SBB Cargo: «Safety first» heisst auch mehr Personal
Angesichts allzu häufiger Rangierunfälle strengt SBB Cargo bei der Sicherheit endlich einen Kulturwandel an: Die strikte Einhaltung aller Vorschriften erhält explizit Vorrang vor der Zugpünktlichkeit. Der SEV begrüsst das klare Bekenntnis zu «Safety first», auch als Reaktion auf diverse Interventionen seinerseits. Er fordert aber auch, dass SBB Cargo genügend Ressourcen erhalten und einsetzen muss, insbesondere mehr Personal, um die Arbeitsbedingungen für das Personal fair einzuhalten und zu verbessern, wie auch die Qualität für die Kundschaft.
Der im Juni publizierte Sicherheitsbericht 2023 des Bundesamts für Verkehr (BAV) zum öffentlichen Verkehr und dem Schienengüterverkehr zeigt, dass die Zahl der Unfälle beim Rangieren in den letzten drei Jahren schweizweit eher zu- als abgenommen hat:
2019: 11 Unfälle, 3 Schwerverletzte, 1 Toter;
2020: 10 Unfälle, 3 Schwerverletzte, 0 Tote;
2021: 23 Unfälle, 9 Schwerverletzte, 2 Tote;
2022: 17 Unfälle, 7 Schwerverletzte, 1 Toter;
2023: 25 Unfälle, 7 Schwerverletzte, 1 Toter.
Als grösste Schweizer Güterbahn ist SBB Cargo besonders betroffen und steht entsprechend unter Druck, die Sicherheit zu verbessern. Nach dem tödlichen Rangierunfall in Bern vom Dezember hat die Leitung Produktion Cargo Anfang Jahr verschiedene Massnahmen ergriffen und «Safety first» explizit zum obersten Gebot erklärt. Interview mit Gewerkschaftssekretär Philipp Hadorn, der beim SEV für SBB Cargo zuständig ist.
SEV-Zeitung: Die Leitung Produktion Cargo hat die Mitarbeitenden Mitte Januar zur strikten Einhaltung von insbesondere vier Sicherheitsregeln aufgefordert und sie gewarnt, dass deren Nichteinhaltung arbeitsrechtliche Konsequenzen haben kann. Was sagst du zu dieser Drohung?
Philipp Hadorn: Endlich gibt die Leitung von SBB Cargo der Sicherheit der Mitarbeitenden die höchste Priorität, aber ihre Kommunikation und die Gewichtung sind stossend, das hat verständlicherweise negative Emotionen ausgelöst. Mit der Androhung von Sanktionen einen Kulturwandel anstossen zu wollen ist dilettantisch und kontraproduktiv. Zudem gilt es nun rasch die Sicherheitsregeln zu klären, indem technische Fragen zur Zweckmässigkeit und Umsetzbarkeit geprüft werden. Noch heute funktionieren zahlreiche technische Hilfsmittel nicht fehlerfrei. Da ist die Unternehmung in argem Verzug. Mit der klaren Aufforderung «Safety first», auch wenn ein Zug dann nicht oder erst verspätet fahren kann, gibt die Leitung dem Schutz der Mitarbeitenden die nötige Priorität und leitet eine neue Sicherheitskultur ein.
Inwiefern?
Bisher waren es die Mitarbeitenden von SBB Cargo gewohnt, ihr Möglichstes zu tun, damit die Züge pünktlich fahren. Die teilweise mangelhaften technischen Hilfsmittel potenzieren nun das Risiko. Bei Zeitnot gewisse Sicherheitsvorschriften nicht ganz stur einzuhalten, wenn nach gesundem Menschenverstand und aufgrund langer Erfahrung klar scheint, dass trotzdem kein Unglück passiert, muss nun passé sein. Bisher erwarteten Vorgesetzte von den Mitarbeitenden letztlich «Business first». Damit nahmen Mitarbeitende aber auch das Risiko auf sich, bei einem Unglück oder einer Kontrolle persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Dennoch galt es teilweise fast ein bisschen als lächerlich, alle Sicherheitsregeln stets stur einzuhalten. Genau dies fordert nun die Leitung Produktion in verschiedenen Verlautbarungen unter Androhung von Sanktionen und nimmt Zugverspätungen in Kauf. Das ist ein Kulturwandel.
