Migrationstagung 2024
Kampf gegen prekäre Arbeitsbedingungen
Am 27. September fand in Olten die Migrationstagung 2024 des SEV statt. Sie stand unter dem Motto «Für politische & soziale Partizipation und Chancengleichheit im Beruf». Den Schwerpunkt bildete das Referat des Sozialwissenschafters Alessandro Pelizzari über prekäre Arbeitsverhältnisse. Er zeigte die Bedeutung von Arbeitsmarktregulierung und gewerkschaftlichen Gegenstrategien auf. Die Veranstaltung, die erstmals von Migrationssekretärin Besa Mahmuti organisiert wurde, war gut besucht und bot Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch.
SEV-Präsident Matthias Hartwich eröffnet die Tagung und dankt zunächst den Mitgliedern für ihr grosses Engagement. Er ist überzeugt: «Das Herz des SEV sind die 37 000 Frauen und Männer, die den Service public am Laufen halten und sich in ihrer Freizeit in der Gewerkschaft engagieren – egal ob mit oder ohne Schweizer Pass.» Zum ersten Mal führt Besa Mahmuti, die neue SEV-Gewerkschaftssekretärin für Migration, durch die Tagung. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Migrationsthematik, was in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall ist: Wegen Krankheit des Referenten fällt der erste Programmpunkt, die Demokratie-Initiative, kurzfristig aus. Besa Mahmuti ersetzt ihn mit einem Workshop zu Rassismus am Arbeitsplatz.
Rassismus am Arbeitsplatz
Der Einstieg gelingt: Die aus allen Landes- und Sprachregionen angereisten SEV-Mitglieder – die meisten mit Migrationshintergrund – lernen sich so im Gespräch in Kleingruppen besser kennen. Dieser erste Erfahrungsaustausch fördert aber auch Alarmierendes zutage. Ein Teilnehmer erzählt, dass in seinem Unternehmen immer noch Bewerbungen anhand von Namen und Fotos aussortiert werden. Eine Kollegin berichtet von ständigem unterschwelligem Rassismus. Eine andere Person kennt dies auch und sagt: «Betriebliche Probleme werden weniger ernst genommen, wenn sie von einer Person mit Migrationshintergrund gemeldet werden.» Die Diskussion wird während der Mittagspause angeregt weitergeführt.
Wohlstand versus Prekariat
Den zweiten Teil der Tagung bestreitet Alessandro Pelizzari. Der Sozialwissenschafter und Direktor der Hochschule für Soziale Arbeit in Lausanne forscht zu prekären Arbeitsverhältnissen. Die Schweiz gilt den einen als Land von guter Lebensqualität und Wohlstand, während andere hinter dieser Fassade unter prekären Arbeitsverhältnissen leiden. Pelizzari zufolge war das Prekariat durchaus politisch gewollt: Migrantinnen und Migranten trugen jahrelang zu Wohlstand und Wirtschaftswachstum bei – und tun es immer noch –, aber ohne die gleichen Arbeitsbedingungen und Rechte zu haben wie ihre Schweizer Arbeitskolleg:innen.
Am Beispiel des Saisonnierstatuts zeigt Pelizzari auf, dass nicht nur Politik und Wirtschaft in der Verantwortung stehen, sondern auch die Gewerkschaften. Gegen das Saisonnierstatut hatte sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund reichlich spät positioniert, nämlich erst in den 1980er-Jahren. Abgeschafft wurde die diskriminierende Regelung im Jahr 2000. Zuvor wurden durch diese Regelung ausländische Arbeitnehmende prekarisiert – sie verdienten im Schnitt 15 % weniger als ihre Schweizer Arbeitskolleginnen und -kollegen – und durch den nicht gestatteten Familiennachzug sozial isoliert.
Handlungsbedarf bei Temporärarbeit
Trotz dieser Verbesserung besteht Handlungsbedarf, gerade im weitgehend unregulierten Bereich der Temporärarbeit und der Kettenarbeitsverträge, wo überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten. Ihre Zahl hat sich seit dem Jahr 1995 sogar verfünffacht. Sie verdienen in der Regel weniger als ihre Schweizer Kolleginnen und Kollegen, haben ein erhöhtes Unfallrisiko und einen geringeren Zugang zu sozialen Leistungen.
Strategien gegen Prekarisierung
Alessandro Pelizzari stellt abschliessend die aus seiner Sicht notwendigen gewerkschaftlichen Gegenstrategien gegen die Auswirkungen der Prekarisierung vor. Zum einen empfiehlt er niederschwellige Organisationsangebote: Gewerkschaften bieten Hilfe bei individuellen Arbeitskonflikten und organisieren sich gezielt in neuen Beschäftigtengruppen. Dabei spielt sprachliche und geografische Flexibilität eine zentrale Rolle. Zum anderen sind auch kollektive Arbeitskämpfe notwendig: In Grenzregionen wie in Genf und im Tessin haben gemeinsame Kämpfe von Grenzgänger:innen und wohnhaften Beschäftigten gezeigt, dass Solidarität über vermeintliche Konkurrenz hinweg mobilisiert werden kann.
Pellizari schliesst mit dem Fazit, dass die Geschichte der prekären Arbeitsverhältnisse und der Arbeitsmarktregulierung in der Schweiz eng mit der Migrationspolitik verknüpft ist, sich die Situation vieler Migrant:innen durch politische Massnahmen wie das Freizügigkeitsabkommen zwar verbessert hat, aber noch massive Herausforderungen bestehen. Nun gilt es, in einer zunehmend globalisierten und flexibilisierten Arbeitswelt kämpferische Strategien zu entwickeln, um die Rechte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in Zukunft zu sichern. Diese Notwendigkeit sieht auch der SEV: «Wir kämpfen für die Rechte aller unserer Mitglieder, unabhängig von ihrer Herkunft, Haut- oder Augenfarbe», sagt Matthias Hartwich.
Eva Schmid