit den Leuten angegangen werden.
Inzwischen haben SEV und SBB sechsmal einen GAV ausgehandelt. Was hat sich in diesen 20 Jahren verändert?
Die Qualität der Sozialpartnerschaft. Andere würden sagen, wir seien normaler geworden. Heute kommen die Arbeitgeber mit Forderungen, wir kommen mit Forderungen, und danach gibt es halt eine Konfrontation. Heute ist es unvorstellbar, einen GAV am grünen Tisch hinzukriegen, ohne dass wir Aktionen machen, Mobilisierungsbewegungen machen, entweder um etwas durchzusetzen oder eine Verschlechterung nicht zuzulassen. Das gehört in den heutigen Kommunikationsstil und auch in die heutigen Sozialpartnerschaften. Eine gute Sozialpartnerschaft kann nicht eine Partnerschaft sein, in der man sich nur lieb hat. Manchmal braucht es einen Knall, damit man sich repositionieren kann, und zwar beidseitig. Wenn man jetzt den Gesamtarbeitsvertrag nach 20 Jahren anschaut und auch in einen Quervergleich stellt mit andern Gesamtarbeitsverträgen, würde ich sagen, er lässt sich qualitativ immer noch sehen…
Was war der grösste Erfolg?
Das ist noch schwierig. Der übergeordnete Erfolg ist eigentlich, dass wir auch nach 20 Jahren sagen können, Architektur und Qualität des Vertrags stimmen. Der Contrat Social hat sich zwar verändert, aber im Grundsatz gibt es ihn heute noch. Wenn nun auch noch die Digitalisierung hineinzuspielen beginnt: Ich finde, dass die Leute bereit sind, die Veränderungen mitzumachen, aber mit einer gewissen Garantie, das ist eine Meisterleistung des SEV.
Was war die grösste Niederlage?
Vielleicht dass wir gewisse Reorganisationen, die komplett falsch waren, nicht haben verhindern können. In einer Sozialpartnerschaft, basierend auf einem GAV, hätten wir vielleicht nicht nur darauf aufmerksam machen und warnen sollen, sondern wir hätten sagen sollen stopp, bis hierhin und nicht weiter.
Von Anfang an verhandelten die Personalorganisationen in einer Verhandlungsgemeinschaft, die vom SEV geführt und dominiert wird. War das richtig, damals, heute?
Wir haben gewusst, dass es auf Arbeitnehmerseite vier Parteien gibt, einen dominant grossen SEV und drei kleine. Der VSLF organisiert etwa die Hälfte der Lokführer, die andere Hälfte davon, eher etwas mehr, organisieren wir. Dann gibt es den Kaderverband, der das Kader mit organisiert, aber auch wir organisieren das Kader. Und dann gibt es Transfair, die den Anspruch erhebt, die Breite zu organisieren, aber sie haben sehr viel weniger Mitglieder als der SEV. 1997 haben wir uns gefragt, ob jeder für sich Parallelverhandlungen führen soll, oder ob man ein starkes Signal aussenden will, dass wir zwar vier Verbände sind, aber uns für eine so wichtige Sache wie die Aushandlung eines GAV zusammenschliessen. Ich glaube, dieser Schritt war wichtig und richtig, weil es für eine Gegenseite immer einfach ist, wenn sie die Organisationen relativ einfach gegeneinander ausspielen kann.
20 Jahre lang hat sich der SEV hartnäckig für einen identischen GAV bei SBB und SBB Cargo eingesetzt. Nun ist diese Mauer gefallen.
Unsere Ausgangslage ist absolut klar: Das Resultat kann punktuell verschieden sein, aber insgesamt werden wir weder bei der SBB noch bei SBB Cargo Verschlechterungen hinnehmen. Wir werden gut schauen, dass die beiden Verträge auch beieinander bleiben. Es ist für uns unvorstellbar und wir würden es auch nicht so hinnehmen, dass man bei SBB Cargo einen nicht wiedererkennbaren GAV hätte.
Wenn du einen Wunsch frei hättest, um etwas in einen GAV hineinzuschreiben, was wäre es?
(überlegt lange) Man müsste die Arbeitszeit verkürzen, bei gleichem Lohn, mit dem Zwang, die daraus resultierenden Stellenprozente 1:1 zu besetzen und zwar mit einer Frauenquote. Es ist nicht mehr der Traum der Jugendlichen, in Schichten zu arbeiten, 100 Prozent, Samstag und Sonntag. Das heisst, man muss die Rahmenbedingungen ändern, weil die heutigen Jungen nicht mehr eindimensional unterwegs sind, sondern Familienmodelle auch abseits der Stromlinie wollen. Das heisst, man muss die Arbeitsbedingungen, die Anstellungsbedingungen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf so organisieren, dass Verkehrsberufe viel attraktiver sind für Frauen.