Wie steht der SEV dazu?
Wir stehen voll hinter dem Prinzip «Safety first» und ermutigen alle Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheitsregeln wirklich strikte einzuhalten. Das dürfen und sollen auch alle Vorgesetzten ihren Mitarbeitenden ständig sagen. Wenn etwas unsicher ist, dann tu es nicht, denn sonst hast du einen Fuss im Spital und den anderen im Gerichtssaal! Und habe den Mut, dem Kollegen zu sagen: Diesen Zug können wir leider nicht freigeben. Zugleich muss die Unternehmung aber auch für Rahmenbedingungen sorgen, die beides ermöglichen: strikte Einhaltung der Sicherheitsvorschriften und trotzdem einen pünktlichen, zuverlässigen Betrieb. Und unter keinen Umständen darf in der Fläche die Mentalität sein: «Business first!». Das Ziel muss die Leistungserbringung unter Einhaltung des optimalen Schutzes der Mitarbeitenden sein. Die Sanktionierung von Mitarbeitenden an den Anfang zu stellen ist unpassend und kaum hilfreich, um möglicherweise eingespielte Gewohnheiten durch das Prinzip «Safety first» zu ersetzen.
Braucht es für einen sicheren Betrieb auch genügend Personal?
Auf jeden Fall. Heute hat SBB Cargo vielerorts nur auf dem Papier genug Mitarbeitende, aber faktisch Unterbestände wegen vieler Absenzen und anderer Gründe. Das führt dazu, dass der Druck für jene, die noch arbeiten, zu hoch ist, sodass auch sie krank werden und ausfallen oder abspringen. Faktisch wurden bisher nicht genug Leute rekrutiert. Die Situation im Rangierbahnhof Limmattal ist besonders dramatisch. Natürlich ist die Rekrutierung auch nicht so einfach beim aktuellen Fachkräftemangel und wenn man im Vergleich zu anderen Arbeitgebern relativ tiefe Löhne zahlt trotz unbeliebter Nacht- und Wochenendarbeit, dazu körperlich anspruchsvoller Arbeit – draussen bei jedem Wetter. Also müssen die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen attraktiver werden.
Kann sich SBB Cargo mehr Personal und höhere Löhne denn überhaupt leisten?
Auf Kosten der Sicherheit und der Gesundheit des Personals darf nicht mehr gespart werden, also braucht es mehr Personal. Zwar soll die digitale automatische Kupplung mehr Effizienz bringen, aber heute fehlt Personal. Es geht nicht an, dass SBB Cargo unpünktliche Züge und Kundenfrust in Kauf nimmt und damit eine Güterverlagerung auf die Strasse provoziert. Folglich sind die nötigen Ressourcen vorzusehen. Natürlich muss man effizient produzieren, aber das Netz des Einzelwagenladungsverkehrs darf nicht weiter abgebaut werden, sonst wird das Gesamtsystem mittelfristig unwirtschaftlicher und unattraktiver. Preiserhöhungen sind nur beschränkt möglich, weil Kunden sonst auf Strassentransport umstellen. Also sind Leistungsabgeltungen durch die öffentliche Hand unum-gänglich, so wie sie der Bundesrat dem Parlament beantragt hat, wenn auch nur befristet auf acht Jahre. Immerhin wurde erkannt, dass sich ein flächendeckender Schienengüterverkehr nicht eigenwirtschaftlich betreiben lässt, auch wenn der Bundesrat das Unmögliche später doch noch erreichen will. Güterverkehr auf der Schiene darf und muss etwas kosten, einerseits für den Auftraggeber, andererseits aber auch dem Staat, weil er dem Gemeinwohl dient – als Service public für die verladende Wirtschaft, zur Entlastung der Strassen und zur Senkung der Immissionen für Bevölkerung und Umwelt.
Markus Fischer