Der Schrifsteller Pedro Lenz wehrt sich gegen Entmenschlichung und Geisterbahnhöfe
«Die Bahn hält die Schweiz zusammen»
Pedro Lenz ist kein Nostalgiker, aber in der heutigen Zeit gibt es für ihn zuwenig soziale Kontakte. Gerade auch bei der Bahn gibt es zuwenig Menschen und zuviel Automaten, Gedränge statt Zusammensein.
kontakt.sev: Pedro Lenz, Sie touren gegenwärtig zusammen mit Ihrem Bühnenpartner Christian Brantschen auf der «Fanny-Tour» durch die ganze Deutschschweiz und reisen für Lesungen aus Ihrem neuen Roman sogar ins nahe Ausland. Fahren Sie da mit dem Auto oder nehmen Sie den Zug?
Wann immer möglich fahre ich mit dem öV; aus mehreren Gründen: ich muss oft um vier oder fünf Uhr nachmittags los, da sind die Autobahnen verstopft. Und wenn ich dann einen Abend lang konzentriert gelesen habe, bin ich froh, wenn beim Heimfahren ein anderer für mich denkt. Ich fahre auch nicht so gern selber. Nur wenn ich viel Material mitschleppen muss oder nach der Lesung sonst kaum noch wegkomme, nehme ich das Auto.
Dann müssten Sie ja mit dem, was Ihnen die Bahn bietet, eigentlich zufrieden sein. Trotzdem gelten Sie eher als SBB-Kritiker. In einer Kolumne haben Sie kürzlich deutliche Worte gewählt [siehe Box «Zitat»]. Ist es wirklich so schlimm mit der Entmenschlichung?
Man muss differenzieren. Es gibt zunehmend Probleme, dass eine Lok auf der Strecke steckenbleibt. Da frage ich, ob das daher kommt, dass es zuwenig Leute gibt, die die Loks warten. Ich sehe, dass die Leute ungeduldig werden, sie beginnen die Angestellten zu beschimpfen. Der Kondukteur muss funken, informiert: «Wir werden abgeschleppt», die Passagiere werden wütend – auf die Bähnler, die da sind! Dabei müssten sie vielleicht auf die «eine Etage weiter oben» wütend werden. Ich bewundere die Bähnler, die vor Ort sind, die geben alles! Meistens zweisprachig, informieren sie und holen die Leute herunter. Das andere: Ich persönlich habe keine Angst im Zug, auch nachts nicht. Aber es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn ein Zug ohne jemanden von der SBB fährt. Für mich ist die Bahnpolizei kein Ersatz; ich fühle mich sicherer, wenn ein «normaler» Kondukteur da ist, als wenn plötzlich zwei Bahnpolizisten auftauchen und bei der nächsten Station wieder verschwinden – die geben mir kein Sicherheitsgefühl.
Sie sagten einmal auch, Sie hätten Mühe damit, dass die Leute nicht mehr miteinander sprechen. Tun Sie selber etwas für die Kommunikation beim Reisen?
Wenn ich im öffentlichen Raum unterwegs bin, verschliesse ich mir sicher nicht die Ohren mit einem Gerät. Offene Ohren sind die erste Bedingung, um kommunizieren zu können. Manchmal rege ich mich darüber auf, dass Leute in einem sich füllenden Zug mit ihrer Ware drei Plätze «drapieren» und sich noch so verhalten, dass man sie nicht anspricht: die rede ich an! «Entschuldigung, darf ich mich hier setzen?» Das ist ein unsolidarisches Verhalten in einem vollen Zug. So bin ich aber auch schon ins Gespräch gekommen. Ich frage etwa: «Wohnen Sie hier?» Vielleicht werden zuerst hässig, aber dann beginnt ein Gespräch über öffentlichen und privaten Raum. Ich habe gern öffentlichen Raum, aber da muss man Rücksicht aufeinander nehmen. Ich bin kein Polizist und auch kein alter Griesgram, aber manchmal sage ich etwa einem Jungen: «Du hast dort noch deine Büchse Bier vergessen!» – «Was, die ist leer», sagen sie dann vielleicht. «Aha, sie ist leer? Du hast sie trotzdem dort vergessen …» Oder auch ganz