Interview
Giorgio Tuti: «Die SBB muss langfristig denken»
Der SEV-Präsident wirft einen genauen Blick auf die aktuelle Strategie der SBB. Eigentlich hat diese ein Ass im Ärmel, denn der öffentliche Verkehr ist wichtig im Kampf gegen die Klimaerwärmung. Das Unternehmen muss attraktiv bleiben, um sich dieser Herausforderung zu stellen. Die geplanten Sparmassnahmen auf dem Rücken der Mitarbeitenden sind ein Affront, erklärt Giorgio Tuti im Gespräch.
Die durch Covid-19 ausgelöste Gesundheitskrise hat die Gesellschaft und den öffentlichen Verkehr nachhaltig erschüttert. Viele Unternehmen sehen keine andere Möglichkeit, als sich mit Sparprogrammen über Wasser zu halten. Das beunruhigt den SEV und er nutzt jede Gelegenheit und jedes Treffen mit Führungspersonen von Unternehmungen, um die Interessen des öV-Personals und des öV dezidiert zu verteidigen. Gegenüber SBB und SBB Cargo ist Giorgio Tuti besonders kritisch. In diesem Interview legt er die Positionen des SEV dar und erinnert an den europäischen Kontext, den er als Präsident der Eisenbahnsektion der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) bestens kennt.
Giorgio, die Gesundheitskrise hat die öffentlichen Verkehrsbetriebe schwer getroffen. Die SBB will jetzt Geld sparen. A priori scheint dies logisch…
Die Situation sieht in der Tat so ernst aus, dass drastische Sparmassnahmen nötig scheinen. Die SBB hat im ersten Halbjahr 2020 viel Geld verloren. Sie verbuchte ein Loch von 479 Millionen Franken, nach einem positiven Ergebnis von 279 Millionen im Vorjahr. Andererseits deckt der Bund diesen Verlust teilweise ab. Es ist daher wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und trotzdem langfristig zu denken. Andere Zahlen sprechen ausserdem gegen eine Schlankheitskur.
Welche?
In den Jahren 2018 und 2019 erzielte die SBB hervorragende Ergebnisse. In ihrer Erklärung zum Bericht 2019 bekräftigte sie, «mit dem Transport von 1,3 Millionen Reisenden pro Tag alle Rekorde gebrochen zu haben». Das Konzernergebnis belief sich auf 463 Millionen Franken, 2018 sogar auf über eine halbe Milliarde.
Nebst den positiven Jahresergebnissen kann die SBB auch auf nicht zu knappe Reserven zählen. Gemäss Geschäftsbericht 2019 verfügt sie über Reserven von 6,3 Milliarden Franken. Mit solchen Zahlen kann man nicht behaupten, sich in einer katastrophalen Lage zu befinden, und das Personal zur Kasse bitten.
Die SBB argumentiert, dass sie ein Zeichen für Politik und Wirtschaft setzen müsse…
Die Belegschaft hat bereits einen vorbildlichen Beitrag geleistet und leistet ihn auch weiterhin. Wie die anderen systemrelevanten Branchen konnte der öffentliche Verkehr im Lockdown rund 80% seines üblichen Angebots aufrechterhalten. Die SBB-Züge fuhren weiter, obwohl sie fast leer waren. In diesem Zusammenhang sind die Einsparungen auf dem Rücken des Personals, die das Management vorsieht, ein Affront gegen die Mitarbeitenden. In den Sparvorschlägen gibt es auch Elemente, die den Interessen des Unternehmens zuwiderlaufen, wie beispielsweise das Einfrieren der Gehaltsentwicklung. In einer Zeit, in der die SBB attraktiv sein muss, um sich der Herausforderung ihrer demografischen Struktur zu stellen, ist ein solcher Vorschlag schwer zu verstehen.
Eine Reduktion der Ferientage wird von den Mitarbeitenden auch nicht besser aufgenommen. Was sollte die Geschäftsleitung tun, um sich dem Personal wieder anzunähern?
Alle jüngsten Umfragen zur Mitarbeiterzufriedenheit haben gezeigt, dass das Vertrauen in die Führungsetage gesunken ist. Wird die SBB in diesem Jahr mit dem neuen CEO bessere Ergebnisse erzielen? Die angekündigten Sparmassnahmen auf Kosten der Mitarbeitenden könnten einen Einfluss haben.
Um auf die Frage zurückzukommen: Man muss bedenken, dass ein Drittel der Mitarbeitenden in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen wird. Die SBB wird daher viele neue Leute einstellen müssen. Aus diesem Grund ist es unbedingt nötig, die Löhne und Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Das Einfrieren der Lohnentwicklung sendet ein sehr schlechtes Signal in einer Zeit, in der viele junge Leute eingestellt werden. Diese Attraktivität ist notwendig, um die Kernaufgaben des Unternehmens zu gewährleisten, sie ist die Garantie für einen sicheren, qualitativ hochwertigen Betrieb. All dies macht den Service public aus, den die Bevölkerung so schätzt. Um den Betrieb unter Kontrolle zu behalten benötigt die SBB motiviertes, gut ausgebildetes Personal mit guten Arbeits- und Lohnbedingungen. Jetzt ist nicht die Zeit, Konflikte mit den Mitarbeitenden anzuzetteln, denn sie wissen sehr genau, wie sie mobilisieren können, wenn es die Situation erfordert. Vor zwei Jahren brachte der SEV in kürzester Zeit 1500 Angestellte auf die Strasse, als die SBB den GAV verschlechtern wollte.
