Es gibt Faktoren im Berufsleben, die dort, wo sie fehlen, öfter mal – unnötigerweise – zu bösem Blut, Konflikten und Rechtshändeln führen können.
Wie geht Wertschätzung?
Deshalb für einmal kein Rechtsfall aus der Praxis, sondern ein paar Gedanken über einen dieser Faktoren.
Obwohl der Begriff Wertschätzung wohl in jedem Führungsleitbild aufgeführt wird, klagen viele Menschen immer wieder darüber, dass sie im Beruf zu wenig Wertschätzung erfahren. Worum gehts hier eigentlich? Warum wird fehlende Wertschätzung so sehr empfunden? Wertschätzung und Lob sind nicht dasselbe. Ein Lob ist natürlich wertschätzend, aber bezieht sich in aller Regel auf eine konkrete Leistung. Wertschätzung dagegen ist mehr ein Grundgefühl: Ich weiss, dass die Firma weiss, was sie an mir hat. Wertschätzung kann also mit einem Lob ausgedrückt werden, geht aber weiter als ein Kompliment.
Wertschätzung heisst Wahrnehmung
Wenn der CEO am jährlichen Weihnachtsessen eine Rede hält und sich bei seinen Mitarbeitenden für die tolle Leistung bedankt, so will er sicher Wertschätzung herüberbringen. Trotzdem ist es eher zufällig, ob diese ankommt oder nicht. Denn die meisten – ausser es handle sich um eine sehr kleine Unternehmung – spüren, dass der CEO kaum weiss, was der/die Einzelne im Betrieb das Jahr über geleistet hat. Das ausgesprochene Lob gilt dem Kollektiv, und hat dieses nicht einen sehr guten Zusammenhalt, so fühlt sich die Einzelperson dabei nicht speziell angesprochen, und auch ein echter Dank wird als «Sonntagspredigt» empfunden. Wertschätzung bedingt also, dass die Person, die sie gibt, die Person, die sie empfängt, ganz konkret wahrnimmt. Das können direkte Vorgesetzte in aller Regel viel besser als ein viele Hierarchiestufen weiter oben stehender CEO, und zwar ganz unabhängig davon, ob dieser von Herzen dankbar ist für die geleistet Arbeit oder nur eine Pflichtübung absolviert. Eine Ausnahme gibt es lustigerweise: wenn der CEO Dritten gegenüber seine Angestellten lobt. Bekommen sie dies mit, so ist die Chance sehr hoch, dass sie sich wertgeschätzt fühlen.
Wertschätzung bezieht sich auf die Person
Wenn Wertschätzung mit Wahrnehmung zu tun hat, so heisst das, dass eben das Gegenüber als Person und nicht nur als Funktion wahrgenommen wird. Und hier ist auch der erste Stolperstein. Es ist völlig normal, dass man mit den einen besser zurecht kommt als mit den anderen. Es gibt Sympathien und Antipathien im Berufsalltag. Kann sein, dass ein Vorgesetzter einen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin zwar wegen seiner oder ihrer guten Arbeit schätzt, aber persönlich trotzdem nicht besonders mag. Hier hat der/die Vorgesetzte eine schwierige Aufgabe zu leisten: er/sie muss zwischen privater und beruflicher Wahrnehmung unterscheiden können und die Gefühle (ja, doch, die hat er/sie eben auch!) dazu analysieren. Und nur bei einer Grundhaltung, die einen respektvollen Umgang mit jedem Gegenüber erlaubt, gelingt es, auch Personen, die einem eher fern stehen, Wertschätzung entgegenzubringen.
Auch hier gibt es eine interessante Komponente: Wenn dies gelingt, so bringen Mitarbeitende, die in der Regel genau merken, dass sie mit dem/der Vorgesetzten nicht besonders gut funktionieren, diesem/dieser ebenfalls und vielleicht sogar mehr Wertschätzung entgegen, als wenn sie gute Kumpels wären.
Wertschätzung gibt es nur auf gleicher Augenhöhe
Gleiche Augenhöhe in einer Hierarchie? Das ist doch ein Widerspruch! Bei einem Punkt nicht, und der ist für die Wertschätzung entscheidend: beim Umgangston untereinander. Dieser hat nämlich nichts mit der funktionsbezogenen Hierarchie zu tun und nichts damit, dass Vorgesetzte die Arbeitsinhalte bestimmen und ein Weisungsrecht haben. Zum Umgangston gibt es eine ganz einfache Regel für Vorgesetzte, die – würde sie beachtet – viele Konflikte in Luft auflösen würde. Diese Regel lautet folgendermassen:
Vorgesetzte sprechen mit ihren Unterstellten im selben Ton, in dem die Unterstellten auch mit ihren Vorgesetzten reden dürfen.
Ein Beispiel dazu: Wenn der CEO durch die Werkstatt «tigert», dort einen Mitarbeiter antrifft, ihm kumpelhaft den Arm um die Schulter legt und zu ihm sagt «Na, Ali, wie gehts denn so? Alles gut zu Hause?», dann ist dies in aller Regel zwar gut gemeint, aber keine Wertschätzung, sondern wird als Übergriff oder eine billig inszenierte Selbstdarstellung empfunden. Denn Ali weiss genau, dass er das mit dem CEO umgekehrt niemals machen darf. Wenn der CEO Ali wertschätzend begegnen will, tut er also gut daran, Ali die Hand zu geben und zu sagen «Guten Morgen Herr Oeztürk, wie geht es Ihnen?» Hat er dann noch Zeit, zuzuhören, wie es Herrn Oeztürk geht, so stehen die Chancen gut, dass diese zwei Minuten als Wertschätzung in Erinnerung bleiben.
Das heisst: Vorgesetzte sollten Unterstellte gleich ansprechen, wie auch sie von diesen angesprochen werden möchten. Wer gern austeilt, muss selber auch einstecken können. Wer kumpelhaft ist, darf es den Mitarbeitenden nicht übel nehmen, wenn sie kumpelhaft antworten. Und wenn Mitarbeitende eine andere Tonlage wählen, weil sie beispielsweise selber keine «Austeiler» sind, so haben Vorgesetzte dies zu respektieren und sich zurückzunehmen. Das funktioniert in allen hierarchischen Verhältnissen und über alle Hierarchieebenen. Und zwar unabhängig davon, ob man mit dem/der Vorgesetzten bestens befreundet oder auf höflicher Distanz ist.
Wie gesagt: Es geht hier nicht um Arbeitsinhalte oder Weisungen, denn diese bestimmt der/die Vorgesetzte. Aber wenn es zu Diskussionen oder Konflikten über Arbeitsinhalte oder Weisungen kommt, dann sollte die dargelegte Regel beachtet werden. Denn sie kann entscheidend dafür sein, dass die Wertschätzung erhalten bleibt.
Rechtsschutzteam SEV