Interview mit Manuel Avallone
Unterhalt SBB-Rollmaterial: «Es braucht mehr Personal»
Der tragische Unfall eines SBB-Kundenbegleiters brachte einiges ins Rollen. SEV-Vizepräsident Manuel Avallone nimmt im Interview Stellung dazu.
Bei ihrer Nachkontrolle hat die SBB 66 Einklemmschütze gefunden, die nicht voll funktionsfähig waren, 7 davon funktionierten gar nicht. Was sagst du zu diesen Zahlen?
Manuel Avallone: Die Höhe dieser Zahlen hat uns auch erstaunt. Und es stellt sich schon die Frage, wie das möglich ist und warum diese Mängel nicht im planmässigen Instandhaltungsprozess entdeckt werden.
Wo liegen für den SEV nun die Prioritäten?
Wir begrüssen es sehr, dass die SBB vom BAV den Auftrag bekommen hat, Organisation und Abläufe beim Fahrzeugunterhalt extern zu überprüfen. Dabei ist wichtig zu klären: Stimmen die Prozesse und hat es genügend Personal? Wir haben den Eindruck, dass die SBB im Unterhalt mit zu wenig Personal unterwegs ist.
Ein Blick in die Zahlen zeigt: Für eine steigende Anzahl Triebzüge wird im Unterhalt mit immer weniger Personal gearbeitet (siehe Grafik).
Die SBB geht davon aus, dass durch den technologischen Fortschritt immer weniger Personal im Unterhalt gebraucht wird. Die Realität ist aber eine ganz andere: Erstens kann die Industrie nicht liefern, was man sich verspricht. Zweitens werden die Züge immer schwerer, länger und schneller. Deshalb ist auch der Verschleiss an Rollmaterial und Infrastruktur grösser. Eigentlich braucht es darum nicht weniger Unterhalt, sondern mehr.
Der SEV sagt, dass es auch auf den Zügen wieder mehr Leute braucht. Weshalb?
Hier gilt dasselbe: Die Züge werden immer länger, die Kundenbegleiter/innen sind aber zunehmend alleine unterwegs. Die SBB geht davon aus, dass die Technik dem Zugpersonal viel Arbeit abnimmt. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Mit dem neuen Berufsbild des Kundenbegleiters muss sich das Zugpersonal zudem stärker auf die Kunden fokussieren, der Fahr- und Sicherheitsdienst rückt dabei in den Hintergrund.
Anfang September findet das nächste Treffen mit der SBB statt. Was wird da zur Sprache kommen?
Wir wollen von der SBB wissen, wie der Stand der Umsetzung der vom BAV geforderten Massnahmen ist – sei dies beim Material oder beim Abfahrprozess. Daneben wollen wir die genaue Personalsituation kennen –im Unterhalt, aber auch beim Zugpersonal.
Die SEV-Forderung nach einem geänderten Abfahrprozess ist also nicht vom Tisch?
Im Gegenteil: Da bleiben wir dran. Unter Umständen entstehen hier sogar neue Forderungen. Dieses Thema ist längt nicht abgeschlossen.
Beim Personal war nach dem Unfall – neben Schock und Trauer – auch Unmut und Empörung zu spüren. Woher kommen diese?
Wir stellen schon seit längerer Zeit fest, dass irgendetwas nicht stimmt. Vieles führe ich auf die Reorganisationswut bei der SBB zurück. Etwa auf «Railfit»: Ein Sparprogramm, das als «Fitnessprogramm» verkauft wurde und suggerierte, dass die Leute nicht fit genug für den Job seien.
Darauf folgte eine Reorganisation um die andere, und zwar ohne Konsolidierungsphase. Das Ziel ist immer das gleiche: Effizienz steigern und Spareffekte erzielen. Dies führt dazu, dass die Leute immer mehr unter Druck sind. Zudem verstehen die Mitarbeiter/innen nicht mehr, wohin die Unternehmung überhaupt will. Die Leute klinken sich irgendwann aus – auch weil sie das Gefühl haben, dass man gar nicht auf sie hört. Die Mitarbeitenden geben irgendwann auf, sie resignieren. Man hat das Gefühl, bei der SBB sei man nun an diesem Punkt angelangt.
Wie kommt die SBB wieder aus dieser Krise heraus?
