Unterschiede bei der Umsetzung von Volksinitiativen
Mehr oder weniger Eifer je nach Inhalt und Absender?
Nach dem Ja zur Initiative «Gegen Masseneinwanderung» hat der Bundesrat sofort mit deren Umsetzung begonnen. Die Alpen-Initiative dagegen ist heute, 20 Jahre nach der Annahme durch das Volk, noch immer nicht umgesetzt. Für solche Unterschiede bei der Umsetzung von Volksinitiativen zeigt Verfassungsrechtsspezialist Etienne Grisel, Honorarprofessor der Universität Lausanne, im Interview Verständnis.
kontakt.sev: Eine Woche nach dem Ja vom 9. Februar zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» hat die Schweiz erklärt, dass sie das Personenfreizügigkeitsabkommen mit Kroatien nicht unterzeichnen wird. Überrascht Sie dieses Tempo bei der Umsetzung dieser Initiative? Kennen Sie weitere ähnliche Beispiele?
Die Geschwindigkeit, mit der der Bundesrat auf die Abstimmung vom 9. Februar reagiert hat, indem er – zumindest provisorisch – darauf verzichtet hat, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit Kroatien zu unterzeichnen, überrascht nicht. Die angenommene Initiative schreibt eine autonome Steuerung der Einwanderung mittels jährlicher Höchstzahlen und Kontingente vor, und sie verbietet den Abschluss internationaler Abkommen, die diese Regeln nicht einhalten. Die Unterzeichnung des Abkommens zu Kroatien könnte als flagranter Verstoss des neuen Verfassungsartikels 121 a aufgefasst werden. Diesem Vorwurf wollte sich der Bundesrat nicht aussetzen. Der Zufall wollte es, dass sich die Frage zu Kroatien gerade jetzt stellt. In anderen Fällen erschien keine Beeilung nötig. Ebenfalls rasch reagiert hat der Bundesrat aber beispielsweise nach dem Ja zur Zweitwohnungsinitiative am 11. März 2012.
Diesen Initiativtext hat der Bundesrat mit Ausnahmen verwässert, was die Initiant/ innen empörte … Und die Alpen-Initiative ist heute noch immer nicht umgesetzt, obwohl das Schweizervolk sie schon vor 20 Jahren annahm. Wird in unserer Demokratie mit ungleichen Ellen gemessen?
Es wäre übertrieben, zu behaupten, dass die Alpen-Initiative «noch immer nicht umgesetzt » sei. Die Frage, ob eine Initiative umgesetzt wurde, ist oft nicht einfach zu beantworten. Es muss je nach Gegenstand und Tragweite der Volksanliegen differenziert werden. Gewisse Initiativen sind direkt anwendbar und können unmittelbar umgesetzt werden; ein Beispiel dafür ist wohl das Minarett- Verbot. Andere hingegen machen ein Ausführungsgesetz, konkrete Massnahmen und Ausgaben nötig. Die Alpen- Initiative zum Beispiel umfasst zwei Hauptforderungen. Erstens verbietet sie, die Kapazität der Transitstrassen im Alpengebiet zu erhöhen. Dieser Teil der Initiative wurde mit dem Bundesgesetz vom 17. Juni 1994 über den Strassentransitverkehr im Alpengebiet sofort umgesetzt. Dieses Verbot ist insgesamt betrachtet gut eingehalten worden …
Der Bundesrat will nun aber eine zweite Strassenröhre durch den Gotthard bauen. Missachtet er damit nicht den Volkswillen?
Der Bau einer zweiten Röhre für den Gotthard-Strassentunnel verletzt die Bundesverfassung nicht, sofern die Transitkapazität nicht erhöht wird. Zudem muss die Schweiz internationale Verpflichtungen im Bereich des internationalen Verkehrs einhalten.
Falls der Bundesrat sein Versprechen, die Transitstrassenkapazität nicht zu erhöhen, tatsächlich einhält und die Leistungsfähigkeit der zwei Röhren nicht gänzlich ausschöpft, droht nach Meinung gewisser Experten aber ein Konflikt mit der EU, der letztlich alle bilateralen Verträge gefährden könnte …
Unter dem gleichen Blickwinkel betrachtet muss man anerkennen, dass die Schweiz weder die Verpflichtungen, die sie gegenüber der EU eingegangen ist, noch die Pflichten, die ihr das allgemeine internationale Recht auferlegt, missachten darf. Das ist so auch in der Fachliteratur nachzulesen.
Wenn ich Sie richtig verstehen, würde eine zweite Röhre, die nur zu 50 % genutzt würde, das bilaterale Landverkehrsabkommen mit der EU tatsächlich verletzen?
Eine vertiefte Studie ist nötig, um diese Frage optimal zu klären.
Eine weitere Forderung der Alpen-Initiative ist nicht umgesetzt worden, nämlich jene nach der Verlagerung des alpenquerenden Gütertransitverkehrs von Grenze zu Grenze auf die Schiene innert zehn Jahren nach Annahme der Initiative …
Die Umsetzung dieser zweiten Forderung stösst auf immense Schwierigkeiten, insbesondere finanzieller und technischer Art, aber auch in juristischer Hinsicht, da das internationale Recht den freien Transit und die freie Wahl des Transportmittels garantiert.
Gibt es weitere Beispiele von Initiativtexten, die bereits vor einiger Zeit angenommen wurden, aber noch nicht umgesetzt sind?
