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Streik der Schweizer NLM-Angestellten auf dem Lago Maggiore

Die Arbeit täglich verteidigen!

Nach zwanzig Tagen Streik konnten die Gewerkschaften und die Belegschaft einen Teil der geforderten Garantien zum Schutz der 34 auf Ende 2017 gekündigten Mitarbeitenden erlangen. Es ist ein Streik von grosser historischer Bedeutung, der zu einem langfristigen Kräftegleichgewicht geführt und die ausserordentliche Entschlossenheit der Belegschaft gezeigt hat.

Die Müdigkeit steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Aber die Luft ist noch nicht draussen, im Gegenteil. Angelo Stroppini, Gewerkschaftssekretär SEV, führt die Gruppe Tag für Tag an und webt dabei ein Netzwerk von Beziehungen und Kontakten, während er versucht, die sehr komplexe Situation zu lösen. Er tat dies in Zusammenarbeit mit der gewerkschaftlichen Führung des SEV (davon vor allem mit Präsident Giorgio Tuti und Vizepräsidentin Barbara Spalinger) und teilte sich die Verantwortung mit dem Kollegen Enrico Borelli der Unia, denn die Antwort auf die 34 Kündigungen bei der Società navigazione Lago Maggiore (NLM) wurde von drei Gewerkschaften gemeinsam durchgeführt: vom SEV (mit tatkräftiger Unterstützung von Pascal Fiscalini und der Autorin dieses Artikels), der Unia (mit Verstärkung von Gianluca Bianchi und Giangiorgio Gargantini) sowie vom OCST (vertreten durch Graziano Cerutti und Lorenzo Jelmini).

«Wir arbeiten auf ein gemeinsames Ziel hin, unabhängig von den individuellen Interessen, denn im Zentrum stehen immer einzig und allein die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter», betont Angelo Stroppini. Die enorme Bedeutung dieser Entlassungen – das gesamte im Tessin wohnende Personal hat seine Arbeit verloren – zeigt sich auch in der Bevölkerung und bei den Tourist/innen, die mit enorm viel Elan die Petition «Lago Maggiore: Arbeitsstellen erhalten und den service public retten!» unterschrieben haben. Am Dienstag wurden der Staatskanzlei in Bellinzona 13451 Unterschriften überreicht. Die Unterschriften erreichten das Tessin aus allen vier Teilen der Schweiz, angetrieben von einem Wind der Solidarität.

Keine alltägliche Situation

Alles ist noch in Bewegung, denn die Aktivitäten, die am 23. Juni begonnen haben, werden sich bald auf weitere Ebenen ausdehnen. «Wir befinden uns in einer ungewöhnlichen Situation», sagt Angelo Stroppini. «Ungewöhnlich, weil es auf der Gegenseite keinen Arbeitgeber gibt, mit dem man die Arbeitsverhältnisses definieren könnte, und zwar in erster Linie die Löhne, die von zentraler Bedeutung sind. Es ist inakzeptabel», so Stroppini, «dass das Konsortium, das gebildet werden soll und das für das Betreiben der Linie Locarno–Magadino von öffentlichen Geldern profitieren wird, seine Tätigkeit auf der Basis von Lohndumping aufnimmt. Man muss wissen, dass die Löhne der Mitarbeitenden der Società navigazione del Lago di Lugano (SNL), die das Konsortium führen wird, tiefer sind als diejenigen der Kollegen der NLM.»

Aber es kommt noch mehr dazu. Stroppini erklärt: «Einige der Akteure, die mit der Zukunft des Konsortiums verbunden sind, wollten nichts wissen von den Sozialpartnern und schon gar nicht von den Angestellten.» Die ganze Aktion ist sehr undurchsichtig. Hinzu kommt das Verhalten der Schweizer Gemeinden am Lago Maggiore, die alles dafür tun, die Schifffahrt auf dem Lago Maggiore zu sabotieren, indem sie wiederholt die Schiffe sowie die Dienstleistungen kritisierten, für die sie nie auch nur einen Rappen bezahlt haben. Der Bund hat mit der neuen Konzession seine Zustimmung für die Aktion – durch welche die Schifffahrt auf den Seen faktisch privatisiert wird – gegeben (siehe Kasten auf Seite 11). Daher ist der Konflikt auch politischer Natur. «Sicher, die Politik trägt in dieser Situation eine grosse Verantwortung und der Streik der Belegschaft mischt auch die politischen Gewässer gehörig auf», sagt Angelo Stroppini.

«Am Ende hat der Staatsrat – vor allem dank der Entschlossenheit von Regierungspräsident Manuele Bertoli (siehe Box unten) – alles Mögliche versucht und zwischen den Streikenden mit ihren Vertretern und dem künftigen Direktor des Konsortiums Agostino Ferrazzini, der aktuell Besitzer der SNL ist, zu vermitteln.»

Der Streik der 34 Schweizer Angestellten der NLM, der auf grosse landesweite Resonanz stiess, zeigte die paradigmatische Dimension des Konflikts auf: Der Wert der Arbeit sinkt mit alarmierender Geschwindigkeit – die Angestellten sind nur noch Werkzeuge, keine Menschen mehr.

