Engagierte Lokführerin, Gewerkschafterin und Kämpferin für die Rechte der Frauen

«Es ging um meine Rechte»

Andrea-Ursula Leuzinger hat sich im SEV-LPV und in der Frauenkommission während vielen Jahren stark eingebracht und verdient gemacht. Rück- und Ausblick aus Anlass ihrer Pensionierung am 9. April.

kontakt.sev: Wie bist du Lokführerin geworden?

Andrea-Ursula Leuzinger: Als ich vor über 41 Jahren zur SBB kam und in der Hauptwerkstatt Zürich sowie im Depot G als gelernte Elektromechanikerin im Fahrzeugunterhalt arbeitete, lernte ich das Innenleben der Fahrzeuge kennen. Die Lokomotiven haben mein Interesse besonders geweckt. Damals waren die alten Loks aus der Zeit der Elektrifikation noch im Einsatz wie z.B. das Krokodil. Auch die modernen Loks und besonders der Vier-Strom-TEE-Zug. Als gegen Ende der 80er-Jahre immer mehr Frauen wie ich in den technischen Berufen Fuss fassten und auch die SBB die ersten Frauen zu Lokführerinnen ausbildete, war der Drang da, nicht nur Loks zu unterhalten, sondern sie auch selber zu fahren.

Früher waren die Lokführer quasi die Piloten der SBB. Hat sich der Beruf in den letzten Jahren «entwertet»?

Durch die Bauart der alten Loks schaute man zum Lokführer hinauf, und er war der «Mechaniker», der sein Fahrzeug bis ins letzte Detail kannte und beherrschte. Der technische Wandel führte von der rein analogen Bedienung zu einem Rechner, der Befehle entgegennimmt. Damit haben sich auch die Ausbildungsanforderungen verändert. Früher war eine Vorbildung, eine Lehre im «mechanischen» Bereich vorzuweisen. Und wir mussten kleinere Defekte am Zug unterwegs auf der Strecke selber beheben können. Heute bin ich Bedienerin des Fahrzeugrechners, der bei Störungen selbsttätig Systeme abtrennt und mir dies anzeigt. Trotzdem sind gute Kenntnisse darüber, wie das Fahrzeug aufgebaut ist und funktioniert, weiterhin von Vorteil.

U-Bahnen sind schon heute ferngesteuert. Wird dein Beruf bald verschwinden?

Solidarische Lokführerin an der Demo gegen die Streichung der Zugchef/innenS-Bahn 2010 in Oerlikon.

In naher und ferner Zukunft sicher nicht. Geisterzüge auf dem Streckennetz der SBB? Kann ich mir nicht vorstellen. Fremdeinflüsse von aussen, die für den fahrenden Zug eine Gefährdung bedeuten, werden durch den Menschen vorne schneller erkannt. Selbstfahrende Züge gibt es heute in der Schweiz bei der Metro m2 in Lausanne. Dort verläuft das Trassee aber mehrheitlich in Tunnels oder ist durch Zäune total abgeschirmt. Die Bedienung mit technischer, rechnerischer Unterstützung wird sicher weiterentwickelt.

Lokführer war früher ein typischer Männerberuf: Wie wurden die ersten Lokführerinnen von den Berufskollegen aufgenommen?

Schon 1985 hat eine Frau bei den Freiburger Verkehrsbetrieben TPF die Ausbildung zur Lokführerin absolviert und ist von den männlichen Kollegen gut aufgenommen worden. Als 1989 die erste Frau bei der SBB in Biel ihre Ausbildung begann, wurden bei den Männern viele Meinungen laut: Von voller Akzeptanz bis zur totalen Ablehnung war alles zu hören. «Wie will eine Frau eine Lok ankuppeln? Oder einen defekten Bremsschlauch auswechseln?» So wurde insinuiert, dass Frauen für diesen Beruf nichts taugten. Inzwischen haben wir Lokführerinnen zur Genüge das Gegenteil bewiesen.

Kannst du jungen Frauen diesen Beruf empfehlen?