In dem sie das Personal wieder ins Zentrum rückt: Die Leute müssen merken, dass sie Gehör finden und ihre Mitarbeit, ihr «Mitdenken» geschätzt wird.
SBB muss Sofortmassnahmen ergreifen
Am 4. August ist ein Chef Kundenbegleiter bei der Arbeit tödlich verunfallt. Der 54-Jährige wurde mit dem Arm in der Türe eingeklemmt, weil der Einklemmschutz versagte. Der Zwischenbericht der Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST hat zudem gezeigt, dass auch das zusätzlich verbaute Sicherheitssystem im Zugtyp EW IV nicht ausreichend zuverlässig funktionierte. So wurden dem Lokführer die Türen als geschlossen gemeldet, obwohl dies gar nicht der Fall war.
Aufgrund der Empfehlungen der SUST ordnete das Bundesamt für Verkehr (BAV) nun einen Katalog von Massnahmen an, welche die SBB treffen muss, um die Mängel an den Zugtüren zu beheben und die Erkennung von Fehlern zu verbessern. Diese Massnahmen decken sich mit den bereits gestellten Forderungen des SEV. Das BAV verlangt unter anderem, dass die Türsteuerung bei allen EW IV ersetzt wird und bis dahin Ersatzmassnahmen geprüft und umgesetzt werden. Zudem fordert das BAV die SBB auf, den Abfertigungsprozess auf Risiken zu überprüfen. Weiter muss die SBB prüfen, ob bei ähnlichen Wagenflotten vergleichbare Risiken bestehen. Vergangenen Freitag informierte die SBB, dass bei bisher 1536 kontrollierten Türen 512 Mängel entdeckt wurden – der grosse Teil davon sei allerdings nicht sicherheitsrelevant. Aufgrund dieser hohen Fehlerquote verlangt das BAV auch ein Audit durch eine externe Firma. Dabei sollen Organisation und Abläufe beim Fahrzeugunterhalt überprüft werden. Die SBB hat bestätigt, dass sie alle Auflagen des BAV fristgerecht umsetzen wird.
Elisa Lanthaler
Schwächen und Stärken
Editorial von SEV-Präsident Giorgio Tuti
Nach dem tragischen Unfall unseres Kollegen B. am 4. August kam es zu einer Schockstarre des SBB-Personals, die auch den SEV ergriff.
Am 9. August versammelten sich viele Mitarbeitende im HB Zürich, um ihres verstorbenen Kollegen zu gedenken (siehe Bild). Die Stimmung war sehr emotional: Trauer, Betroffenheit aber auch Wut über das Vorgefallene sind die bleibenden Eindrücke dieses schwierigen Moments.
Nun geht es an die Verarbeitung dieses Unglücksfalls. Diese muss sich auf mehreren Ebenen abspielen. SUST und BAV haben erste Erkenntnisse präsentiert, wie es zu diesem Unglück kam. Die SBB-Leitung hat mehrfach Stellung bezogen, teilweise mit nicht besonders glücklichen Aussagen, und erweckt den Eindruck wachsender Hektik. Der SEV hat ebenfalls Stellung genommen und dabei auch auf die Stimmung der Kolleginnen und Kollegen aufmerksam gemacht.
Diese Stimmung ist schlecht. Dazu tragen die zahlreichen Reorganisationen massgeblich bei, die oft ohne Einbezug des Personals erfolgen und für dieses nicht nachvollziehbar und schädlich sind.
Zu vielen Kategorien fehlt es markant an Personal, was zu grösserer Hektik, grösserer Fehleranfälligkeit und einer laufenden Überforderung führt. Und sehr viele Mitarbeitende fühlen sich übergangen, wenn sie auf Probleme hinweisen, vor Fehlern warnen oder Massnahmen ergreifen müssen, die für sie sinnlos sind.
Die Probleme an der Basis werden oben zu wenig wahrgenommen; und das ist mangelnde Wertschätzung, die besonders empfunden wird.
«Bahn im Griff» heisst eine der Devisen der SBB. Im Moment ist sie, durch den Unfall in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, eher im Würgegriff. Und den spüren alle.
Unser Tipp an die Leitung ist der folgende: Eine Rückbesinnung auf die Stärke der SBB tut dringend not. Diese Stärke heisst Bahnverkehr. Sicherer, zuverlässiger Bahnverkehr.
Die SBB hat das Personal, das dazu in der Lage ist. Man muss bloss hinschauen und zuhören.