Seit Beginn des Streiks verteidigte die Belegschaft ihre Sache mit Würde, mit Kampfgeist, aber immer auch mit grosser Korrektheit. Denn nebst der symbolischen Piratenflagge, die am Schiffssteg von Locarno hängt, ist die einzige Flagge, die wirklich zählt, jene des Kampfes für die Verteidigung der Arbeitsplätze.

Der Kampf geht weiter

«Diesen Kampf, und mit ihm die Lohnforderungen, führen wir entschlossen fort», betont Stroppini. «Warum sollte es in einem Kanton, in dem die Abwärtsspirale des Lohnniveaus längst Realität ist, nicht legitim sein, für den Erhalt des Lohnniveaus zu kämpfen, das man sich durch jahrelangen Dienst an der Gesellschaft verdient hat? Warum soll man im Tessin, wo landesweit die tiefsten Löhne bezahlt werden, nicht für gute Löhne kämpfen?»

Jenseits des Arbeitskampfes und der Verhandlungen, die parallel wieder ins Rollen gekommen sind, gibt es sicher etwas zu betonen: die Kraft und Würde, den Mut und den Anstand der Belegschaft und ihrer Familien. Hinzu kam die liebevolle Unterstützung und Zuversicht der Bevölkerung, die ihre grosse Solidarität gezeigt hat, indem sie zum Beispiel das Schiff «Verbania» am Anlegen hindern wollte, welches Locarno mit der Erlaubnis des BAV angesteuert hat, um den Streik zu umgehen.

Durch eine solche Anteilnahme werden Differenzen zu gemeinsamen Werten, aber dafür muss man über seinen Schatten springen – nur so kann die Solidarität wirklich wachsen. Die Gewerkschafter/innen und die Streikenden haben den Sprung gewagt und gezeigt, dass sie alle, ja wirklich alle, ein grosses Herz haben.

Françoise Gehring / kt

Impressionen vom Streik


Kommentar von Françoise Gehring

Redaktorin contatto.sev

Um zu kämpfen, braucht es Mut. In ihrem Buch «Das Ende des Mutes» lädt die französische Philosophin Cynthia Fleury Männer und Frauen ein, diese Tugend neu zu entdecken. «Der Mut», sagt sie, «ist keine Tugend wie die anderen, er ist eine Kardinaltugend, die moralische Kraft, die es Menschen ermöglicht, aufrecht, frei, mit Würde, gerecht sich selbst und anderen gegenüber zu leben. Mut sucht weder Sieg noch Ruhm. Mut bedeutet, Meister seines eigenen Lebens zu sein.» Mut ist es, was sie Tag für Tag zeigten, die Mitarbeiter/innen der Navigazione Lago Maggiore (NLM), seit Beginn ihres Streiks am 25. Juni. Sie zeigten auch Würde, Solidarität und Zusammenhalt.

Seit Jahren meinte man, dass Individualismus zur absoluten Freiheit führen würde. Wer sich aber nur auf die eigenen Interessen konzentriert, verliert den Gemeinsinn aus den Augen. Heute, in einer Welt, in der alle virtuell miteinander verbunden sind und viele die Illusion pflegen, das Zentrum des Universums zu sein, entpuppt sich die Einsamkeit plötzlich als Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber allen andern. Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, sich (wieder) um andere zu kümmern, um Nachbarn, Arbeitskolleg/innen. Niemand ist vor Unsicherheit geschützt. Deshalb ist die menschliche Solidarität, noch vor der beruflichen, ein ungemein wichtiges Element, um auf die Herausforderungen der Arbeitswelt zu reagieren. Das NLM-Personal macht diese Fähigkeit, an andere zu denken, vor. Streiken ist nie leicht, es ist eine anstrengende Erfahrung, weil sich Hoffnungen und Ängste unaufhörlich mischen.

Aber diese Gruppe, die ihre Arbeit verloren hat, hat nie aufgegeben: sie hat es verstanden, belastende Gefühle Schritt für Schritt zu überwinden. Sie hat die Unterschiede zwischen den einzelnen in Antriebskraft verwandelt. Ich glaubte und glaube immer noch an die Wichtigkeit des Zusammenhalts, ohne auf streitbare Reden zu verzichten, gestern, heute und morgen. Die Belegschaft der NLM, dessen bin ich mir sicher, hat die Gewerkschafter/innen, die ihren Kampf mitverfolgten, viel gelehrt. Aufmerksam und unbestechlich hat sie stets eigenständig und bestimmt ihren Standpunkt und ihre Forderungen ausgedrückt. Dabei zeigte sie, dass sie sehr genau wusste, dass Kämpfe nicht mit Rhetorik zu gewinnen sind und mit Schulterklopfen jener, die ihre Arbeit nicht verloren haben. Aber mit der Kraft der Vernunft und der Grosszügigkeit des Herzens. Ihnen allen gebührt unser aufrichtiger Dank.