normale Gespräche, ich werde auch oft angesprochen von Leuten, die mich kennen. Wir müssen wieder lernen, miteinander zu sprechen auf der Strasse. Es kommt noch etwas dazu: Wenn ich in einem Bahnhof warte, dann sehe ich überall das Gleiche: abends, etwa ab sechs Uhr, ist niemand mehr da: kein Schalter mehr offen, kein Bahnhofvorstand, es hat nur noch Selecta-Automaten, Billett-Automaten – und wahrscheinlich Kameras. Das sind Geisterorte! Und dann haben sie ein Vandalismus-Problem: ja natürlich, wenn niemand da ist! Diesem Geister-Groove probiere ich manchmal entgegenzutreten, ich beginne mit den Leuten zu sprechen. Ich frage etwa: «Wissen Sie das, der Zug nach Bern, hält der in Gümligen?», irgend sowas, oder jemand fragt mich etwas, ich gebe Antwort und frage: «So, sind Sie auch noch unterwegs», so beginnt ein Gespräch und aus einem Geisterort wird wieder ein Menschenort. Wenn ich als Knabe am Bahnhof rumhing, ist der Bahnhofvorstand gekommen und hat gesagt: «Giele, haltet Ordnung, nehmt die Schuhe von der Bank» und so weiter. Das ist keine Polizei, sondern eine soziale Kontrolle. Ich habe oft das Gefühl, dass die SBB Bähnler eingespart hat und dafür jetzt Polizisten anstellen muss.
Diese Anonymität ist schrecklich! Wir müssen im Zusammenleben auch neue Formen lernen. Früher war das nicht nötig, aber wenn jetzt ein Zug einfährt, der schon voll ist, und die eine Hälfte will aussteigen und die draussen wollen rein. Da müssen doch nicht die, die reinwollen, wie ein Stier auf die Tür zu – sie sollen zuerst die drin aussteigen lassen.
Haben Sie das Gefühl, dieses Verhalten habe sich verschlimmert?
Wir haben es einfach nicht gelernt. Ich war in Schottland. Alle wissen dort: Man macht eine saubere Reihe, und wer zuletzt kommt, stellt sich hinten an. Meistens hat es ja genug Platz für alle. Oder man bietet einer alten Frau einen Platz an. Wenn ich von Olten nach Langenthal fahre, kann ich auch mal zehn Minuten stehen, das macht mir doch nichts aus!
Bleiben wir bei der Bahn und beim Stichwort Olten: Was bedeutet es für Sie, direkt neben dem Bahnhof Olten zu wohnen?
Es sind zwei Dinge: Erstens gibt es mir das Gefühl, mit der Welt verbunden zu sein. Ich höre in meiner Küche die Durchsagen von Gleis 12 auf deutsch und italienisch. Da sagt die Frauenstimme aus dem Lautsprecher «binario dodici», da weiss ich, jetzt fährt der treno nach Chiasso oder Milano Centrale. Und dann fährt wieder einer nach Hamburg … Ich schaue aber auch gern den Zügen zu, auf denen Lastwagen verladen sind – für mich ist das Poesie! Und noch etwas ganz anderes: Auf einem grösseren Bahnhof hat es auch noch geöffnete Kioske. Da kann ich am Sonntag eine Zeitung kaufen gehen. Viele der Bähnler da kenne ich auch. Ich schwatze ein paar Sätze mit ihnen: «Wo fährst du noch hin?» – «Ich gehe noch an den Bodensee.» Ich merke natürlich auch, dass sie keine Zeit mehr haben, früher war das noch anders. Aber es zeigt einfach: Hier lebt noch etwas. Und wenn ich am Abend spät von einer Lesung heimkomme, muss ich nicht noch ein Taxi nehmen: ich komme heim und bin schon daheim, das ist grossartig. Ich gehe zur Tür raus, wenn der Zug ausgerufen wird im Lautsprecher, zwei Minuten, das reicht mir; ich muss nicht einmal auf die Uhr schauen.
Sie kennen also die Bähnler, und Sie haben selbst nach einer Maurer-Lehre auf dem zweiten Bildungsweg die Matura gemacht und einige Semester studiert. Fühlen Sie sich, als Künstler, eher als Arbeiter oder als Intellektueller?