Schichtarbeit hat Vorteile, um Beruf und Familie nach eigenen Bedürfnissen besser zu gestalten. Nachteile sind neben der gesundheitlichen Belastung die Abstriche, die man beim Kontakt mit dem eigenen sozialen Umfeld machen muss. Teilzeit wird momentan wegen dem Lokpersonalmangel nicht gerne bewilligt. Bis die ersten Frauen beim Lokpersonal angestellt wurden, war Teilzeit beim Lokpersonal ein Fremdwort. Auch für Weiterbildungen und Karriere bietet die Tätigkeit als Lokführerin gute Voraussetzungen.

Wie haben sich der Beruf und sein Umfeld bei der SBB sonst entwickelt?

Allgemein hat sich die Arbeitswelt durch den Computer stark verändert. Nicht nur die technische, digitale Entwicklung der Eisenbahnfahrzeuge, sondern auch die SBB-Unternehmensreform 1999 hat das Berufsbild des Lokpersonals stark verändert. Im Personenverkehr waren die Züge mehrheitlich lokbespannt, heute verkehren fast ausschliesslich Pendel- und Triebzüge. So sind Rangieraufgaben beim Strecken-Lokpersonal selten geworden, ebenso im Güterverkehr durch die Verminderung der Güterverladezentren. Die Aufteilung des Lokpersonals auf Güter- und Personenverkehr hat die «Vielfältigkeit» im Dienst geschmälert, was sich in der sinkenden Zufriedenheit beim Lokpersonal widerspiegelt. Früher waren die Lokführer/innen vielfältig einsetzbar, heute werden sie nur noch als Spezialist/innen für gewisse Strecken und Fahrzeuge ausgebildet. Dies erschwert die Einsatzplanung und führt bei Störungen im Bahnverkehr manchmal dazu, dass ein Zug stehen bleibt, weil kein kundiges Lokpersonal vor Ort ist.

Warum bist du im SEV aktiv geworden?

Für ein angenehmes Arbeitsklima braucht es einen gesunden Dialog zwischen den Sozialpartnern. Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen und bei den Gesetzen und Verfügungen dazu zu erwirken und umzusetzen, ist Aufgabe der Gewerkschaft. Hier aktiv mitzuwirken hat mein Interesse geweckt. Nach dem legendären Frauenstreik 1991 haben mich die Themen der Frauen erst recht interessiert. Es ging auch um meine Rechte und darum, diese endlich durchzusetzen. Zudem ist es beruhigend, auf professionelle Unterstützung bei persönlichen Arbeitskonflikten zählen zu können.

Hast du am 14. Juni 1991 die SBB effektiv bestreikt?

Streik im Sinn von unentschuldigt die Arbeit verweigern: nein. Ich habe freigemacht.

Was sprach und spricht für den SEV statt für den VSLF?

Vor allem die sozialen Themen und die Gleichstellung, aber auch, mit Kolleginnen und Kollegen anderer Bereiche des öV in derselben Gewerkschaft zu sein. Der SEV ist politisch vernetzt und kann selbst und via SGB etwas bewirken. Der VSLF hat erst in den letzten Jahren Themen der Gleichstellung aufgenommen, was die Frauenkommission SEV seit ihrem Bestehen tut. Schon bei den Verhandlungen zum SBB-GAV 2001 hat der SEV zu Gleichstellung und Mutterschaft gute Ergebnisse erwirkt. Heute bietet der LPV-SEV bei Schwangerschaft und Mutterschaft einen finanziellen Ausgleich aus dem Solidaritätsfond 2 infolge Ausbleibens von Zulagen.

Früher waren die Frauen beim Verkehrspersonal noch stärker in der Minderheit als heute: Hast du den SEV noch als Männerbastion erlebt, zum Beispiel als Frauenvertreterin in seinen Gremien?

Letztes Jahr haben wir 30 Jahre Frauenkommission gefeiert. Bereits 1959 haben weibliche Mitglieder eine Vereinigung gegründet, mehr zum persönlichen Austausch, als um politisch aktiv zu sein. Mit Hélène Weber wurde 1991 die erste Frau als Gewerkschaftssekretärin angestellt. So haben innerhalb des SEV die Frauen auch in Verhandlungsgremien den Einzug geschafft. Dies gab einen Wandel im SEV nicht nur bei Themen der Gleichstellung der Geschlechter wie Lohngleichheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Seit wann bist du in der Frauenkommission? Und wie hat sich diese entwickelt?