Die Gesundheitskrise hat viele Fragen über Veränderungen in der Arbeitswelt hervorgebracht, insbesondere in Bezug auf Homeoffice. Ist es nicht wahrscheinlich, dass die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel sinkt?
Natürlich wissen wir nicht genau, wie sich die Arbeitsgewohnheiten entwickeln werden. Andere Faktoren kennen wir jedoch. Die nationalen Wahlen vom letzten Jahr standen im Zeichen der Klimaerwärmung. Der Umweltschutz ist und bleibt langfristig eine der grössten Herausforderungen. In diesem Zusammenhang hat der öffentliche Verkehr ein Ass im Ärmel, denn er ist Teil der Lösung, wie die Klimaerwärmung gebremst werden kann. Diese Gelegenheit dürfen die öffentlichen Verkehrsbetriebe nicht verpassen! Es ist eine langfristige Chance und muss Teil einer nachhaltigen Strategie in der Branche sein. Dieses Phänomen betrifft auch nicht nur die Schweiz, das sehe ich als Präsident der Eisenbahnsektion der ETF immer wieder.
Der Schienenverkehr ist Teil der Schweizer DNA. Ist es ein normales Phänomen, dass wir uns der Stärken der Bahn nicht mehr bewusst sind?
Vielleicht. Dabei hat der Schienenverkehr unzählige Vorteile! Das Potenzial ist da, auch im Zusammenhang mit dem Klimanotstand. Die Europäische Kommission hat beschlossen, 2021 zum Europäischen Jahr der Eisenbahn zu erklären. Auf diese Weise möchte die EU dazu beitragen, die Ziele des Green Deals im Hinblick auf die Reduzierung der Treibhausgasemissionen zu erreichen. Die EU will bis 2050 eine CO2-Neutralität erreichen. Damit dies gelingt, will sie sich von den umweltschädlichsten Branchen lösen. Der Verkehr verursacht einen Viertel aller europäischen Treibhausgasemissionen, ein Anteil, der stetig wächst. Die Europäische Kommission möchte diesen Anstieg durch die Förderung der Bahn eindämmen, die als einziges Fernverkehrsmittel ihre Treibhausgasemissionen senken konnte. Zudem ist der Schienenverkehr auch wirtschaftlich effizient geblieben.
Die SBB kündigt die Rückkehr der Nachtzüge an. Ist das nicht ein Zeichen ihres guten Willens?
Dies ist tatsächlich eine gute Nachricht, aber das allein reicht nicht. Das Unternehmen muss unbedingt noch visionärer werden! Die SBB hat viele offensichtliche Stärken, dazu gehört ihr hochmotiviertes Personal. Diese Chance muss sie nutzen. Dafür braucht sie auch eine zweckmässige Strategie für den Güterverkehr. Seit über zehn Jahren jagt bei Cargo eine Reorganisation die andere – ohne Erfolg. Und nun besteht ihr Zukunftsprojekt vor allem aus Angriffen auf die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden.
Der Güterverkehr liegt immer noch hauptsächlich in den Händen der SBB. Die Angriffe gegen die Mitarbeitenden werden aber immer extremer…
Die Verluste von Cargo müssen vom Bund und nicht vom Personal aufgefangen werden! Zusätzlich zum Einfrieren der Lohnanstiege und zur Streichung von zwei Ferientagen wünscht sich die Geschäftsleitung von Cargo mehr Flexibilität: Bis zu 40 Minusstunden sollen Mitarbeitende auf 2021 verschieben müssen. Dies steht im Gegensatz zu den im GAV vorgesehenen maximal 25 Stunden. Wir lehnen diese Sparmassnahmen entschieden ab. Das Personal von SBB Cargo hat während dem Lockdown unter schwersten Bedingungen Ausserordentliches geleistet. Und weiterhin müssen viele Mitarbeitende auf freie Tage verzichten, unter anderem wegen Personalmangel und kurzfristigen Änderungen der Touren, um den lückenlosen Betrieb zu gewährleisten. Und dies beeinträchtigt immer öfter ihr Privatleben. Aus diesen Gründen werden wir die geplanten Angriffe auf das Personal dezidiert und energisch bekämpfen.
Vivian Bologna, Übersetzung: Karin Taglang
Kommentare
Nibali Salvatore 22/10/2020 06:01:49
Carissimo Sev.
Io sono convinto che lotterete sempre come avete fatto finora e che accompagnerete il personale FFS come avete fatto finora. Io a breve vado in pensione potrei dire non mi interessa, ma mi dispiace per tutti i miei giovani colleghi. Per questo confido nel nostro sindacato e vi dico buon lavoro un grazie particolare da parte mia.
Salvatore Nibali.