Es gibt weitere Beispiele von Initiativtexten, die vom Volk angenommen wurden und die nicht oder nicht vollständig umgesetzt wurden, oder jedenfalls nicht sofort. So fand das Prinzip einer Mutterschaftsversicherung 1945 Eingang in die Verfassung, doch dauerte es über ein halbes Jahrhundert, bis diese Sozialversicherung eingeführt wurde. Oder zu der 2010 angenommenen Initiative für die Rückschaffung krimineller Ausländer gibt es bisher kein Ausführungsgesetz, und das Bundesgericht hat sich geweigert, sie als direkt anwendbar zu interpretieren, indem es eine Rückschaffung verhinderte, die von der Initiative offensichtlich verlangt worden wäre.
Gewisse Initiativen scheinen nur schwer umsetzbar zu sein, wie eben die Rückschaffungs- oder die Alpen- Initiative. Zugleich werden immer mehr Volksinitiativen eingereicht. Was halten Sie davon, die Gültigkeit von Initiativen strenger zu prüfen, bevor die Unterschriftensammlung lanciert wird?
Bei gewissen Initiativen stellen sich bei der Umsetzung ernsthafte Probleme. Wie ernst diese sind und wie weit sie reichen, hängt natürlich vom Gegenstand des Volksbegehrens ab, das vom Stimmvolk angenommen wurde. In gewissen Fällen muss eine komplexe Ausführungsgesetzgebung erarbeitet werden wie beispielsweise für die Initiative «gegen die Abzockerei». In anderen Fällen ist die strikte Umsetzung einer Initiative aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heikel. Trotzdem werden immer mehr Initiativen ergriffen: Zwischen 1891 und 2000 waren es 130 und seither 60. Zugleich ist der Anteil der angenommenen Initiativen gestiegen: Bis 2000 waren es 10 %, seither 15 %. Eine strengere Prüfung der Gültigkeit der Initiativen widerspräche unserem Verständnis der direkten Demokratie, die eben gerade die Freiheit garantiert, Vorschläge zu machen und sie dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Diese Freiheit würde allzu stark eingeschränkt, wenn die Gültigkeit vor der Unterschriftensammlung geprüft würde. Die Gültigkeitsprüfung findet daher seit jeher erst nach der Einreichung der Initiativen statt und hält sich an das Prinzip «in dubio pro populo», im Zweifel für das Volk. Das Initiativrecht wird nur durch wenige formelle Regeln (Einheit der Materie und der Form) und eine kleine Zahl zwingender internationaler Normen (zum Beispiel Verbot des Genozids und der Folter) eingeschränkt. Daher werden nur ganz wenige Initiativen für ungültig erklärt. Eine strengere Praxis wäre nicht wünschbar.
Warum?
Es wäre nicht zweckmässig, das Initiativrecht stärker zu reglementieren als heute. Übrigens sind bisher alle Versuche in diese Richtung gescheitert. Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes hängen offensichtlich sehr an der Volksinitiative, diese ist ein wesentlicher Pfeiler unseres politischen Systems. Die Beschränkung der Initiative auf die Verfassungsebene stellt bereits eine wesentliche Einschränkung dar, da zu einem Initiativtext stets noch ein Ausführungsgesetz formuliert werden muss. Dies stellt einen Kompromiss dar. In den Kantonen geht das Initiativrecht viel weiter.
Die Staatspolitische Kommission des Ständerats hat soeben darauf verzichtet, die Ecopop-Initiative «Stopp der Übervölkerung» für ungültig zu erklären, und wollte ihr keinen Gegenvorschlag gegenüberstellen. Wie denken Sie darüber?
Es gab Zweifel an der Gültigkeit der Ecopop-Initiative, weil sie möglicherweise das Prinzip der Einheit der Materie verletzen könnte. Doch in Anbetracht der üblichen Praxis unserer Behörden ist diese Initiative zweifellos gültig. Was die Ausarbeitung eines Gegenvorschlags betrifft, sind die Eidgenössischen Räte völlig frei, dies zu tun oder zu lassen. Dies ist eine rein politische Frage.
Welches Gremium müsste Ihrer Meinung nach eine Ungültigerklärung vornehmen, und nach welchen Kriterien?
Falls für die Gültigkeit der Initiativen zusätzliche und strengere Bedingungen eingeführt würden, wäre es angebracht, für die Prüfung der Gültigkeit der Initiativtexte ein spezielles Gremium zu schaffen. Die Bundesversammlung wäre dafür nicht die geeignet, weil sie sich aus Politiker/innen zusammensetzt, von denen man annehmen muss, dass für sie politische Überlegungen im Vordergrund stehen. Insbesondere ist zu bedenken, dass die Beurteilung, ob eine Initiative mit dieser oder jener Bestimmung des internationalen Rechts vereinbar ist, eine schwierige Aufgabe ist, die nur spezialisierte Richter seriös und objektiv wahrnehmen könnten. Es bräuchte zudem ein rechtliches Verfahren, das die Rechte der einen wie der andern garantieren würde.
Vivian Bologna / Fi
Bio
Etienne Grisel (69) wurde in Neuenburg geboren. Er promovierte 1968 an der Universität Lausanne als Doktor der Rechtswissenschaft, erlangte 1969 in Harvard sein Diplom als Master of Laws und 1971 sein Waadtländer Anwaltspatent.
Seit 2009 ist Etienne Grisel Honorarprofessor der Universität Lausanne, wo er von 1978 bis 2009 als Ordinarius öffentliches Recht lehrte. 1973 war er auch Mitgründer des Centre de droit public, dem er danach bis 2009 als Kodirektor vorstand.
Der Bund (Bundesrat, Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, parlamentarische Kommissionen) und die Kantone zogen und ziehen ihn immer wieder als Experten bei, sei es für Verfassungsrevisionen oder für die Ausarbeitung von Gesetzen.