Aktiv bin ich seit 2002 dabei. Die Frauenkommission hat mehrmals ihre Strukturen angepasst, auch um eine gute Zusammensetzung aus allen Unterverbänden zu erwirken.

Spielt die Solidarität zwischen den jüngeren und den älteren Frauen und zwischen den Frauen im Allgemeinen?

Über meine ganze berufliche Zeit habe ich immer eine gesunde Zusammengehörigkeit unter den Frauen gespürt. Generationenkonflikte? Nein! Es freut mich, wie jüngere Kolleginnen sich in letzter Zeit für eine Mitarbeit in der Frauenkommission entscheiden. Eine gute Altersdurchmischung tut gut. Ich darf so auch meine beruflichen Erfahrungen an Jüngere weitervermitteln.

Was sind aktuell die Schwerpunkte der SEV-Frauen?

Politisch aktuell ist die Abstimmung zu AHVplus im September. Diese Initiative bringt Verbesserungen zu unserer ersten Säule der Altersvorsorge. Zurzeit laufen die Vorbereitungen zum alljährlichen Frauenbildungstag im November zum Thema «Geschlechterrollen im Wandel». Gesundheit aus Frauensicht für Frauen: Hier gibt es in der Arbeitswelt noch viel zu tun, auch im Zusammenhang mit deren Digitalisierung. Das Homeworking nimmt zu, was die Frauenkommission speziell verfolgt, weil sich Frauen eher dazu entscheiden.

Wie hat sich der SEV sonst entwickelt, seit du dabei bist?

Der reine «Eisenbahnerverband» hat sich zur «Gewerkschaft des Verkehrspersonals» gewandelt. Die Strukturen des SEV mussten infolge der SBB-Unternehmensreform 1999 und des «freien Schienenzugangs» angepasst werden. So kamen einige Themenbereiche neu dazu oder gewannen mehr Gewicht wie weitere Bahnunternehmen, Branche Bus, Seilbahnen, Bahndienstleistungen, Flugplatz-Bodenpersonal usw.

Wie wünschst du dir die Zukunft des SEV?

Was ist morgen? Hellseherin bin ich nicht. In den letzten Jahren hat der SEV immer den «Rank» gefunden, um bei neuen, negativen Gegebenheiten Gegendruck zu erzeugen bis ins Bundeshaus. Kurz: Weiter so!

Auf was freust du dich nach der Pensionierung?

Keine unregelmässigen Dienstschichten mehr, regelmässig essen, schlafen und nicht mehr nach Fahrplan auf Toiletten gehen zu müssen. In einem gewissen Sinn Lebensqualität geniessen zu dürfen. Meine weiteren Interessen bekommen wieder mehr Platz, ob in der Natur oder im Stellwerkmuseum in Linthal. Auch mein Haus braucht Pflege und Unterhalt.

Bleibst du im SEV und in der Frauenkommission aktiv?

Als LPV-Vertreterin in der Frauenkommission muss ich mein Amt abgeben, da ich in den Pensioniertenverband wechseln werde. Wenn ich als Vertreterin des PV weiter in der Frauenkommission sein darf, freut mich dies. So kann ich mein Wissen und meine Erfahrungen an jüngere Kolleginnen weitergeben und bleibe aktiv.

Fragen: Markus Fischer

BIO

Andrea-Ursula Leuzinger, geboren am 6. April 1953 und aufgewachsen im Glarnerland und in Zürich, absolviert am Samstag ihre letzte Fahrt als Lokführerin des Personenverkehrs SBB nach Linthal/GL, um dort aus dem Berufsleben «auszusteigen». Nach der Lehre als Elektromechanikerin bei der damaligen BBC in Baden war sie Aushilfsbriefträgerin in Zürich-Albisrieden und trat am 1. Dezember 1974 in die SBB ein. Im SEV war sie in den 1990er-Jahren im LPV Zürich als Protokollführerin aktiv, ab 2002 als Frauenvertreterin im Zentralvorstand LPV und in der Frauenkommission SEV. Seit 2013 wohnt sie wieder im Glarnerland in Mitlödi. Ihr allgemeines technisches Interesse beinhaltet auch alte SBB-Stellwerke. Ein weiteres Hobby ist die Fotografie, wobei sie neben Technischem auch gerne auf Wanderungen die Natur in den Sucher nimmt.