Die Rolle des Kantons

Die Personalversammlung möchte in erster Linie Manuele Bertoli, Staatsrat und Präsident des Staatsrats, danken für seine Bemühungen und seine aufrichtige Entschlossenheit, der Belegschaft aus ihrer Situation heraus zu helfen. Er übernahm die wichtige Rolle des Mediators. Der Staatsrat hat seinen Willen bekräftigt, das Schifffahrts-Angebot auf dem Lago Maggiore zu entwickeln und dem entlassenen Personal konkrete Garantien zu geben. Bei einem Treffen mit einer Delegation von Personalvertretern sagte der Staatsrat, er wäre bereit, folgende Garantien zu geben:

  • die Weiterbeschäftigung der 34 entlassenen Mitarbeiter/innen (von denen zwei Ende Jahr in Pension gehen werden),
  • die Aufrechterhaltung der Zugehörigkeit zur Pensionskasse FART,
  • die Verpflichtung des neuen Arbeitgebers, einen GAV zu verhandeln,
  • und ein transparenter Informationsaustausch, vermittelt durch den Staatsrat.

Es ist dem Staatsrat jedoch nicht möglich, dem Personal definitive Garantien bezüglich des Lohnniveaus in der Phase zuzusichern, die dem GAV vorausgeht. Doch für die Angestellten ist dieser Punkt zentral, da sie eine Garantie für ihre aktuellen Arbeitsbedingungen möchten.

Schliesslich bestätigte die Regierung, dass am 2.August ein Treffen zwischen dem Personal, seinen Vertretern und den beiden Gesellschaften SNL und NLM stattfinden soll, bei dem der Fortschritt in Bezug auf die Erstellung des Konsortiums präsentiert werden wird.


Chronologie des Konflikts

31. Mai 2016: Das eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation unterzeichnet zusammen mit dem italienischen Ministerium für Infrastruktur und Verkehr eine Absichtserklärung. Diese beabsichtigt die Einrichtung einer bilateralen Zusammenarbeit in der Schifffahrt auf dem Langen- und dem Luganersee. Es sollten neue Ansätze geprüft werden, wie zum Beispiel «die Einrichtung privater Dienstleistungen zusätzlich zum Service public».

23. Dezember 2016: Das Bundesamt für Verkehr erneuert die Konzession für die NLM. Darin wird festgehalten, dass die NLM keine feste Anzahl an Schweizer Angestellten mit Wohnsitz in der Schweiz mehr haben muss.

13. Juni 2017: Die NLM kündigt die Entlassung aller 34 Schweizer Mitarbeitenden per Ende 2017 an.

15. Juni 2017: Eine gemeinsame Medienmitteilung der NLM und der SNL präsentiert ein Kooperationsprojekt, das in der Gründung eines Konsortiums per Anfang 2018 besteht. Ziel sei es, das touristische Angebot zu verbessern.

16. Juni 2017: Die Versammlung des NLM-Personals auf dem Schweizer Seebecken fordert von der NLM die Rücknahme der Massenentlassungen bis 23. Juni 2017 sowie Garantien bezüglich der Aufrechterhaltung der Anstellungen und der Arbeitsbedingungen seitens des Kantons und des BAV.

23. Juni 2017: Die Kündigungen wurden nicht zurückgezogen und das BAV sprach keine Garantien aus. Deshalb beschliesst die Belegschaft an einer Personalversammlung, in den Streik zu treten.

25. Juni 2017: Der Streik beginnt.

27. Juni 2017: Alle Angestellten erhalten ihre individuelle Kündigung. Gleichzeitig gibt die NLM die Aufhebung des bestehenden GAV (FART) per Ende Jahr bekannt.

6. Juli 2017: Der Staatsrat empfängt eine Delegation von Angestellten und ihren Vertretern und präsentiert ihnen die Resultate seiner Vermittlungsbemühungen. Da es keine Lohngarantien gibt, beschliesst das Personal die Fortsetzung des Streiks.

Kommentare

  • Beat Jurt

    Beat Jurt 12/07/2017 18:28:43

    Dieser Arbeitskonflikt im Tessin zeigt explizit auf, wie wichtig es ist auf gewerkschaftlicher Basis zusammenzuarbeiten. Zudem zeigt sich, dass der Mut (ich sage dem eine Haltung haben), der Zusammenhalt einer ganzen Region, die gewerkschaftliche Stärke und die Solidarität eigentlich (trotz aller Globalisierung) uns Menschen doch eine der letzten *freien* Möglichkeiten gibt uns zu wehren. Auch wenn jetzt an einer Lösung gearbeitet wird, werden wir uns in Zukunft (ob aktiv oder pensioniert) weiteren perfiden Angriffen auf alle Grundrechte in der Arbeitswelt, wie auch auf viele ehemals *hart* erkämpfte Rechte (Würde) des einzelnen Menschen erwehren müssen. Es herrscht in vielen Managementkreisen eine unglaubliche soziale Kälte vor. Der Mensch wird in solchen abgehobenen Zirkeln nur noch als *lästiger Kostentreiber* angesehen! Darum müssen die Gewerkschaften unbedingt wieder wachsen (Mitglieder betreuen und werben). Ich möchte hier allen Kollegen/innen, wie der Bevölkerung im Tessin danken für diese *starke Haltung*, die wir uns zum Vorbild nehmen sollten!