Ich möchte eben diese zwei Welten verbinden. In unserem Land hat man diese Möglichkeiten, ein Arbeiter kann ein Buch lesen, ein Intellektueller kann mal eine Schaufel in die Hände nehmen. Einzelne der Kondukteure, die ich kenne, waren früher auch Maurer, wir kennen uns von da, einer hat gesagt: «Ich lasse mich umschulen auf Kondukteur!» Ein Italiener, der sich einbürgern liess, sagte mir: «Ich gehe zur SBB, da kann ich meine Sprachkenntnisse brauchen.» Ich habe als Student im Güterbahnhof Bern gearbeitet, Güterwagen von Cargo Domizil ein- und ausgeladen. Ich habe keine Berührungsängste mit den Büezern, bei den Intellektuellen bin ich mir manchmal nicht so sicher … Wenn ich die SBB höre, «Railfit», «Rail City», frage ich mich, ob das noch meine Sprache, meine Welt sei. Wer kommt denn auf solche Ideen – wahrscheinlich kein Bähnler, kein Bähnlerherz.
Eine Stelle bei der SBB ist etwas Besonderes. Die SBB ist nicht irgend ein Unternehmen. Sie ist es, die die Schweiz zusammenhält. Wenn ich in Genf ankomme, weiss ich, wie die Bahn funktioniert, es ist eine Schweizer Institution, vielleicht wie die Armee – deren Fan ich allerdings nicht unbedingt bin. Das ist nicht «swissness» und so Stammtischgerede, sondern gelebter Zusammenhalt. Deshalb hat die Bahn eine grosse Bedeutung.
Ich muss Ihnen unbedingt noch etwas Weiteres dazu sagen: Ich war in Schottland, da sind die Bahnen privatisiert, das ist schrecklich. Niemand kennt sich mehr aus, keiner kann mehr eine Antwort geben, die Preise sind je nach Zeit und Umständen unterschiedlich.
Ich kann mich noch mit dem Handy informieren, aber wie machen das ältere Leute, die selten fahren? Sie müssen an eine Beerdigung, vielleicht können sie nicht mehr Auto fahren. Sie bräuchten einen Schalter, wo man ihnen Auskunft gibt: «Nehmen Sie diesen Zug nach Zürich, ich schreibe es Ihnen auf, dann durch die Unterführung, das reicht zum Umsteigen …» Ich habe eine grosse Hochachtung vor den Kondukteuren, die es noch gibt auf den Zügen, sie machen wirklich einen guten Job.
Die Fragen stellte Peter Anliker
DAS ZITAT
In einer Kolumne in der «Nordwestschweiz» vom 26. September sprach Pedro Lenz davon, dass man die «Message der SBB» nur so deuten könne: «‹Du wirst nicht bedient, dafür wirst du gefilmt. Du wirst nicht mehr betreut, dafür wirst du kontrolliert. Du bist nicht mehr Kunde, sondern User.› Jetzt erreicht uns die Nachricht, dass die SBB 1400 Stelllen streicht. Die verbleibenden SBB-Angestellten müssen noch mehr leisten. Rentabilität kommt vor Service. Die Entmenschlichung geht weiter. Das Programm heisst ‹Rail-Fit›».
BIO
Pedro Lenz ist 51-jährig, der in Langenthal Geborene lebt heute in der Eisenbahner-Stadt Olten. Seit 2001 arbeitet Lenz vollzeitlich als Schriftsteller, wobei er oft in Mundart schreibt. Verschiedentlich hat er bei Bühnenprojekten mitgemacht und fürs Radio Texte verfasst. Besonders erfolgreich war der Roman «Der Goalie bin ig» (2010), der heute bereits in 7. Auflage vorliegt, in sechs Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Von Lenz gibt es neben den gedruckten Werken auch CDs und Hörbücher, gegenwärtig tourt er mit dem neuen Roman «Fanny» durch die Lande (die meisten Auftritte sind allerdings schon ausgebucht). Von den vielen Preisen, die Lenz schon erhalten hat, erwähnen wir nur den Literaturpreis der Schweizerischen Arbeiterbildungszentrale 1994 und den Kulturpreis des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB 2010.
Kommentare
Klaus Burri 12/12/2016 18:02:18
Die Sparpläne der SBB-Leitung sind eine Schweinerei. Der Service publique des ÖV muss unbedingt erhalten werden, gegen alle Gewinnpläne von Meier und Bundesrat.